T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Gertrude Atherton: Geistergeschichten für Menschen mit Geist
von Robert N. Bloch


Gertrude Atherton, 1857–1948


Gertrude Atherton trat in ihren 37 Romanen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr erfolgreich waren, für die intellektuelle und politische Gleichstellung der Frau ein. Ihre Romane sind heute in Vergessenheit geraten, dagegen hat ihre Handvoll unheimlicher Geschichten, gesammelt in The Bell in the Fog (1905), immer wieder neue Auflagen erlebt. Ihre psychologisch raffiniert konstruierten Gespenstergeschichten, von Henry James beeinflußt, bestechen durch subtilen Aufbau und grausige Andeutungen. Auch zwei ihrer Romane enthalten phantastische Elemente, in ihrem Erstling What Dreams May Come (1888, unter dem Pseudonym Frank Lin) geht es um Seelenwanderung, The White Morning (1918) beschäftigt sich mit Spiritismus in Deutschland während des Weltkriegs.

Gertrude Franklin Horn wurde am 30. Oktober 1857 als Tochter des Geschäftsmanns Thomas Horn und der Gertrude Franklin, einer Nachfahrin des Präsidenten Benjamin Franklin, in San Francisco geboren. Als sie drei Jahre alt war, wurden ihre Eltern geschieden, und sie lebte bei ihrem Großvater mütterlicherseits, einem Bankier und Zeitungsherausgeber. Sie erhielt sporadisch Privatunterricht und besuchte das Sayre Institute in Lexington, Kentucky, wo sie an Tuberkulose erkrankte. Sie führte ein Boheme-Leben, veröffentlichte ab 1882 erste Erzählungen in der San Franciscoer Presse und war zweimal verlobt, bevor sie 1876 George H. Bowen Atherton, einen früheren Freier ihrer Mutter, heiratete. Sie hatten eine Tochter und einen Sohn, der im Alter von sechs Jahren starb. Nach dem Tod ihres Gatten im Jahr 1887 ging Gertrude nach New York und schrieb ihre ersten Romane. In den USA wurden ihre Romane als unmoralisch verdammt, da ihre unkonventionellen Heldinnen sich zu ihren sexuellen Bedürfnissen bekannten. 1895 zog sie nach England, wo ihre Romane mehr Anerkennung fanden. Dort entstanden die erfolgreichen Werke Patience Sparhawk and Her Times (1897) und American Wives and English Husbands (1898), die heute zum romanitischen Realismus gezählt werden. Nach biographischen Romanen (Senator North [1900] und The Conqueror [1902]) folgte ein Roman über die Frauenrechtsbewegung, Julia France and Her Times (1912). Ihr größter Erfolg wurde ein Roman über eine Frau, die sich einer Verjüngungskur durch Stimulierung der Hormondrüsen unterzieht, Black Oxen (1923). Als Gertrude Atherton, die Henry James, Ambrose Bierce und Gertrude Stein zu ihren Freunden zählen durfte, 1932 nach San Francisco zurückkehrte, galt sie als eine der bedeutendsten Frauen ihrer Zeit. Sie starb am 14. Juni 1948 in San Francisco.

Alle Qualitäten Athertons im Erzählen einer unheimlichen Geschichte finden sich in »The Bell in the Fog« aus gleichnamiger Sammlung. Ein amerikanischer Autor verliebt sich in das Porträt eines kleinen Mädchens, das in dem englischen Herrenhaus hängt, das er vor kurzem gekauft hat. Er erfährt, daß sie vor zweihundert Jahren einen verheirateten Pächter verführte und dann verließ. Der Pächter brachte sich um, und auch sie beging Selbstmord. Der Autor schreibt einen Roman über das Mädchen, und dann passiert das Unvorstellbare: das Ebenbild des kleinen Mädchens tritt ihm in Fleisch und Blut entgegen; sie ist offenbar eine Nachfahrin jenes unglücklichen Pächters. Der Autor nimmt das Kind zu sich, das er für eine Reinkarnation hält, gesandt als Wiedergutmachung für das Unheil, das sie einst über die Familie des Pächters brachte. Das Kind besitzt die eigenartige Gabe, in jedem Menschen, der ihr begegnet, dessen beste Eigenschaften zu stärken. Was dieses Kind wirklich sein mag, bleibt im Dunkeln. Es kann sich um zufällige Ähnlichkeit, Wahnvorstellungen, eine Geistererscheinung oder Reinkarnation handeln; die Autorin bietet keine Deutungen, doch durch die emotionale Konstruktion der Novelle wird der Leser verführt, nur an das Übersinnliche glauben zu wollen. Denkbar ist auch, daß die Imagination des Autors ein Wesen in der wirklichen Welt geschaffen hat, was dem Autor einen gottähnlichen Status zubilligt.

