T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Franz Enevold Brandt: »Wie die Leopoldstadt zu ihrem Namen kam. Historischer Roman«, 1873
von Mirko Schädel

Franz Enevold Brandt: Wie die Leopoldstadt zu ihrem Namen kam. Historischer Roman, Wien: Im Selbstverlag des Verfassers [Kleine Freie Presse] 1873, 94 Seiten


Franz Enevold Brandt, um 1844–?, war der Wiener Herausgeber des Wochenblattes »Kleine Freie Presse«. Brandt wurde 1878 zu dreiwöchigem scharfen Arrest mit wöchentlich je einem Fastentag wegen Betrugs verurteilt. Liest man den damaligen Zeitungsbericht von Brandts Gerichtsverhandlung, geht daraus hervor, daß er ein äußerst dubioser Zeitgenosse gewesen sein muß. Der bekannte Klavier-Fabrikant Bösendorfer in Wien wurde mit unentgeltlichen Annoncen seiner Produkte beehrt, die selbstredend in dem Wochenblatt »Kleine Freie Presse« erschienen – woraufhin der Herausgeber Brandt an Bösendorfer herantrat und um eine dementsprechende Bezahlung in Naturalien bat, nämlich einem geschenkten Klavier. Bösendorfer fand dieses Vorgehen zurecht unmöglich, ließ sich aber von Brandt derart die Nerven strapazieren, daß er diesem am Ende das Angebot unterbreitete, Brandt kostenlos, jedoch lediglich leihweise ein Instrument zur Verfügung zu stellen, das der Besitzer Bösendorfer jederzeit abholen lassen könne. Als Bösendorfer nach einiger Zeit tatsächlich um die Rückgabe seines Eigentums bat, erklärte Brandt, das Klavier sei ein Geschenk gewesen usw. Weitere dubiose Verbrechen wurden Brandt zur Last gelegt, so daß man davon ausgehen muß, daß Brandt eine betrügerische, selbstbewußte Kanaille und Nervensäge gewesen sein muß.

Wie die Leopoldstadt zu ihrem Namen kam. Historischer Roman, 1873, ist ein kulturgeschichtlich interessanter und spannender Kriminalroman, der Ende der 1660er Jahre in Wien spielt. Brandt enthält sich einer historisierenden Sprache, so daß der Roman auch in der Gegenwart hätte spielen können. Auch verzichtet Brandt auf die typischen Ingredienzien der Kolportage, sondern entwickelt vor den Augen des Lesers eine zwar volkstümliche, drastische, aber durchaus kulturhistorisch ungewöhnliche Mordgeschichte.

In der Judenstadt finden zwei Kutscher, die ihre Pferde an einem Tümpel tränken wollen, einen Leinensack am Grund des Gewässers. Als der Sack, der mit einem Stein beschwert ist, geborgen wird, enthüllt sich ein dunkles Geheimnis – nämlich der Leichnam einer jungen Frau, vielmehr die zerstückelte Leiche, denn die einzelnen Körperteile sind fachgerecht vom Rumpf der Leiche abgetrennt worden.

Ein jüdischer Beobachter der Szene, nebenbei bemerkt ein patriotischer Würdenträger und Mitglied der Intelligenzia, kommentiert das Verbrechen bereits zukunftsweisend, denn er läßt durchblicken, daß dieser Mord für die Juden der Umgebung durchaus künftig ein großes Unglück bedeuten könnte, denn die antisemitischen Tendenzen breiter Bevölkerungsschichten verhindern die Differenzierung solcher Taten und erhalten stattdessen sogar neue Nahrung.

