T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

»Seltsame Gestalten« von Jean Richepin, um 1890
von Mirko Schädel



Jean Richepin: Seltsame Gestalten. Moderne Sittenbilder, Berlin: W. Herlet um 1890, 128 Seiten [Les morts bizarres, 1876];
Inhalt: Das Meisterwerk des Verbrechens, Erpressung, Ein Stückchen Leben, Der Mann mit den seltsamen Augen, Der Hampelmann, Coeur-Ass, Ein Opfer der Wissenschaft, Nur ein Schatten, Bibiana, Das Kind



»Das Meisterwerk des Verbrechens« ist die Geschichte des völlig unbedeutenden, talentfreien Schriftstellers Oscar Lapissotte, eine Null, der unter zahlreichen Pseudonymen das Lesepublikum langweilt. Lapissotte führt das Leben eines Bohemiens und glaubt ein verkanntes Genie zu sein, doch
läßt der Durchbruch naturgemäß auf sich warten.
Zufällig lernt dieser mittelmäßige Egozentriker eine alternde Magd kennen, der er einige Zeit später
in einem Hospital erneut begegnet, wo Lapissotte einen befreundeten Assistenzarzt besucht hatte und auf dem Weg hinaus durch den Flur auf die Patientin aufmerksam wird, die ihn erkennt und zu sich bittet. Diese Magd, die bei einer alten Dame den Haushalt führt, ist ernstlich erkrankt und legt vor Lapissotte ein merkwürdiges Geständnis ab.

Die Magd, die in einen Kutscher verliebt war, hatte sich von letzterem zu diversen Diebstählen im Haushalt der alten Dame hinreißen lassen. Diese Taten sind in einem Haufen von Liebesbriefen dokumentiert, die der Kutscher der Magd seinerzeit geschrieben hatte. Da die Magd bedürchtet im Hospital möglicherweise sterben zu müssen, und weil sie Vertrauen zu Lapissotte gefaßt hat, bittet sie diesen um einen Dienst. Der Kutscher drohte der Magd mit diesem Briefwechsel um sie mit den darin beschriebenen Delikten zu erpressen, aber er war nicht im Besitz dieser Briefe, wußte aber wo seine ehemalige Geliebte diese aufbewahrt. Um zu verhindern, daß der Kutscher in den Besitz dieser Briefe gelangt, bat die Magd ihre Herrin diese Briefe als vermeintliche Familienpapiere privaten Inhalts in ihrem Sekretär einzuschließen. Die alte, reiche Dame schläft schlecht, doch nehme sie gegen 22 Uhr ein Schlafmittel, das zuverlässig sei, und so bittet die Magd ihn, bevor sie sterbe, ihr die Briefe zu besorgen, denn sie fürchte sich davor, daß ihre Herrin die Briefe nach ihrem Tod finden, und sie post mortem verfluchen könnte. Auf die Frage Lapissottes wie er sich denn Zugang zu dem Haus verschaffen und vor allem den Sekretär öffnen könne, reicht ihm die Magd zwei Schlüssel, der eine für den Dienstboteneingang des Hauses, der andere für den Sekretär, den sich die Magd zwecks krimineller Absichten hat nachmachen lassen.

In diesem Augenblick sieht Lapissotte seine Chance auf ein Meisterwerk gekommen. Er greift sich das Kopfkissen der Magd und nimmt sich ordentlich Zeit sie fachgerecht zu ersticken. Dann eilt er zum Haus der alten Dame, betritt das Haus durch den Dienstboteneingang, sucht und findet die Kammer des Kutschers, wo er sich einen Fetzen der Krawatte jenes Kutschers besorgt, dann sucht er das Schlafzimmer der alten Dame auf, wo er diese kaltblütig erdrosselt und der Leiche den Krawattenfetzen in die totenstarre Hand legt. Danach fndet er jenen Sekretär, öffnet diesen und findet Aktien, Gold und Bargeld, ein kleines Vermögen, das er einsteckt. Auch die fraglichen Briefe finden sich dort, von denen er einige verbrennt, andere aufschlußreiche aber liegen läßt. Anschließend verläßt er das Haus und geht träumend und seelenruhig nach Hause.

