T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

H[enry] S[eton] Merriman, das ist Hugh Stowell Scott: »Schloß Osterno«, 1916
von Mirko Schädel



H. S. Merriman, das ist Hugh Stowell Scott: Schloß Osterno, Stuttgart: Robert Lutz 1916, Lutz Kriminal- und Detektivromane Band 33, 316 Seiten


In manche Krimireihe hat sich gelegentlich ein Abenteuerroman hineingeschlichen, während viele vor allem in exotischen Ländern spielende Kriminalromane als Abenteuerromane deklariert wurden. Es steckt also nicht immer ein Abenteuerroman in einem Buch, nur weil es als Abenteuerroman untertitelt ist, und in nicht jedem ausgewiesenen Kriminalroman steckt ein Kriminal- oder Detektivroman.

In dem Roman Schloß Osterno verbirgt sich ebenfalls kein Kriminalroman, obwohl er doch in der Reihe Lutz Kriminal- und Detektivromane als Band 33 erschienen ist, denn es handelt sich hierbei um einen Intrigenroman reinsten Wassers, ein Genre, das eine Spielart des Kolportage- und Sensationsromans des 19. Jahrhunderts darstellt. Man kann dieses Genre aber durchaus auch als eine Untergattung und einen Vorläufer der mäandernden Entwicklung des Kriminalromans sehen, denn der Intrigenroman folgt ähnlichen Mustern und ist mit der Kriminalliteratur verwandt.

Schloß Osterno jedoch stellt ein Glanzstück dieses recht kurzlebigen Genres des Intrigenromans dar, denn hier läßt sich ein künstlerischer Höhepunkt der Gattung erkennen – Höhepunkt insofern, daß die Qualität dieses Romans nichts zu wünschen übrig läßt. Dieser virtuos erzählte Spannungs- und Intrigenroman glänzt mit geistreichen Dialogen, die der Leser auch zwischen den Zeilen zu lesen versteht. Der Roman offenbart ein Höchstmaß an Sorgfalt und Genauigkeit, der sprachliche Rahmen ist geschliffen und wenn der Autor dieses Buchs eitel wäre, dürfte er angesichts seiner Leistung allen Grund dazu haben.

Aber Henry Seton Merriman, das ist Hugh Stowell Scott, 1862–1903, soll ein bescheidener Brite gewesen sein, der leider früh verstarb und großen Wert darauf legte, die Schauplätze seiner Romane aus eigener Anschauung kennengelernt zu haben. Merriman reiste viel und gern und auch Rußland kannte er von einer seiner Reisen, was man diesem Roman durchaus anmerkt. Merrimans Figuren leuchten und atmen, dabei handelt es sich um mit wenigen Strichen treffend charakterisierte Gestalten, die allesamt Geheimnisse haben – was dieser Art Genre sehr zuträglich ist. Schloß Osterno war übrigens in Rußland verboten.

Die Geschichte ist rasch erzählt: Paul, eigentlich Fürst Pawel Alexis, lebt mit seinem guten Freund, dem schwergewichtigen Karl Steinmetz, einem Deutschen, auf Schloß Osterno. Steinmetz ist eine Art väterlicher Freund, der in alle Geheimnisse seines fürstlichen Freundes eingeweiht ist und seinem Schützling nicht von der Seite weicht.

Paul ist ein wortkarger russischer Riese, er hat jedoch eine Schwäche, nämlich sein ausgesprochen soziales Gewissen. Er und sein Freund Steinmetz bemühen sich redlich den Bauern Hilfestellung in ihrer Entwicklung zu leisten. Paul geht nachts in der Verkleidung eines anonymen Moskauer Arztes zu den Bauern, denn er hat seinerzeit Medizin studiert. Steinmetz ist immer an seiner Seite.

Als Paul jedoch beginnt sich mit anderen Adeligen zu organisieren um das Leid der Bauern zu mildern und ihre Entwicklung voranzutreiben, scheitern sie alle an dem Verrat eines französischen Diplomaten, der für diesen Verrat ein Vermögen kassieren soll. Der Moskauer Hochadel hat für derlei Empathie mit der Bauernschaft keinerlei Verständnis und betrachtet seinerseits das russische Staatswesen und die öffentliche Ordnung in Gefahr, wenn Fürsten der verelendeten Bauernschaft Hilfe leisten.

Einige Adlige müssen nach diesem Verrat fliehen, andere, die sich der Bewegung angeschlossen hatten, werden nach Sibirien verbannt, und Paul und seinem Freund Steinmetz gelingt es nach London zu fliehen – bis sie bemerken, daß zwar ein Verdacht gegen sie vorliegt, aber keinerlei Beweise.

In London lernt Paul eine überaus hübsche Französin kennen, Etta Beaumont, in die er sich verliebt und die er kurzerhand heiratet. Es handelt sich dabei um die Witwe jenes französischen Diplomaten, der seinerzeit die geheimen Papiere stahl, die zur Enttarnung der empathischen russischen Fürsten geführt hatte. Jene Witwe ist es auch, die diese Papiere an sich nahm und einem russischen Agenten der Regierung für 200.000 Franc verkaufte. Ettas damaliger Gemahl starb auf der Heimreise, und Paul ahnt nicht, daß seine Gattin in diese Intrige verstrickt war.

