T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Frau Henry Wood: »Georg Canterbury’s Testament«, 1871
von Mirko Schädel



Frau Henry Wood: Georg Canterbury’s Testament, Leipzig: Ernst Julius Günther 1871, 193, 193, 181, 194 Seiten


Mrs. Henry Wood wurde als Ellen Price am 17.1.1814 in Worcester geboren, heiratete 1836 Henry Wood, den Leiter einer Bank- und Handelsgesellschaft, berühmt wurde sie 1861 mit ihrem Sensationsroman East Lynne, sie starb am 10.2.1887. Es folgten nach East Lynne zahllose Sensations- und Kriminalromane, die die Autorin vor allem im englischsprachigen Raum bekannt gemacht haben. Aber auch etliche Romane Mrs. Woods wurden ins Deutsche übersetzt.

George Canterbury’s Testament, 1871, ist ein viktorianischer Intrigen- und Kriminalroman, der erst nach und nach an Fahrt gewinnt. Der erste des vier Teile umfassenden Romans widmet sich fast ausschließlich der Vorstellung zahlreicher Charaktere, die einer Art moralischen Kompass folgend, die Figuren in zweifelhafte, zwielichtige, asoziale und verwahrloste und im Kontrast dazu in aufrichtige, souveräne, anständige und empathische Typen aufteilt.

Die von Gier, Rachsucht, Verlogenheit und Heuchelei getriebene Mrs. Kage dient dabei als Beispiel eines restlos verworfenen Charakters – ein weitläufiger Verwandter, nämlich Mr. Thomas Kage ist in die Tochter jener Mrs. Kage, nämlich die hübsche Caroline Kage, verliebt, doch wie sich der Leser schon denken kann, ist die egozentrische und egoistische Caroline von ihrer Mutter bereits so sehr verdorben worden, daß eine mögliche Ehe mit Thomas Kage glücklicherweise nicht zustande kommt und aufgrund der Mittellosigkeit des jungen Rechtsanwalts auch nicht in Frage kommt. Der Korb Carolines stürzt letzteren in eine tiefe Lebenskrise, denn Thomas fühlt sich zurecht von der jungen Caroline hinters Licht geführt und tief verletzt. Caroline hatte mit Thomas Kage nur gespielt, denn einen Mann ohne beträchtliches Einkommen stand für sie nicht zur Debatte – obwohl sie tatsächlich in Thomas verliebt ist. 

Die junge Dame von 18 Jahren heiratet nämlich sehr bald den in den 60er Jahren stehenden George Canterbury, einen reichen Landedelmann und Witwer, der vier Töchter aus der ersten Ehe glücklich um sich schart, und der nun überraschend beginnt sich ein Gebiß anzuschaffen oder eben auch eine lockenprächtige Perücke, die den alten Kerl um zehn Jahre jünger erscheinen läßt.

Nur Lydia, eine der Töchter Canterbury’s, bemerkt diese Veränderungen ihres Vaters und beobachtet zwischen dem alten Canterbury und der jungen Caroline Kage ungewöhnliche Annäherungen, sie ahnt, daß Caroline den Plan gefaßt hat ihren Vater zu überrumpeln, ihm Hoffnungen zu machen und ihn zu heiraten um sich das überaus große Vermögen anzueignen. Dies teilt sie ihren Schwestern mit, die bislang keine Anzeichen davon wahrgenommen hatten und nunmehr unter Schock stehen, denn sie befürchten, daß ihrer sicheren Existenz am heimischen Herd Gefahr droht.

Im zweiten Teil des Romans wird der Alptraum der Töchter Canterbury's wahr, denn Mrs. Kage, die Mutter von Caroline, treibt die Geschwister geschickt aus dem Hause, die nun eine kleine Villa in der Umgebung beziehen. Doch damit nicht genug, Caroline wird schwanger und bringt einen Knaben und Stammhalter zur Welt. Als jedoch die Intrige der Mrs. Kage weiter fortgesponnen wird – und der nunmehr geistig und körperlich angeschlagene Mr. Canterbury zu einem neuen Testament getrieben wird, eskaliert der Streit zwischen den Töchtern und ihrem Vater. Die vier Töchter sollen nach dem Tod Canterburys mit nur 5000 Pfund abgefunden werden – statt den bislang erwarteten 100.000 Pfund je Tochter, während der neue Stammhalter und George Canterburys Gattin das ganze beträchtliche Vermögen erhalten sollen.

Es kommt in der Folge dieses überaus ungerechten Testaments zu verschiedenen Auftritten und kleineren Eklats, doch das Testament gilt als unanfechtbar. Auch Thomas Kage warnt Caroline Kage bzw. Canterbury vor den Konsequenzen dieses Testaments, das niemandem Glück bringen wird. Er bittet die junge Dame inständig ihren Gatten zu bewegen ein gerechteres Testament aufzusetzen.

