T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

»Kriminalgeschichten« von Friedrich Thieme, 1898
von Mirko Schädel



Friedrich Thieme: Kriminalgeschichten, Berlin: Richard Eckstein 1898, Ecksteins Reisebibliothek Band 179, 144 Seiten


Der Band Kriminalgeschichten von Friedrich Thieme enthält drei Kriminalerzählungen. Die Tochter des Sträflings ist eine atmosphärisch eindrucksvolle Geschichte, die im schönen Odessa und im fernen, lebensfeindlichen Sibirien spielt. 

Zu Beginn befinden wir uns in einem Arbeitslager in Sibirien, wo Ivan Neschdanoff die vorzeitige Haftentlassung verkündet wird, da die Behörden nunmehr nach siebenjähriger Zwangsarbeit in den Kohlengruben seine Unschuld bewiesen haben. Sein Mitgefangener Wladimir Ignatieff beglückwünscht ihn und teilt Neschdanoff in kurzen Zügen seine Lebensgeschichte mit, darauf bittet er letzteren um einen Gefallen.

Ignatieff war vormals Kaufmannsgehilfe bei einem gewissen Bakunin, der krumme Geschäfte tätigte, Ignatieff beteiligte sich an den Geschäften, als die Polizei jedoch auf Bakunin aufmerksam wird und beginnt alle Schuldbeweise in Ignatieffs Richtung zu manipulieren, kommt es zu einem Eklat. Ignatieff, der ahnt, was sein Chef vorhat, beschließt das Bargeld aus dem Kontor zu stehlen und zu flüchten, doch Bakunin, vom gleichen Gedanken beseelt, kommt dazu und Ignatieff schlägt ihn nieder. Darauf irrt Ignatieff tagelang durch die Stadt, versteckt seine erbeuteten 12.000 Rubel und wird von der Polizei gefaßt. Bakunin und Ignatieff landen vor einem Gericht, während Bakunin lediglich zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wird, erhält Ignatieff, als vermeintlicher Hauptdrahtzieher der krummen Geschäfte Bakunins, 20 Jahre Zwangsarbeit in Sibirien. Während dieser Zeit stirbt Ignatieffs Frau und seine Kinder, nur die jüngste Tochter Wanda überlebt bei Verwandten.

Nachdem Ignatieff seine Geschichte erzählt hat, bittet er Neschdanoff sich um seine Tochter Wanda zu kümmern und verrät ihm das Versteck seiner Beute. Neschdanoff geht auf den Handel ein, und tatsächlich kümmert er sich rührend um seine Adoptivtochter Wanda, und die 12.000 Rubel vermehrt er dank seiner geschäftlichen Erfolge unablässig.

Als Neschdanoff überraschend verstirbt, ist Wanda eine junge, erwachsene Frau, vermögend und in einen gewissen Alexis Bakunin verliebt, dem Sohn jenes übelbeleumdeten Kaufmanns, der es in Odessa wieder zu Ruhm und Reichtum gebracht hatte – nun aber kurz vor seinem neuerlichen Bankrott steht.

Alexis, der von dem bevorstehenden Bankrott seine Vaters erfährt, sucht umgehend Wanda auf und sagt sich von ihr los – denn Standesunterschiede wie Reichtum und Armut verhindern naturgemäß jede eheliche Bindung. Doch Wandas Erzeuger, jener Ignatieff, gelingt es, nach 17jähriger Zwangsarbeit in der Verbannung, zu fliehen. Alt, gebrochen und krank trifft er in Odessa ein, nach ein paar Tagen besucht er seine Tochter und erzählt ihr die ganze Geschichte.

