T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Paul Feval: »Der Gaukler«, 1868

von Mirko Schädel


Paul Feval: Der Gaukler, Wien: Tendler 1868, 3 Bände


Paul Feval, 1817–1887, war ein typischer Vertreter des französischen Feuilletonromans. Er hat zahllose ausufernde Romane geschrieben, die als Fortsetzungen in Zeitschriften erschienen sind. Feval bediente dabei die klassischen Unterhaltungsgenres wie Abenteuer-, Kriminal- und Sensationsromane – und auch Zwitter dieser verschiedenen Gattungen. Ein paar phantastische Romane hat Feval ebenfalls veröffentlicht. Sein herausragendstes Merkmal sind allerdings seine Geschwätzigkeit und sein Zeilenschinden mittels Abschweifungen, die nicht unbedingt zum Verständnis und der Dramaturgie des jeweiligen Romans passen müssen.

Der Gaukler, 1868, gehört zu einem mehrbändigen Romanzyklus, der wohl von Gaboriau angeregt wurde und Feval zum Schreiben von hochwertigeren Romanen veranlaßte. Tatsächlich verzichtet Feval in diesem Roman auf seine obligaten und nervenaufreibenden Abschweifungen, für die er sich gern anschließend entschuldigt und Besserung gelobt – letzteres wohl auch nur um weitere Zeilen zu schinden.

Der heranwachsende Saladin, ein Schwertschlucker, arbeitet für das französisch-hydraulische Theater, eine Gruppe von Gauklern, die über das Land zieht. Als die Gruppe in Paris Station macht, erscheint zu einer der Vorstellungen eine junge Mutter mit ihrem Kleinkind, die beide aufgrund ihrer Lieblichkeit und Schönheit große Aufmerksamkeit erregen. Die alleinerziehende Mutter heißt Lily oder auch Gloriette, wie die Nachbarn des ärmlichen Stadtteils sie nennen. Das kleine Kind ist ein Töchterchen von zwei oder drei Jahren, die fortan Die kleine Königin genannt wird und später unter dem Namen Mademoiselle Saphir bekannt wird. Der Vater des Kindes ist ein junger Student, dessen Mutter die Ehe mit Gloriette zu verhindern wußte. 

Saladin, der an dem Abend nachdem er auf Gloriette und ihre Tochter traf, in seiner Bude hockt und einem Gespräch des Echalot mit seiner Gemahlin Madame Canada, den Besitzern des französisch-hydraulischen Theaters, beschließt zur Tat zu schreiten, denn Echalot und seine Gemahlin haben auch jenes liebliche Mädchen gesehen und erzählen sich, daß sie für ein solches Mädchen, das ihnen angeboten würde, wohl 100 Franc springen ließen um es dem Seiltanz zuzuführen und damit ein gutes Geschäft zu machen. Saladin weiß zufällig, in welchem Haus Mutter und Tochter ihr kärgliches Leben fristen. Er läßt sich von einem Maskenbildner zu einer alten Schreckschraube verwandeln, kauft sich dementsprechende Kleidung, nachdem er einigen seiner Kollegen Geld gestohlen hat und beobachtet fortan die Wohnung Gloriettes. Es gelingt Saladin in der Maskerade einer alten Frau das Kind zu entführen und es Echalot und Madame Canada zuzuführen, denen er gegenüber er behauptet, er habe das Kind von den Eltern für 60 Franc erworben.

Das Mädchen wird umfassend ausgebildet, nicht nur in den Künsten des Varietes – und Echalot und seine Gattin werden durch den Charme und den Liebreiz des Kindes zu vermögenden Leuten, denn alle Welt will die kleine Königin alias Mademoiselle Saphir sehen, die übrigens zunehmend wie ihre leibliche Mutter ausschaut und ein Muttermal oberhalb der Brust ihr eigen nennt, das das Mädchen unverwechselbar macht.

Derweil siecht Gloriette mit dem Verschwinden ihrer kleinen Königin dahin, doch überraschenderweise lernt sie den Herzog von Chaves kennen, einen brasilianischen Adligen und Millionär, der ihr seine Liebe gesteht. Der Herzog läßt durchblicken, daß er all sein Vermögen aufs Spiel setzen würde um die kleine Königin aufzufinden, worauf Gloriette die Ehe mit dem Herzog eingeht.

Auch der leibliche Vater der kleinen Königin hat sich auf den Weg gemacht und mit seiner ehrgeizigen Mutter gebrochen. Er will seiner Geliebten Gloriette beistehen, sie womöglich heiraten und seine Tochter wiederfinden, doch kommt er zu spät, denn Gloriette ist mit dem Herzog auf der Suche, die das Paar bis in die Vereinigten Staaten führt.