Doch dann kommt natürlich alles wie es kommen muß, denn nach dem Tod des alten Canterbury, der nicht lang auf sich warten ließ, erhält das unselige Testament die Rechtsverbindlichkeit und damit werden die vier Töchter zu recht unattraktiven Bräuten ohne nennenswerte Mitgift. Die Damen müssen sich fortan erheblich einschränken. Auch Thomas Kage schränkt sich aufgrund seiner geringen Mittel ein, er verbringt für Jahre seine Abende bei der alten Mrs. Garston, einer wohl orientierten, scharfsinnigen Beobachterin der Geschehnisse, die mit einer ebenso scharfen Zunge gesegnet ist. Mrs. Garston behandelt Thomas Kage wie ihren leiblichen Sohn, sie war bereits mit dessen Mutter aufs innigste befreundet. Die einzigen näheren Verwandten der Mrs. Garston ist der unselige Major Dawkes und dessen Schwester. Major Dawkes, noch jung an Jahren, ist ein ausgesprochener Verschwender, Spieler und Lebemann, dessen Schulden immer wieder von der zunehmend unwilligen Mrs. Garston getilgt werden. Aber die Verschwendungssucht des Majors wird offensichtlich mit Mrs. Garstons nur angefacht, denn der junge Mann baut fest auf seiner Ansicht, daß er der Haupterbe der Mrs. Garston sein werde. Doch darin irrt er gewaltig.

Major Dawkes muß immer mal wieder vor seinen Gläubigern fliehen und lebt fortwährend in Unruhe, dessen Schwester unterstützt den Hallodri wo sie kann. Irgendwann landet Major Dawkes jedoch in Chilling, der Ortschaft, wo der »Fels« steht, nämlich das Landhaus der Canterburys – in dem nun die Witwe Caroline Canterbury mit ihrem dreijährigen Sohn Tom lebt, der als Haupterbe des Canterbury-Vermögens gilt. Thomas Kage ist der Vormund des Jungen und dessen treuhänderischer Vermögensverwalter.

Major Dawkes, der in London eine Liebschaft hatte, die er aber bequem im Unklaren läßt über seine Absichten, faßt den Plan die reiche Witwe zu umwerben. Thomas Kage erfährt von der Anwesenheit des Majors durch Zufall und warnt Caroline Canterbury eindringlich vor diesem Mann. Doch aus Trotz und einem blinden Zorn verheiratet sich Caroline mit Major Dawkes und die Tragödie gerät langsam aber stetig außer Kontrolle.

Die nunmehrige Caroline Dawkes und ihr Gatte der Major leben fortan für etliche Monate in London auf großem Fuße, doch die beiden Eheleute entfremden sich zunehmend. Major Dawkes gelingt es in kürzester Zeit erhebliche Schulden zu machen, so daß er fortwährend gezwungen ist sich im eigenen Haus verleugnen zu lassen, da seine Gläubiger sich die Klinke in die Hand geben. Dawkes bittet auch seine Verwandte Mrs. Garston erneut um finanziellen Beistand, und sogar Thomas Kage, der das Vermögen des kleinen Tom Canterbury treuhänderisch verwaltet und vermehrt. Doch niemand ist bereit dem Major zu helfen, der in immer neue Schwierigkeiten gerät – nicht zuletzt durch Wechselbetrug und andere kriminelle Verfehlungen, die den Major unweigerlich ins Verderben bzw. ins Gefängnis bringen werden.

Als alle denkbaren Möglichkeiten scheitern sich gehörige Mengen Bargeld zu verschaffen, vergiftet Major Dawkes seinen Stiefsohn Tom mit Opium, das er der Kinderfrau unterschiebt, die weder lesen noch schreiben kann. Anschließend tauscht er die vermeintliche Medizin des Kindes wieder aus, so daß kein Verdacht aufkommen kann – zumindest ist das die Hoffnung des Majors. Dennoch kommt es zu einer Leichenschau und einer Verhandlung, die zwar bestätigt, daß das Kind mit Opium vergiftet wurde, aber nicht abschließend klären kann, wie es dazu gekommen sei.

Caroline ist am Boden zerstört und verläßt London, sie begibt sich in das abgeschiedene Landhaus der Familie Canterbury, wo sie ein kränkelndes, einsames Leben führt – immer von Major Dawkes Schwester beschattet, die offenbar von ihrem Bruder beauftragt wurde dafür zu sorgen, daß Caroline nicht auf die Idee kommt ein Testament aufzusetzen – denn ohne ein Testament würde im Todesfall von Caroline das gesamte Vermögen der Canterburys an Major Dawkes fallen. Da Caroline immer hinfälliger wird, ist ihre Observation nahezu lückenlos – auch fürchtet Caroline von ihrem Mann vergiftet zu werden, sie hat schlicht nicht mehr die Kraft gegen die Intrigen ihres Mannes und dessen Schwester vorzugehen.