Noch bevor sich Wanda noch von dem Schock erholen kann, verschwindet der alte, kranke Mann wieder. Doch Wandas Ehrgefühl ist erschüttert, sie beschließt das gesamte Vermögen dem alten Bakunin zurückzuerstatten – ist es doch auf Grundlage jener geraubten 12.000 Rubel enstanden – und künftig als Lehrerin zu arbeiten um sich um ihren alten Vater zu kümmern. Alexis Bakunin unterstützt  Wanda in jeder Hinsicht, auch wenn er nicht mit Wandas Entscheidung einverstanden ist. Doch gelingt es mit Alexis Hilfe den alten Ignatieff zu finden und ihm mit Wanda zur Flucht zu verhelfen, da der alte Bakunin seinen einstigen Widersacher Ingnatieff als entkommenen Häftling anonym  bei den Behörden denunziert hat.

Bis auf einen Dampfer auf dem Schwarzen Meer gelingt die Flucht, doch dort entpuppt sich einer der Fluchthelfer als Polizist aus Odessa, der den alten Ignatieff verfolgt hatte in der Hoffnung, Ingnatieff würde seine einstige Beute von 12.000 Rubel aus ihrem Versteck holen. Der alte Ignatieff stürzt sich  rettungslos in die Fluten um einer weiteren Haft zu entgehen.

Alexis Bakunin gelingt es trotz aller Widerstände seine Wanda zu heiraten, ihr Vermögen soll in Zukunft für wohltätige Zwecke verwendet werden. Die Geschichte ist eher der Verbrechensdichtung zuzurechen als der Kriminalliteratur. Rußland diente während der Jahrhundertwende als beliebte Projektionsfläche für romantisierende, exotische Abenteuerstoffe, die angesichts des absolutistischen Zarentums auch gern Fragen der Moral, der Philosophie und der Politik behandelten.

Im Sturme gescheitert ist eine ebenso spannende, wie exotische Kriminalgeschichte, die in Ceylon auf der Farm eines reichen Plantagenbesitzers namens Mr. Lee spielt. Mr. Lee hat Ada, die Tochter eines Geschäftsfreundes, Bankrotteurs und Selbstmörders bei sich aufgenommen und wohl erzogen, so daß Ada nunmehr eine junge Dame im heiratsfähigen Alter ist.

Neben Ada kümmert sich der alte Plantagenbesitzer auch um den Sohn seines verstorbenen Bruders, und Mr. Lee wünscht sich sehr, daß seine beiden angenommenen Kinder irgendwann heiraten können, doch recht bald zerschlägt sich dieser Wunsch, denn jener Adoptivsohn Thomas Lee erweist sich von ausgesprochen schlechtem Charakter. Er spielt und trinkt, treibt sich herum, bis der alte Lee ihn aus dem Haus wirft und sein Testament ändert, so daß Ada nun als alleinige Erbin feststeht.

Der junge Thomas Lee reist einige Jahre in der Weltgeschichte herum bis er ziemlich heruntergekommen und hilflos wieder bei seinem Ziehvater auftaucht, doch nach Wiederherstellung seiner Kräfte beginnt der Absturz von neuem. Ada jedoch hat ihr Herz bereits einem jungen Pflanzer namens Edward Godwin versprochen und sie verachtet ihren Stiefbruder.

Eines Tages hat sich der alte Lee mit seinem Testament nach der Hauptstadt aufgemacht um es dort einem Anwalt zu übergeben, denn es kam kurz zuvor zu einem neuerlichen Streit mit seinem Pflegesohn Thomas. Am späten Nachmittag jedoch zieht ein gewaltiger Cyklon auf, und der alte Lee ist noch allein auf dem Meer mit seinem Segelboot. Ada gerät zunehmend in Angst, und als ihr Verlobter Edward auftaucht, bittet sie letzteren sich am Strand nach ihrem Adoptivvater umzusehen.

Ehe Edward das Haus verläßt, kommen zwei Eingeborene hinzu und berichten, daß sie zusehen mußten, wie ein Schiff am Felsen zerschellt sei, und kurze Zeit später wurden Wrackteile am Strand angeschwemmt, die von Mr. Lees Boot stammten. Nun gehen Ada und Edward von einem tragischen Unfall aus, doch die Leiche wird nicht angeschwemmt.