In »The Striding Place« kann sich eine Seele erst dann vom Körper lösen, wenn dieser in einem Sarg liegt; daher gibt ein Ertrunkener Handzeichen, um geborgen zu werden. In »The Dead and the Countess« werden die Toten auf einem alten französischen Friedhof plötzlich durch die neu gebaute Eisenbahn aus ihrem Schlaf gerissen. Ein alter Pfarrer kann das Klagen der Toten hören und entdeckt dabei nebenher, daß man eine Gräfin lebendig begraben hat. „Death and the Woman“ erzählt von einer Frau, die am Bett ihres Mannes sitzt, der im Sterben liegt. Dann hört sie den personifizierten Tod langsam die Treppe heraufsteigen. Als er gegen die Tür klopft, ist sie bereits vor Entsetzen gestorben. Die raffinierte Horrorstory, deren Schrecken allein aus den  Gedankengängen der Frau bestehen, erinnert an H. R. Wakefields »Blind Man’s Buff« (1929), die ihre Inspiration Atherton verdanken könnte.

Die vieldeutige Geschichte eines Persönlichkeitsaustauschs erzählt Gertrude Atherton in »The Eternal Now« (erschienen in der Sammlung The Foghorn [1934]), in der ein amerikanischer Millionär namens Simon de Brienne von einem französischen Vorfahren gleichen Namens aus dem 14. Jahrhundert, den man in Öl gesotten haben soll, so fasziniert ist, daß er eine Kostümfeier ganz im Stil des Jahres 1358 veranstaltet. Während der Feier gleitet er tatsächlich in die Vergangenheit zurück und wird schließlich in Öl gesotten.



Literatur zu Gertrude Atherton:

Charlotte S. McClure: Gertrude Atherton. Boise, Idaho: Boise State University 1976

Charlotte S. McClure: Gertrude Atherton. Boston: Twayne 1979

Marilyn J. Holt: „Gertrude Atherton“ in: Everett F. Bleiler (Hrsg.): Supernatural Fiction Writers. New York: Charles Scribner’s Sons 1985 (S. 777-781)

Emily Wortis Leider: California’s Daughter: Gertrude Atherton and Her Times. Stanford, CA: Stanford University Press 1991


BIBLIOGRAPHIE:

1. Kurzgeschichten

THE BELL IN THE FOG (1903)

1) DIE GLOCKE IM NEBEL

Robert Phillips (Hrsg.): TRIUMPH DER NACHT (Triumph of the Night, 1989)

Bergisch Gladbach 1990, Bastei-Lübbe Verlag (Bastei Lübbe Paperback 28196) (S. 225-244)

Übersetzung: Kamala Kiel

2) DIE GLOCKE IM NEBEL

Robert Phillips (Hrsg.): TRIUMPH DER NACHT (Triumph of the Night, 1989)

Bergisch Gladbach 1994, Bastei-Lübbe Verlag (Bastei-Lübbe-TB 13519) (S.

Übersetzung: Kamala Kiel [unveränderter Nachdruck von 2)]

3) DIE GLOCKE IM NEBEL

Gertrude Atherton: DIE GLOCKE IM NEBEL (The Bell in the Fog, 1905)

Butjadingen o.J., Achilla Presse (S. 7-41)

Übersetzung: Rainer G. Schmidt


CROWNED WITH ONE CREST (1905)

1) MIT EINER EINZIGEN KRONE GEKRÖNT

Gertrude Atherton: DIE GLOCKE IM NEBEL (The Bell in the Fog, 1905)

Butjadingen o.J., Achilla Presse (S. 163-177)

Übersetzung: Rainer G. Schmidt


THE DEAD AND THE COUNTESS (1902)

1) DIE TOTEN UND DIE GRÄFIN

Gertrude Atherton: DIE GLOCKE IM NEBEL (The Bell in the Fog, 1905)

Butjadingen o.J., Achilla Presse (S. 53-71)