Lapissotte ist sich klar, daß er das perfekte Verbrechen begangen hat, ein wirkliches Meisterwerk. Der Kutscher wird von der Polizei überführt und hingerichtet. Doch Lapissottes Ehrgeiz ruht nicht, eines Tages beschließt er sein Meisterwerk zu verschriftlichen und daraus eine Novelle zu machen, die auch bei einer großen Zeitung angenommen wird. Seine Novelle macht ihn bekannt, vor allem seine Phantasie wird gelobt. Doch drängt es Lapissotte zu höherer Anerkennung, und überall in der Öffentlichkeit behauptet er nun, daß seine Geschichte keineswegs der Phantasie entstammt, sondern daß er selbst sie erlebt habe. Er selbst habe diese Morde begangen, aber niemand glaubt ihm und jeder hält dies für einen Scherz. Doch Lapissotte beharrt darauf, bis er sich darauf versteigt jenen Polizeibeamten aufzusuchen, der damals den Kutschers überführt hatte. Doch auch jener glaubt ihm nicht und hält dessen Ausführungen für einen schlechten Scherz, und, Lapissotte in seiner Eitelkeit verletzt, stürzt sich in böser Absicht auf den Beamten, doch Kollegen kommen letzterem zu Hilfe.

Lapissotte wird in die Irrenanstalt verbracht, nach einiger Zeit aber wieder entlassen, da er tatsächlich verrückt geworden ist und nun fortan glaubt, er habe das alles nur geträumt, er habe keinen Mord begangen.


Diese an Edgar Allan Poe geschulten Kurzgeschichten sind im Deutschen wohl völlig unbekannt geblieben, obwohl es in irgendeiner obskuren Unterhaltungsreihe des Berliner Herlet-Verlags um 1890 eine freie Übersetzung gegeben hat. Das Buch ist in keiner bekannten Bibliothek vorrätig. Ich vermute, es handelte sich um eine Broschurenreihe typischer Unterhaltungsliteratur der Zeit vor der Jahrhundertwende – von denen kaum etwas erhalten geblieben ist.

Die Anspielungen Richepins auf Poe sind vielfältig, gelegentlich wird der Meister auch erwähnt, wie in zwei dieser Novellen. In Ein Opfer der Wissenschaft wird uns von einer Zufallsbekanntschaft während der Pariser Kommune berichtet, die in einer Gastwirtschaft ihren Ausgang nimmt. Der Erzähler wird auf einen Stammgast aufmerksam, der jeden Abend gegen 19 Uhr das Lokal durch die Küche betritt, jeden Abend das gleiche speist, nämlich Linsensuppe, Eierkuchen, Erbsen und genauso regelmäßig um 20 Uhr das Lokal durch die Küche verläßt. Es heißt, jener dürre, klapprige Mensch sei ein Student, aber als unser Erzähler um nähere Auskünfte den Wirt zu Rate zieht, erweist es sich, daß der Student ein Medizinstudent sei, der arme Patienten gratis behandelt. Auch heißt es, er lebe im selben Haus und kenne nur Arbeit und Studium, erlebe in einem der oberen Stockwerke, Bummelei und Feiern läge ihm allerdings fern. Darüberhinaus betätige sich der Student als Dichter, er schreibe Verse und »…Wenn Sie sein Zimmer sehen möchten, ein wahres Laboratorium! Schmöker, Knochen, Papier und Skelette. Er schreibt den ganzen Tag, ja, er macht sogar Verse…«

