T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Marcel Jacobs »Flucht durch Europa« um 1936
von Mirko Schädel



Marcel Jacob: Flucht durch Europa, Colmar: »Alsatia« um 1937, 184 Seiten



Marcel Jacob, der auch unter dem Pseudonym Marc Cobelja einen Kriminalroman mit dem Titel »Die Entführung von Prosper Savary« verfaßt hatte, legte mit »Flucht durch Europa. Eine abenteuerliche Geschichte aus komplizierter Zeit« eine wilde Scharade voller eskapistischer Motive vor.

Der Roman beginnt in Berlin kurz nach der Machtergreifung Hitlers. Fritz-John Papin, ein junger Arbeitsloser in Berlin, der früh seine Eltern verloren hat und für wenig Geld bei einer Frau und deren Tochter Lily im Wedding zur Untermiete lebt, hält sich mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Die einzigen freundschaftlichen Bande pflegt Fritz zu seiner Vermieterin und ihrer Tochter Lily. Darüberhinaus ist er ein unpolitischer, unwissender, man möchte sagen unschuldiger Charakter.

Marcel Jacob führt uns zu den Naziaufmärschen, die einen bedrohlichen Anstrich haben und berichtet von der massensuggestiven Kraft dieser inszenierten Machtdemonstrationen. Zuhause im Wedding herrschen noch andere Verhältnisse, und es gibt einige, die sich mit den neuen Machtverhältnissen nicht abfinden wollen. Umso tiefer man in die Hinterhöfe des Wedding eindringt, desto wahrscheinlicher trifft man auf alte KPD-Kader und Leute, die dem deutschen Deppentum kritisch gegenüberstehen.

Ein Onkel Lilys hat einen Stapel verbotener Flugblätter in deren Wohnung deponiert und als Fritz nach Hause kommt, hören sie, daß eine Razzia im Gange ist. Schon lassen sich die Rufe und Tritte der Polizei hören, da beschließt Fritz die Flugblätter aus der Wohnung zu schaffen, er springt mit den Papieren durch ein Fenster auf die Straße, schlägt unten im Affekt um sich und schlägt dabei einen S.A.-Mann nieder, dann türmt er durch die Zugänge der Hinterhöfe, seine Verfolger sind ihm dabei dicht auf den Fersen. Eine große, schwarze Limousine hält draußen, die Tür geöffnet und ein Asiate winkt dem Flüchtenden zu.

Fritz, der keinen Ausweg sieht, springt ins Auto, und der Fahrer beschleunigt und läßt alle Verfolger hinter sich. Der Chauffeur spricht kein Wort und bringt Fritz in einen Villengegend, wo eine Japanerin auf ihn wartet, die ihm Geld, falsche Papiere und Instruktionen gibt das Land zu verlassen. Fritz, vollkommen überrumpelt und unfähig die Angelegenheit zu begreifen oder zu hinterfragen, wurde mit eleganten Kleider ausgestattet, und sitzt bereits wieder in der Limousine auf dem Weg zum Bahnhof, wo er einen Zug aus Wien erreichen und dort einem Mann Papiere überbringen soll, der in den Karl-Marx-Höfen wohnt.

Parallel dazu wird uns über die Bekanntschaft von vier Auslands-Korrespondenten berichtet, die kurz vor diesen Ereignissen in einer Berliner Konditorei zusammensitzen, nämlich der Franzose Toutdouze, der Engländer Haigthon, der Italiener Tomasatti und die Japanerin Atzuko, die in einem veritablen Konkurrenzverhältnis zueinander stehen.

Doch dann überstürzen sich die Ereignisse, mit der freiwilligen Abreise von Fritz verschwinden auch der Engländer Haigthon und die Japanerin Atzuko spurlos. Die Presse berichtet unterdessen, daß Fritz-John Papin aus dem Wedding flüchtete und dabei einen S.A.-Mann niederschlug, anschließend einen japanischen Kunsthändler ermordet haben soll und geheime Papiere aus dem Außenministerium gestohlen habe. Fritz wird also wegen Mord und Spionage gesucht.