Brandt läßt noch die Rumorwache, eine Art frühe Polizei Wiens, auftreten, die den Leichnam auf einem Radkarren fortschafft, um darauf folgend die Geschichte eines liderlichen Schuhmachers zu erzählen, der sich zunehmend dem Suff ergibt und seine Frau und sein Kind darben läßt. Dieser ehemalige Schuhmacher und nun bereits zum Schuhflicker herabgekommene Trinker hat eine sinnliche, wollüstige Seite – und als er eines Tages ein junges, hübsches Weib in seiner Stammkneipe sieht, verliebt er sich in diese. Die Rumor-Lene, denn so wird das Weib genannt, läßt sich mit dem Andörfer, jenem Schuhflicker, ein. Die beiden verabreden in der folgenden Nacht ein Rendesvouz. Doch die Lene beginnt ihren Galan zu bearbeiten, denn sie will nicht die Geliebte eines verheirateten Mannes sein. Sie verweigert sich ihrem Anbeter und manipuliert ihn stetig aber zielgerichtet zu einer alles entscheidenden Tat. Während dieser Phase ihrer Manipulationen besucht sie einen Verwandten, nämlich den Mendel Goldscheid, der einen schwunghaften Handel mit gestohlenen Schmuckstücken in der Judenstadt betreibt. Sie kennt die kriminellen Aktivitäten ihres kurzzeitigen Ziehvaters und erpreßt diesen um 100 Gulden. Mendel bezahlt die Megäre und läßt sie ziehen, wenngleich Lene ankündigt noch weitere 100 Gulden erpressen zu wollen, dann nämlich, wenn Sie ihr Ziel erreicht und den Andörfer geheiratet habe.

Andörfer sinkt der Mut, denn er begreift, daß seine Angebetete nichts weniger von ihm verlangt, als daß er sich seiner Gattin durch eine Gewalttat entledigt. Doch seinem nachvollziehbaren Zögern begegnet Lene mit Härte und Verweigerung, sie erklärt ihrem Liebhaber, daß dieser dann künftig auf sie verzichten müsse. Andörfer, verblendet in einer Art erotischen Irrsinns, beschließt in den sauren Apfel zu beißen.

Tatsächlich bittet er sein Weib mit einem Erbstück, einer silbernen Uhr, zu einem Pfandleiher der Judenstadt zu gehen um Geld zu beschaffen, damit am nächsten Tag, dem Geburtstag seiner Gattin, die Familie nicht darben muß. Andörfers Frau ist gerührt, sie freut sich an dieser ungewohnten Empathie und glaubt, ihr Mann habe zu seiner alten Liebe zurückgefunden.

Tatsächlich aber erwartet die Lene ihre Konkurrentin bereits in der Judenstadt und zeigt ihr den Weg zu einem Pfandleiher, dem Mendel, der ahnungslos glaubt, man wolle ihm eine silberne Uhr verhökern – und das es sich dabei um Diebesgut handelt.

Auch Andörfer befindet sich bereits vor Ort, er sitzt in einer dunklen Ecke des schmierigen Kontors, doch als Andörfers Gattin die silberne Uhr präsentiert, holt Lene einen Dolch aus ihrem Gewand und sticht ihrer Widersacherin in den Leib. Auch Andörfer, angestachelt durch die brutale Tat seiner Geliebten, tritt in das Licht und läßt ein Messer blitzen und sticht auf seine Gattin ein, die im Augenblick ihres Todes noch ihren Gatten Andörfer erkennen muß.

Mendel ist außer sich, denn dieser bestialische Mord lag keineswegs in seiner Absicht und er muß erkennen, daß man ihn mit dieser Mordtat betrogen hat und ihn unfreiwillig zum Mitwisser gemacht hat. Lene schafft den Körper mit Andörfers Hilfe in die Küche, wo sie gekonnt die Leiche zerstückelt und Mendel um einen Sack bittet.

Währenddessen eilt Andörfer in sein Stadtviertel und spielt den ahnungslosen und um seine Gattin besorgten Ehemann. In seiner Stammkneipe läßt er durchblicken, daß seine Frau gegen Mittag weggegangen sei und nicht gesagt habe, wohin sie sich wenden wolle. Währenddessen lassen Lene und Mendel die Leiche verschwinden.

Nun beginnt ein wochenlanges Schauspiel, das Lene und Andörfer ersonnen haben und deren beider Unschuld und Unwissenheit unterstreichen soll.

Doch dann wird wider Erwarten der zerstückelte Leichnam gefunden, und als ein Beamter der Polizei auf die Idee kommt den abgetrennten Kopf der unbekannten Leiche der Öffentlichkeit zu präsentieren um deren Identität zu klären, kommt es zu einem folgenreichen Zwischenfall. Lene, die Andörfers Kind in Obhut nimmt, und mit dem Kinde auf dem Arm durch die Stadt zu Mendel eilt, kommt zufällig an dem ausgestellten Kopf der Ermordeten vorbei. Sie erkennt ihr Opfer, doch schlimmer noch, das Kind auf ihrem Arm erkennt die spurlos verschwundene Mutter – doch auch einige der Passanten bekommen die Reaktion des Kindes zu hören und im nächsten Augenblick wird Lene verhaftet und zur Polizei geschafft, wo man sie verhört.