Dennoch gelingt es Caroline Kontakt nach außen herzustellen, dank einer treuen Dienstbotin. Der Fels, das Anwesen der Canterburys, verfügt über einen geheimen Zugang, der völlig zugewachsen ist. Auf diese Weise kann Caroline heimlich Besuch empfangen oder ihre treue Dienstbotin mit Aufträgen aussenden. So empfängt sie auch Thomas Kage, dem gegenüber sie den Verdacht äußert, ihr Mann habe ihren Sohn auf dem Gewissen, denn mit dem Tod des Sohns gelangt das treuhänderisch verwaltete Vermögen wieder in den Besitz Carolines – das auch von ihrem Gatten Major Dawkes verschwendet werden kann. Caroline läßt sich mit Hilfe von Thomas Kage einen Anwalt schicken, der ebenfalls über den geheimen Zugang Einlaß findet und ein Testament aufsetzt.

Kurze Zeit darauf stirbt Caroline an Auszehrung. Major Dawkes und dessen Schwester sind überzeugt, nunmehr das alleinige Verfügungsrecht über das große Vermögen zu haben. Aus einem Brief der toten Caroline geht hervor, wie sie sich das Begräbnis wünscht, es werden einige Freunde und Verwandte eingeladen, die der Beerdigung beiwohnen sollen und die anschließend noch an einer kurzen Trauerfeier im Fels teilnehmen dürfen.

Auf dieser Trauerfeier platzt die Bombe, denn ein Anwalt erklärt. daß er nunmehr zur Testamentseröffnung schreitet, während der Major und dessen Schwester fortwährend erklären, Caroline habe kein Testament aufgesetzt bzw. kein Testament aufsetzen können, denn sie habe weder Besuch empfangen noch sei sie in Kontakt mit einem Anwalt getreten. Doch der Anwalt läßt sich nicht beirren und erklärt, es gäbe im Hause einen geheimen Zugang, der den Anwalt in die Lage versetzte, völlig ungesehen Caroline zu besuchen und mit ihr das Testament zu verfertigen, daß von zwei Zeugen unterschrieben wurde.

Das Testament ist äußerst knapp und präzis formuliert. Das Haupterbe erhalten die Schwestern Canterbury – denen damit ihr zu Unrecht entzogenes Vermögen rückerstattet wird. Carolines Gatte erhält 25 Pfund für den Kauf eines Trauerrings, den Caroline ihrem verstorbenen Sohn widmet. 

Als der Major und dessen Schwester endlich begreifen, daß sie vollständig enterbt und nun geradezu mittellos sind, erklärt ersterer, daß Caroline nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte und also verrückt geworden sei, und daß er, der Major, das Testament anfechten wolle.

Doch der Anwalt wendet sich noch ein letztes Mal an den schurkischen Major und bittet um ein Gespräch unter vier Augen, wo dem Major erklärt wird, daß die Verstorbene bei dem Anwalt ein Paket und diverse Schriftstücke hinterlegt habe, die über den Tod des Kindes Aufschluß geben würden. Diese Papiere und Beweise sollen aber nur in die Öffentlichkeit gelangen, wenn Major Dawkes nicht freiwillig den Fels räumt oder aber das Testament anficht. Major Dawkes wird totenblass und gibt jeden Widerstand auf, er verläßt nach kurzer Zeit das Landhaus und verschwindet mit seiner Schwester auf Nimmerwiedersehen.

Thomas Kage heiratet Millicent Canterbury, die jüngste der Canterbury-Schwestern – und obwohl diese Dame jetzt ein beträchtliches Vermögen geerbt hat, sieht Thomas ein, daß dieses Hindernis seines natürlichen Rechtsempfindens nicht ausreicht um dauerhaft auf Millicent zu verzichten.

Dieser Wood’sche Roman gehört zu den schwächeren dieser Art, und wer den viktorianischen Ehrenkodex und die teils sentimentalen und teils bigotten Passagen ertragen kann, wird dennoch einen überaus spannenden und unterhaltsamen Roman finden, der stark von den konservativen Ansichten des 19. Jahrhunderts geprägt ist.

Die umständliche, aber eindringliche Erzählweise läßt im Kopf des Lesers eine vergangene Welt entstehen, die von idealisierten Vorstellungen und moralischen Ansichten dominiert war, die aber gleichzeitig ein Zeitalter der Heuchelei und eines ungeheuren sozialen Drucks gewesen sein muß. Doch gibt es auch in diesem Buch zahlreiche Beispiele für die unkonventionellen Figuren der Mrs. Henry Wood, die auf das gute Benehmen pfeifen und unumwunden Wahrheiten kundtun, die die zeitgenössischen Zuhörer erröten lassen.

Besonders liebenswert ist die redegewandte Mrs. Garston, die im Lauf des Romans mit rund 90 Jahren stirbt und die Thomas Kage geradezu adoptiert hat. Sie steht für eine beinah hellsichtige Prophetin dieser Geschichte, denn sie ahnt wie keine andere die Entwicklung der Charaktere voraus. Sie ahnt auch bereits den nicht aufzuhaltenden Zusammenbruch ihres Verwandten Major Dawkes. Und auch die beredte Lydia Dunn, eine bereits früh verwitwete Canterbury-Schwester, kommt in ihren Analysen der Realität recht nahe. Aber die rechthaberische Art Lydias geht den Figuren des Romans auf die Nerven.