Der schmierige Adoptivsohn Thomas taucht auch kurz darauf wieder auf und heuchelt Trauer und Verzweiflung, während er parallel dazu sein Erbe in Besitz nimmt. Edward veranstaltet nun alles mögliche um den Leichnam aufzufinden, und womöglich das Testament, doch alles vergeblich. 

Ada wiederum wird aus ihrem Vaterhaus vertrieben und Thomas Lee wohnt nun als alleiniger Erbe auf der Farm, da das neue Testament nicht auffindbar ist. Einige Tage später findet ein Spektakel am Strand statt, etliche Perlenfischer aus der Umgegend bauen Hütten auf dem Sand und wappnen sich zu einer Art Perlentaucher-Wettkampf. Auch Edward mischt sich unter die Leute um sich von einem möglichen Leichenfund in der Umgebung zu informieren, doch auch da gibt es keine neuen Erkenntnisse.

Bis er einen kleinen Aufschrei hört, denn einer der Eingeborenen hat eine Flaschenpost aus dem Wasser gezogen. In dieser Flasche findet sich das Testament des alten Lee nebst einer merkwürdigen Skizze, die Edward vorerst nicht entziffern kann. Doch mit Hilfe eines klugen Eingeborenen kommt er dem Geheimnis dieser Skizze auf die Spur.

Am Ende erweist sich die Skizze als Plan für eine Bucht, in der der Leichnam des alten Lee versenkt ist. Edward heuert einen Perlenfischer an, der auch tatsächlich nach einigen Versuchen einen Leichnam entdeckt, der mit einem schweren Stein am Meeresboden befestigt ist. Man beginnt den Leichnam zu bergen, und es handelt sich um den alten Mr. Lee, dessen Brust zudem eine Schusswunde aufweist. 

Nach weiteren Ermittlungen Edwards und der Hilfe des Eingeborenens rekonstruieren sie die Tat und stoßen auf einen Zeugen der Tat, ein Perlenfischer, der aufgrund seiner verbotenen, nichtlizensierten Tätigkeit der Perlenfischerei es verständlicherweise unterließ, seine Erkenntnisse zur Anzeige zu bringen. Das Lee ermordet wurde, ist sonnenklar, wer ihn ermordet haben könnte, ist dem Leser naturgemäß ebenfalls klar. Doch noch ein Indiz führt zur vollständigen Aufklärung der Tat, denn in der rechten Hand des Leichnams steckte ein Knopf, den Ada als einen Gegenstand identifiziert, den ihr Bruder Thomas in Besitz hatte. Letzterer ist auch bereits auf der Flucht, als er von der Flaschenpost und dem einliegenden Testament hörte.

Doch wird er gefaßt und zu 20jähriger Verbannung verurteilt. Ada und ihr Edward heiraten und nehmen das rechtmäßige Erbe des alten Lee in Besitz.

Erstaunlich und sympathisch ist die Perspektive Thiemes zu den Eingeborenen, die selbst an der Aufdeckung des Verbrechens mitwirken und die Ermittlungen entscheidend vorantreiben. Es gibt nur wenige Autoren des ausgehenden 19. Jahrhunderts, vor allem in Deutschland, die so freimütig und tolerant fremde Kulturen und Ethnien beschreiben, ohne rassistische Stereotype zu bedienen und mit einer realistischen Sichtweise aufwarten.

Malhatta, einer jener singalesischen Detektive, wird weder als unbedarfter Blödmann, noch als edler Wilder beschrieben, sondern ganz so, wie man seinesgleichen auch beschreiben würde. Abgesehen von der melodramatischen Romanze zwischen Ada und Edward im zeittypischen Stil – und der Betonung emotionaler Ereignisse, die häufig den Kitsch streift, ist Thiemes Sprache und Stilmittel von einwandfreier Qualität, manchmal überraschend klar und nüchtern.

Die dritte Geschichte jedoch erspare ich dem Leser, denn bevor ich mit der Lektüre fortfahren kann, muß ich erst einmal die sensible Broschur neu verleimen.