T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

A[lice] [Ormond] Campbell: »Das Schlangennest«, 1931
von Mirko Schädel



Alice Campbell: Das Schlangennest, Wien: Amonesta 1931, Die versiegelten Bücher, 224 Seiten, Schutzumschlag von Ferdinand Kóra


Alice Campbell, 1887–1976, war eine amerikanische Schriftstellerin, die vorwiegend in England lebte. Das Schlangennest, 1931, ist ein melodramatischer und sehr spannender Thriller, der wieder einmal an der französischen Riviera in Cannes spielt.

Der Roman wird überwiegend aus der Perspektive einer jungen, charmanten Kanadierin namens Esther Rowe erzählt, die als Krankenpflegerin von einer Amerikanerin für ihre Europareise engagiert wurde, aber ihr Dienst endete in Cannes, wo die junge Dame ein paar Wochen oder Monate zubringen möchte – zu diesem Zweck sucht Esther sich eine Arbeit als Arzthelferin bei einem seltsamen Arzt namens Dr. Sartorius, der äußerst unsympathische Eigenschaften hat.

Dr. Sartorius erinnert entfernt an Dr. Frankenstein, rein physiognomisch also eine Mischung aus dem sehr arisch aussehenden Hans-Georg Maaßen und dem friesisch wirkenden Boris Karloff, der seine Praxis völlig unbeteiligt und gelangweilt führt, da er sich als Wissenschaftler versteht und im oberen Stockwerk seines Hauses über ein Laboratorium verfügt, wo er den größtem Teil seiner Lebenszeit verbringt.

Patienten dienen ihm vorwiegend als Melkvieh, wie das so bei Quacksalbern aller Art gewöhnlich der Fall ist. Sein gesamtes Einkommen verwendet Dr. Sartorius für seine Experimente – meist an Bakterienstämmen wie Typhus oder Tetanus. Abgesehen von der wortkargen und abweisenden Art von Dr. Sartorius, glaubt Esther, daß sie es lediglich mit einem typisch zerstreuten und weltabgewandten Wissenschaftler zu tun hat. Eines Tages wird Dr. Sartorius von der reichen Familie Clifford engagiert um den Patriarchen der Familie, Charles Clifford, einen Textil-Magnaten aus England, vom Typhus zu heilen. Sartorius soll exklusiv nur diesen Patienten versorgen, und er fragt seine Angestellte Esther Rowe, ob sie die Stelle der Tagpflegerin übernehmen wolle.

Esther bleibt keine Wahl, Sartorius Praxis wird einstweilen geschlossen bleiben müssen, so daß ihr diese neue Aufgabe alternativlos erscheint. Charles Clifford lebt mit seiner erheblich jüngeren Gattin Lady Clifford und einer jüngeren Schwester in einer Villa in Cannes. Charles Cliffords Typhus-Infektion äußert sich nur in leichter Form, er fiebert etwas und schwächelt wohl auch, so scheint es zumindest.

Esther, die zufällig Lady Clifford mit einem jungen Mann in der Stadt bereits viel früher gesehen hatte, spürt instinktiv, daß irgendetwas in dem Haus nicht stimmt, ihre Abneigung und ihr Mißtrauen gegenüber Lady Clifford wächst. Darüberhinaus macht sie weitere Beobachtungen, die sehr irritierend sind.

Auch ein Telegramm, das Charles Schwester an ihren Neffen geschickt hatte, in dem sie diesen jungen Mann von der Erkrankung seines Vaters informiert, sei angeblich von Lady Clifford abgesandt worden – als jedoch ein Telegramm von Robert Clifford eintrifft, in dem er die Familie wissen läßt, daß er sehr bald in Cannes eintreffen werde, scheint Lady Clifford sehr nervös zu werden. Später stellt sich heraus, daß Lady Clifford jenes erste Telegramm offenbar unterschlagen und nicht abgeschickt hatte – um zu verhindern den Sohn des Hauses heimzurufen.

Die Widersprüche und Verdachtsmomente mehren sich. Robert Clifford erreicht die Villa seines Vaters und ist vollkommen in Unkenntnis über den Gesundheitszustand seines Vaters. Er beginnt sich Sorgen zu machen als er von der Erkrankung seines Vaters erfährt, doch glaubt er, der unsympathische Dr. Sartorius werde seinen Vater schon wieder auf die Beine bringen.

Einige Tage später erhält der Kranke wieder einmal eine Injektion von Dr. Sartorius, wobei kurz darauf offenbar die benutzte Nadel für die Injektion verlegt worden ist – vermutlich von Esther, die sich nun einiges anzuhören hat über ihre Nachlässigkeit. Dr. Sartorius ist völlig außer sich vor Ärger, und Esther kann die Injektionsnadel nicht finden und wundert sich über die ungewöhnlich harsche Kritik an ihrer Arbeit – handelt es sich doch nur um den Verlust einer gebrauchten Nadel.

Doch gegen Abend ändert sich der Gesundheitszustand des alten Charles Clifford erheblich, kurz zuvor schien der Krankheitsverlauf noch sehr leichter Art zu sein, doch an diesem Abend wird der Typhus ein lebensbedrohliches Ausmaß annehmen.