Schon nach kurzer Zeit wird auch Andörfer verhaftet und verhört, doch die beiden Verdächtigen schweigen – selbst die Anwendung der Folter führt zu keinerlei Erfolg. Doch dann taucht ein Zeuge auf und behauptet, daß der Leinensack von Mendel Goldscheid stamme, jener Sack nämlich, in dem die Leichenteile von Andörfers Gattin aufgefunden wurden. Auch Mendel wird nun verhaftet und wird schwach bei dem ersten Grad der Folter. Er gesteht, daß er unfreiwllig durch Lene und Andörfer in das Verbrechen hineingezogen worden sei.

Als Andörfer wieder befragt wird und nun mit dem Geständnis Mendels konfrontiert wird, leugnet er weiter standhaft sein Verbrechen. Als jedoch ein Polizeibeamter auf die Idee kommt, ihm den abgetrennten Kopf seiner Gattin zu präsentieren, bricht er angesichts des grauenvollen Anblicks völlig zusammen und gesteht den Mord in allen Einzelheiten. Kurz darauf gesteht auch Lene den Mord, den sie als Hauptverantwortliche verschuldet hat.

Alle drei Beteiligten werden zum Tode verurteilt und am Galgen öffentlich hingerichtet. Die Beteiligung des Juden Mendel an diesem Verbrechen reizt den Volkszorn und die antisemitischen Ressentiments. Kurz darauf wird ein weiteres Verbrechen in Wien, das zwei Juden begangen hatten, aufgeklärt – so daß der Haß gegen die Juden in der Bevölkerung immer spürbarer wird. Als dann einem Tischler am Kaiserhofe ein Unfall geschieht, und es zu einem Brand kommt, wird dies den Juden in die Schuhe geschoben, da es dem Tischler gelang sein Mißgeschick zu vertuschen. Danach kommt es zu pogromartigen Zuständen und der Kaiser unterzeichnet ein Decret, das den Juden bei Todesstrafe den Aufenthalt in Wien verbietet. Die Häuser der Judenstadt werden geplündert, die Juden mit Gewalt vertrieben und die Synagoge niedergerissen. An deren Stelle ließ man eine dem Markgrafen Leopold geweihte Kirche bauen, deren Grundstein im Jahre 1670 gelegt wurde. Und somit wurde die ehemalige Judenstadt Wiens in Leopoldstadt umbenannt.

Drei Jahre später schon erkannte man den Irrtum und die Ungerechtigkeit, die man an den Juden verübt hatte und ließ einen Teil der vertriebenen Juden nach Wien zurückkehren. Das Buch endet mit einem Plädoyer für Toleranz und einem Zitat von Friedrich des Großen: »Jeder soll nach seiner Fasson selig werden.«

Dieser kleine, der Aufklärung verpflichtete Kriminalroman, der den Antisemitismus anprangert in einer Zeit, als der deutsche und österreichische Judenhaß wieder aufkeimt, ist ein gelungener Affront gegen die Dummheit und die Vorurteile des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Wie verschwurbelt auch der Charakter dieses Autors sein mag, man muß Autor und Werk bis zu einem gewissen Grad trennen um selbst vorurteilsfrei zu urteilen – und sollte das literarische Werk immer in Beziehung zu seiner Entstehungszeit sehen. Auffallend an diesem Büchlein ist trotz seiner naiven und volkstümlichen Erzählweise das Fehlen von Elementen der Kolportageliteratur. Das deutet darauf hin, daß dem Autor das Problem des Antisemitismus ein wirkliches Anliegen war und er vordergründig nicht so sehr an spannungsgeladener Effekthascherei interessiert war. Doch gerade dies macht den Roman heute, nicht zuletzt aus kulturhistorischen Gründen, interessant und spannend. Auch die Dramaturgie der Erzählung und die eigentümliche Atmosphäre des Romans sind gelungen.

Nur fünf Jahre später wird der Autor Brandt verurteilt wegen einiger betrügerischer Dreistigkeiten, was aus ihm nach dieser Verurteilung geworden ist, bleibt unklar.