Die kleine Königin wächst heran und ist eine junge Frau geworden, sie ist immer noch die Attraktion des französisch-hydraulischen Theaters, das sich ihr zu Ehren in Mademoiselle Saphirs Theater umbenannt hat. Echalot und Madame Canada lieben ihre Ziehtochter und ahnen, daß es mit dem Kauf des Kindes nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Sie beschließen alles daran zu setzen, die leibliche Mutter des Mädchens ausfindig zu machen. Nur noch einige wenige Vorstellungen sollen in Paris gegeben werden, dann will sich das Paar zu Ruhe setzen und sich fortan um die Suche nach Mademoiselle Saphirs Mutter bemühen. 

Ebenso plant Saladin, der sich vom Theater vor einiger Zeit hat auszahlen lassen, den großen Coup. Auch er will die Mutter Mademoiselle Saphirs ausfindig machen, allerdings nicht um das Kind selbstlos zurückzuerstatten, sondern um soviel Gold wie möglich für seine Intrige zu erhalten. Saladin ist auch dem Geheimbund der Schwarzmäntler beigetreten, einer imaginären Verbindung von Kriminellen. [In dieser Übersetzung steht allerdings etwas von Schwarzen Anzügen]. Saladin wittert sein großes Geschäft, denn er weiß, daß die einst arme Gloriette nun über das Vermögen des Herzog von Chaves, ihres Gatten, verfügen kann.

Doch Saladins Plan reicht noch weiter, denn er glaubt, er könne Mademoiselle Saphir in sich verliebt machen, so daß er als ihr Bräutigam zum Millionenerbe avanciert, doch da hat sich der gute, kluge Saladin geschnitten, denn Mademoiselle Saphir ist ihrerseits verliebt in einen jungen Studenten namens Hector. Doch gelingt es Saladin nach Jahren den Herzog von Chavez und seine Gattin Gloriette in Paris ausfindig zu machen.

Der junge Hector ist ein Verwandter des Herzogs von Chavez und äußerst vertraut mit Gloriette – ohne zu ahnen, daß er in deren verlorener Tochter Mademoiselle Saphir verliebt ist. Er erzählt Gloriette von dem Objekt seiner Begierde und seine Schwiegermutter in spe entwickelt eine geradezu nervöses Interesse an diesem Mädchen, so daß sie mit dem jungen Hector einen Umweg zu den Gauklern nehmen will um die junge Frau in Augenschein zu nehmen.

Damit endet dieser Band, denn Der Gaukler und seine Editionsgeschichte ist seinerseits beinah ein Krimi. Die erste Abteilung und knapp die erste Hälfte des Romans erschien 1868 bei Tendler in Wien. Der Verlag wurde im selben Jahr an einen Herrn Grosser verkauft, der gleich nach seinem Kauf Bankrott ging. Die zweite Abteilung des Romans konnte nicht mehr bei Tendler erscheinen. Aber der Kollmann Verlag veranstaltete für die enttäuschten Leser des unvollständigen Romans eine Ausgabe mit der zweiten Abteilung unter dem Titel Mademoiselle Saphir in zwei Bänden im Jahre 1872. Allerdings wurde das Buch wohl in einer noch geringeren Auflage gedruckt für die wenigen Enthusiasten, die auf das Ende des Romans so lange warten wollten.

So ist der vollständige Roman Der Gaukler also im Abstand von vier Jahren bei zwei verschiedenen Verlagen erschienen – und ein äußerst rares Buch. Die erste Abteilung unter dem Titel Die kleine Königin hat mir dankenswerter Weise Herr Norbert Becker leihweise zur Verfügung gestellt, der sich Kopien des Buches verschafft hat und diese in schönes Halbleder einbinden ließ. Das Ende des Romans mit dem Titel Mademoiselle Saphir liegt mir leider nicht vor, und es ist zweifelhaft, ob ich das Buch je zu sehen bekomme.

Der Gaukler ist eine etwas sentimentale Kriminalgeschichte, die von der Entführung eines kleinen Kindes handelt, das langsam zur Frau reift und dem schlauen, intriganten Schwertschlucker Saladin, der um jeden Preis Gewinn aus seinen Verbrechen ziehen will. Es gelingen Feval immer wieder eindrucksvolle und sensationelle Passagen, auch seine Kommentare sind nicht zu verachten.

Der Roman ist der einzige aus dem Romanzyklus »Die Schwarzmäntler«, der ins Deutsche übersetzt und in Buchform erschienen ist. »Les Habits Noirs«umfaßt neun fertig gestellte Romane, die sowohl die einfache Bevölkerung als auch die Literaturkritik in Begeisterung versetzen sollten. Feval hat sich bei diesen Romanen mehr Mühe gegeben, als bei seinen früheren Erzeugnissen – und diese Romane sollten qualitativ anspruchsvoller sein. Interessant sind vor allem die technischen Fertigkeiten Fevals, der seine Erzählung dynamischer gestaltet durch Perspektivwechsel und Vor- und Rückschauen, anderseits ist und bleibt Paul Feval inhaltlich auf dem Niveau eines Kolportageschriftstellers, der die alten billigen Taschenspielertricks immer wieder hervorholt und Schwierigkeiten hat neue Bilder für sein Erzählen zu finden.