Am nächsten Tag gelingt es Esther zufällig die Injektionsnadel zu finden, die in den aufgeschlagenen Seiten eines Bildbandes verlegt worden war. Aber Esthers Verdacht ist nunmehr derart gereift, daß sie sich entschließt die Nadel, in der noch Flüssigkeit erkennbar ist, in einer Apotheke analysieren zu lassen. Die Analyse dauert mindestens einen Tag, so daß Esther sich gedulden muß.

In der folgenden Nacht stirbt Charles Clifford, doch hatte er kurz vor seinem Tod noch eine Änderung seines Testaments vorgenommen. Das Vermögen, das seine Gattin erben sollte, wird unwiderruflich von seinem Sohn Robert verwaltet werden – mit anderen Worten, Lady Clifford soll niemals frei über das Vermögen verfügen können. Charles Clifford ist gerade unter der Erde, da infiziert sich Robert Clifford mit einer ebenso leichten Typhuserkrankung wie sein Vater kurz zuvor.

Robert Clifford hatte sich gerade mehr und mehr mit der jungen Krankenpflegerin Esther beschäftigt und angefreundet, aber letztere verschwindet überraschenderweise auf eigentümliche Weise aus der Villa. Esther hatte zuvor noch mit dem Apotheker telefoniert, der sie davon in Kenntnis setzte, daß in der Injektionsnadel hochtoxische Typhuserreger gesteckt hatten. Der Apotheker erzählte auch, daß er am gleichen Tag das Ergebnis der Analyse bereits an Esthers Adresse in der Villa gesandt hatte, die den Befund aber nicht erhalten hatte. Beim Telefonieren noch schlingt sich ein kräftiger Arm um Esther, und niemand weiß, wie Dr. Sartorius sein Opfer aus der Villa  brachte. Esther wurde ins Laboratorium von Dr. Sartorius transportiert, wo sie mit Morphium-Injektionen tagelang ruhig gestellt wurde. Ein junger Mann, der von Dr. Sartorius als Bewacher fungierte, versagt aber in der Dosierung des Morphiums, so daß Esther nach zwei Tagen Bewußtlosigkeit erwacht und aus dem Dachfenster fliehen kann. Es gelingt ihr die Villa der Cliffords zu erreichen. Sie hatte zuvor im Laboratorium die Stimme von Dr. Sartorius vernommen, der ihrem Bewacher erklärt hatte, daß er Robert Clifford noch am selben Tag mit Tetanus-Erregern töten wolle.

Es gelingt ihr gerade noch diesen Mordanschlag an Robert Clifford zu vereiteln, und in kurzen abgebrochenen Worten die groben Verdachtsmomente zu äußern, ehe sie völlig erschöpft zusammenbricht. Dr. Sartorius faselt etwas von einer ausbrechenden Geisteskrankheit und einer möglichen Morphiumsucht Esthers, doch Robert Cliffords Verdacht ist bereits aufgeflammt. Er sorgt für den Schutz Esthers, aber ein paar unbewachte Momente genügen Dr. Sartorius um sein Opfer mit einer erneuten Morphiumdosis zu betäuben. Clifford ahnt, was in dem kurzen unbeaufsichtigten Moment geschehen sein muß, und also hält Robert Clifford Nachtwache mit einem geladenen Revolver am Krankenbett Esthers.

Am frühen Morgen überschlagen sich dann die Ereignisse, Lady Clifford ist in der Nacht vom Dach gestürzt und liegt tot im Garten – sie wollte Beweismaterial aus Robert Cliffords Zimmer beiseite schaffen. Dr. Sartorius ist überstürzt entflohen und Robert Clifford verständigt nun endlich die Polizei. Die Fahndung nach Dr. Sartorius ist erfolgreich, doch als der Verbrecher gefaßt ist, suizidiert er sich noch im Polizeiwagen mit einem Gift. Robert Clifford und Esther heiraten.

Die Konstruktion dieses Romans ist erstklassig und der Spannungsbogen hält den Leser bis zum Schluß in Atem. Die Geschichte ist durchaus schlüssig und beschreibt die Verschwörung von Lady Clifford, deren Liebhaber und Dr. Sartorius, die gemeinsam den alten Charles Clifford töten wollen, um in den Besitz des Vermögens zu gelangen. Lady Clifford hätte sich mit ihrem Liebhaber ein hübsches Leben gemacht, und Dr. Sartorius hätte störungsfrei jahrelang seinen Experimenten frönen können.

Als jedoch die Testamentsänderung zum Tragen kam, mußte man Robert Clifford ebenfalls aus der Welt schaffen. Und Esthers Beobachtungen und ihr Beweis jener vergifteten Injektionsnadel führten zu der Erkenntnis, sich dieses Mädchen unbedingt vom Hals zu schaffen. Dr. Sartorius war sich lediglich noch nicht darüber klar, wie er den Mord deklarieren sollte. Schön ist auch die kleine grausige Episode, wo Dr. Sartorius darüber spekuliert, wie man mit Esther sonst noch hätte verfahren können, zum Beispiel eine Hirnoperation mit dem Ziel das Sprachzentrum zu zerstören und das Erinnerungsvermögen zu entfernen – um das Mädchen dann den Rest ihres Lebens in einer Irrenanstalt unterzubringen.