Der Wirt berichtet unserem Erzähler, daß seine Frau das Zimmer des Studenten aufwartet und auch ein paar handgeschriebene Verse von diesem aufgehoben hat. Auf das Anerbieten des Wirts diese zu holen und zu zeigen, verwahrt sich unser Erzähler, doch der Wirt ist bereits unterwegs und legt ihm kurz darauf die versprochene Handschrift unter die Nase. Nach Durchsicht der lyrischen Ergüsse ist dieser ganz angetan von dem Gedicht. Ein paar Tage später lernen sich der Erzähler und der Medizinstudent kennen. Man unterhält sich über Literatur und Philosophie, nur das Thema Medizin scheint der Student nicht anschneiden zu wollen. Auf den Hinweis des Erzählers, daß dessen Vater selbst Arzt sei, läßt sich der Student hinreißen und entgegnet, daß er nur unter seinesgleichen von Medizin zu sprechen pflegt. Doch die Neugierde des Erzählers wächst und es dauert auch nicht lange, bis er den Studenten von seiner vertrauensvollen Verschwiegenheit überzeugen kann.

Darauf berichtet unser Medizinstudent, daß er sich nichts lieber wünsche, als einen lebenden Menschen zu sezieren … dies natürlich nur aus wissenschaftlichem Interesse und zum Wohle der Menschheit. Doch bittet er den Erzähler nachdrücklich, niemandem davon ein Sterbenswörtchen zu sagen. Jedoch kühlt sich die Beziehung zwischen unseren Stammgästen wieder ab, ein paar Tage später sitzen sie wieder getrennt an ihren Tischen und hängen ihren Gedanken nach, während draußen eine bedrohliche Geräuschkulisse zu vernehmen ist, die die Unruhen auf den Pariser Straßen illustriert.

Weitere Tage später, als sich die Unruhen zuspitzen, sitzt unser Erzähler wieder in dem Gasthaus und speist, dann hören die Gäste einen lauten Knall von der Küche her. Die Küche ist mit einer Glasmarquise an der Straße ausgestattet, die zerbrochen ist. Der Körper des Studenten ist offenbar von oben herab durch die Marquise gestürzt und liegt blutend auf der Straße. Als unser Erzähler und der Wirt den Körper herumdrehen, herrscht maßloses Entsetzen, denn offenbar hat sich der Student selbst die Bauchdecke seziert, ein Fleischlappen, fachmännisch abgetrennt, liegt wie ein Lappen lose vor dem Bauch, darunter die anatomischen Spitzfindigkeiten unseren fleißigen Studenten. Mit letzter Kraft berichtet dieser nun, er habe sich aus wissenschaftlichem Interesse selbst sezieren wollen, erst wie im Wahn, dann aber doch die Schmerzen spürend, die so unerträglich gewesen seien, daß er sich aus dem Fenster stürzte. Darauf stirbt unser enthusiastischer Medizinstudent.

Die skizzenartigen Novellen sind gelungen, und daß was sie an sprachlicher Prägnanz vermissen lassen, können sie mit Überraschungsmomenten, sehr viel Blut und drastischer Brutalität wettmachen. Die Drastik der Ereignisse ist tatsächlich dick aufgetragen, aber hinter dieser Fassade steckt viel Ironie und eine brillante Beobachtungsgabe. Jean Richepin, 1849–1926, war ein eigenwilliger Schriftsteller, Dramatiker und Lyriker, der zeitweise im Umkreis Paul Verlaines und Arthur Rimbauds wirkte. Seine Arbeit zeichnet sich durch Brutalität, Zotigkeit, Morbidität und Drastik aus, doch damit allein wird man dem Autor nicht gerecht. Seine Bewunderung für Edgar Allan Poe ist in diesem Band allgegenwärtig und unter den vielen Schülern Poes ist Richepin sicher nicht einer der schlechtesten. Er teilt mit Poe auch die Mystifikation der eigenen Biographie, denn auch Richepin scheint einige Zeit abgetaucht zu sein – und gab über diese Zeit phantastisch anmutende Berichte, die viel Raum für Spekulation lassen.