In diese Dame und nunmehr die Gattin des Fürsten Alexis ist aber auch ein französischer Baron namens von Chauxville verliebt, ein echter Schurke, die nichts unversucht läßt Paul und seinem Freund Steinmetz zu schaden. Er begnügt sich nicht damit nur die Geheimnisse von Etta zu ergründen, denn als er stichhaltige Beweise für die Schuld der Dame in Händen hält, ist er auch bereit
Etta unter Druck zu setzen und zu erpressen.

Paul und seine Gattin Etta, sowie Steinmetz und eine weitere junge Dame reisen zurück nach Rußland, wo sie sich auf Schloß Osterno, dem Sitz des Fürsten Alexis, häuslich niederlassen. Chauxville folgt ihnen geschickt auf dem Fuße, überall wo Paul samt Gattin auftreten, läßt sich auch der Baron sehen, dem es auch durch seine umfangreichen Erkenntnisse gelingt die Fürstin vollkommen in seine Gewalt zu bekommen.

Auf einer gemeinsamen Bärenhatz, an der Steinmetz, Paul und Chauxville teilnehmen, wird Paul beinah das Mordopfer des Barons, der in einem entscheidenden Moment nicht auf einen Bären anlegt, der sich Paul unbemerkt rücklings nähert. Doch Steinmetz und ein Jäger erschießen den Bären und retten das Leben des Fürsten im letzten Augenblick.

Kurze Zeit später bemerken Paul und sein Freund Steinmetz, daß die Bauern in der Umgebung aufgehetzt und angestachelt werden gegen den Fürsten vorzugehen. Es erscheinen bezahlte Redner aus der Stadt, die den Bauern Gratis-Branntwein bezahlen und ihre Hetzreden halten. Tatsächlich geht der ganze Aufruhr von Chauxville aus, der die Sache generalsstabmäßig plant und durchführt. Und kurz darauf kommt es zu dem Aufstand, bei der auch Pauls Gattin involviert ist, denn der Druck des Barons zwingt sie eine Seitentür des Schlosses zu einer verabredeten Zeit zu öffnen, so daß die aufgewiegelten Bauern in das Gebäude dringen können.

Es kommt zu einigen Schüssen, doch lassen sich die Bauern nicht beruhigen. In allerletzter Sekunde beschließt Paul sich in die Kleider des Moskauer Arztes zu hüllen und sich als denjenigen zu erkennen zu geben, der den Bauern bei Krankheit und Not stets an der Seite stand. Als die Bauern erkennen, daß Fürst Alexis ihr sorgender und sich selbst nicht schonender Arzt sei, fallen sie auf die Knie und verlassen langsam und schweigend das Gebäude.

Bei dieser ganzen Aktion wurden jedoch Pauls Gattin und der Baron erschlagen, sozusagen in den Wirren dieser Revolution, ein Kollateralschaden. Kurz vor dem Tod seiner Gattin erfuhr Paul von ihrem damaligen Verrat an der neuen sozialen Bewegung – und forderte sie auf künftig in London zu leben, er werde sie mit den nötigen Mitteln ausstatten, damit sie dort ein standesgemäßes Leben führen könne. Doch das ist nun absolet und Fürst Alexis kehrt in Londoner Exil zurück, wo er sich künftig aus der Ferne für die Belange der russischen Bauern einsetzt.

Die Geschichte klingt simpel und ist natürlich nur grob verkürzt wiedergegeben, aber die Figuren und Dialoge sind erstklassig. Die Figur des alten, dicken Karl Steinmetz, des geheimnisvollen, deutschen Freundes des Fürsten, ist hinreißend. Orson Welles in seinen späten Jahres hätte diese geheimnisvolle Figur verkörpern können. Fürst Pawel [Paul] Alexis ist eine Figur, die fern an Fjodor Dostojewskis Fürst Myschkin erinnert und von Sterling Hayden hätte gespielt werden können. Und wo wir schon bei Altman’s Verfilmung von The Long Goodbye sind, wäre jener Henry Gibson der passende Schauspieler für die Rolle des schurkischen Barons, der in Altman’s Film den Dr. Verringer gegeben hat.

Der Stoff wurde tatsächlich seinerzeit von William C. deMille, dem älteren Bruder von Cecil de Mille, 1916 als Stummfilm verfilmt, gilt sogar im Gegensatz zu vielen anderen als ein erhaltenes Filmdokument. Einer meiner Lieblingssätze in diesem Roman lautet: »Der Baron [Chauxville] schien sich zu fragen, welchen Zweck Steinmetz mit dem Dickwerden verfolge. Er witterte auch hinter dieser Fettleibigkeit irgend ein Motiv.« Der einzige Mangel, den ich entdecken konnte, sind die etwas farbloseren weiblichen Charaktere, die eine ist schweigsam und verschlossen, die zweite ist ein Modepüppchen, das etwas unreflektiert ist – nur eine Nachbarin des Fürsten, Katharina, mit der Paul seit seiner Kindheit eine Freundschaft pflegt und die in ihn verliebt ist, ist ein interessanter und impulsiver Charakter.