Übersetzung: Rainer G. Schmidt


DEATH AND THE WOMAN (1892)

1) DER TOD UND DIE FRAU

Gertrude Atherton: DIE GLOCKE IM NEBEL (The Bell in the Fog, 1905)

Butjadingen o.J., Achilla Presse (S. 179-186)

Übersetzung: Rainer G. Schmidt


THE GREATEST GOOD OF THE GREATEST NUMBER (1905)

1) DAS GRÖSSTE GLÜCK DER GRÖSSTEN ZAHL

Gertrude Atherton: DIE GLOCKE IM NEBEL (The Bell in the Fog, 1905)

Butjadingen o.J., Achilla Presse (S. 73-87)

Übersetzung: Rainer G. Schmidt


A MONARCH OF A SMALL SURVEY (1905)

1) MONARCH EINES KLEINEN REICHS

Gertrude Atherton: DIE GLOCKE IM NEBEL (The Bell in the Fog, 1905)

Butjadingen o.J., Achilla Presse (S. 89-124)

Übersetzung: Rainer G. Schmidt


A PROLOGUE (TO AN UNWRITTEN PLAY) (1905)

1) EIN PROLOG ZU EINEM UNGESCHRIEBENEN STÜCK

Gertrude Atherton: DIE GLOCKE IM NEBEL (The Bell in the Fog, 1905)

Butjadingen o.J., Achilla Presse (S. 187-202)

Übersetzung: Rainer G. Schmidt


THE STRIDING PLACE (1896)

1) EINEN SCHRITT BREIT

Gertrude Atherton: DIE GLOCKE IM NEBEL (The Bell in the Fog, 1905)

Butjadingen o.J., Achilla Presse (S. 43-51)

Übersetzung: Rainer G. Schmidt


TALBOT OF URSULA (1905)

1) TALBOT AUS URSULA

Gertrude Atherton: DIE GLOCKE IM NEBEL (The Bell in the Fog, 1905)

Butjadingen o.J., Achilla Presse (S. 203-238)

Übersetzung: Rainer G. Schmidt


THE TRAGEDY OF A SNOB (1905)

1) DIE TRAGÖDIE EINES SNOBS

Gertrude Atherton: DIE GLOCKE IM NEBEL (The Bell in the Fog, 1905)

Butjadingen o.J., Achilla Presse (S. 125-161)

Übersetzung: Rainer G. Schmidt


THE TWINS (1896)

1) DIE ZWILLINGE

Frank Rainer Scheck & Erik Hauser (Hg): AUT DIABOLUS AUT NIHIL. BAND 1

o.O. [Windeck] 2014, Blitz Verlag (Meisterwerke der dunklen Phantastik, Band 1) (S. 323-332)

Übersetzung: Erik Hauser


THE VENGEANCE OF PADRE ARROYO (1902)

1) DIE RACHE DES PATERS

Rudolf Röder (Hrsg.): DER HELD VOM BLACK MOUNTAIN. WILDWESTGESCHICHTEN. NEUE FOLGE

München 1966, Nymphenburger Verlags-Handlung 

Übersetzung: Rudolf Röder





3. Romane

A DAUGHTER OF THE VINE (1899)

1) EINE TOCHTER DES WESTENS

Bonn o.J. [1905], Rheinische Union (Viktoria-Sammlung) (174 S.)

Übersetzung: M. Bahnson




4. Kurzgeschichtensammlungen


DIE GLOCKE IM NEBEL. ERZÄHLUNGEN (The Bell in the Fog, 1905)

Butjadingen o.J., Achilla Presse (243 S.)

Übersetzung: Rainer G. Schmidt

Enthält: Die Glocke im Nebel (»The Bell in the Fog«); Einen Schritt breit (»The Striding Place«); Die Toten und die Gräfin (»The Dead and the Countess«); Das größte Glück der größten Zahl (»The Greatest Good of the Greatest Number«); Monarch eines kleinen Reichs (»A Monarch of a Small Survey«); Die Tragödie eines Snobs (»Tragedy of a Snob«); Mit einer einzigen Krone gekrönt (»Crowned with One Crest«); Der Tod und die Frau (»Death and the Woman«); Ein Prolog zu einem ungeschriebenen Stück (»A Prologue to an Unwritten Play«); Talbot aus Ursula (»Talbot of Ursula«); Editorische Notiz (des Übersetzers).


© 2020 Robert N. Bloch