Doch Haigthon ist ihm auf der Spur, und in Wien taucht Fritz ab, lebt von dem Geld, daß ihm die Japanerin gegeben hat, vergißt die Papiere, die er übergeben soll, und gibt sich wochenlang dem Flanieren hin in dem großartigen Wien – in dem Bewußtsein als Mörder gesucht zu werden, denn auch ihm sind die Berliner Presseberichte nicht entgangen, nur kann Fritz sich keinen Reim auf die Anschuldigungen machen – mit Ausnahme seiner Flucht aus dem Wedding und der Verletzung des S.A.-Manns.

Langsam geht sein Geld zur Neige, er geht auf Arbeitssuche, stellt aber schnell fest, daß es ebenso schwer ist in Wien, als auch in Berlin Arbeit zu finden. Bald beginnt der Hunger, kurz bevor er das Bewußtsein verliert, trifft er auf den Engländer Haigthon, der ihn in seine Wohnung schafft und mit Essen versorgt.

Haigthon, der die ganze Geschichte ebenfalls aus der Presse kennt und bislang glaubt, daß Fritz den Japaner ermordet und die Papiere an sich gebracht habe, läßt von seinem Glauben ab und stellt fest, daß Fritz offenbar vollkommen unschuldig ist und keineswegs irgendein Verbrechen begangen habe. Doch jener Mittelsmann in Wien, der die Papiere erhalten sollte, wird an der Affäre nicht so unschuldig sein, und Haigthon beschließt dieser Spur zu folgen. Fritz träumt lediglich von Lily und wann er sie endlich wiedersehen wird, er traut sich nicht ihr zu schreiben, doch Haigthon verspricht ihm, seiner Freundin eine Nachricht von ihm zukommen zu lassen.

Auch Toutdouze und Tomasatti wittern eine große Story für ihre Blätter und haben bereits Kontakt zu Lily, Fritzens Freundin, aufgenommen. Der Mittelsmann aus den Karl-Marx-Höfen soll bereits verhaftet und in die Tschechei ausgewiesen worden sein, doch angeblich sei dieser Mann schon wieder in Österreich eingereist und verbirgt sich irgendwo.

Tomasetti gelingt es nach kurzer Zeit das Vertrauen Lilys zu gewinnen, und mit Hilfe der vermeintlichen Nachricht von Fritz aus Wien den Wohnort des Mordverdächtigen herauszufinden, dann begibt er sich nach Wien. Doch Haigthon nimmt einen Brief von Lily an Fritz in Empfang und liest darin, daß Tomasetti nach Wien aufgebrochen sei. Haigthon packt sich seinen Schützling Fritz und die beiden fliehen nach Graz und von dort nach Innsbruck. Von dort gehen die beiden nach Neapel – und darin steckt auch die Qualität der ganzen Abenteuergeschichte, denn der Autor ist ein begnadeter Porträtist von Städten, er haucht den geographischen Gegebenheiten Leben ein.

Die Japanerin wird von Toutdouze in Paris aufgestöbert, und am Ende der ganzen, chaotischen Flucht durch Europa treffen die vier Journalisten und Fritz in Paris aufeinander. Es kommt zu verschiedenen Aussprachen, am Ende stellt sich heraus, daß Fritz und die vier Journalisten an dem Mord an jenem japanischen Kunsthändler unschuldig sind, nur Haigthon und Atzuko sind vermutlich neben ihrem Journalistendasein noch in geheimdienstliche Machenschaften involviert.

Auch Lily wird nach Paris gebracht, wo Fritz sie sehnsüchtig in Empfang nimmt und erkennt, daß sie nunmehr ein Paar sind und nicht mehr nach Berlin zurückkehren wollen. Fritz hat Neapel gesehen, und vermutlich will er mit Lily dort leben.

Das Konstrukt des Romans ist eine Mord- und Spionagegeschichte, doch darin liegt keineswegs seine Stärke. Vielmehr ist der Roman ein mal realistisches, mal wehmütiges Porträt Europas in einer wirklich komplizierten Zeit, das stimmungsvoll eine ungewisse europäische Zukunft skizziert.

Über den Autor habe ich keine Informationen finden können, Marcel Jacob ist vermutlich ein elsässischer Autor und Journalist gewesen, der auch nach 1945 noch Romane im Elsaß veröffentlicht hat. Die deutschsprachige Literatur aus dem Elsaß ist bis heute noch ein unbeachtetes Studienfeld.