T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Karl Vivian, das ist Charles Henry Cannell: »Das verbotene Tor«, 1932
von Mirko Schädel



Karl Vivian, das ist Charles Henry Cannell: Das verbotene Tor, Berlin: Kulturelle Verlagsgesellschaft [Oestergaard] 1932, Iris-Kriminalromane Band, 260 Seiten



Wie viele andere auch habe ich mich jahrzehntelang täuschen lassen von der Existenz eines deutschen Autors namens Karl Vivian – ein vermutlich unbekannter deutscher Autor, der seine Romane mit Vorliebe an exotischen Orten oder in England spielen läßt, dachte ich. Aber damit bin ich ebenso hereingefallen, wie die anderen Leser und Sammler. Als ich jedoch vor einiger Zeit meine Bibliographie befragte, stieß ich auf eine kleine Notiz, die darauf hinwies, daß es sich bei Karl Vivian um den Briten Charles Henry Cannell, 1882–1947, handeln muß. Denn in nur einer einzigen Übersetzung dieses Autors wird der berüchtigte Hans Herdegen, das ist Karl Döhring, als Übersetzer genannt – und auch ein Originaltitel wird genannt: The Girl in the Dark.

Insgesamt sind rund zehn Romane von Vivian im Deutschen erschienen, allesamt unter dem germanisierten Pseudonym Karl Vivian – und ich vermute, daß diese Bücher alle von Karl Döhring übersetzt wurden. Damit wurden die deutschen Ausgaben bibliographisch derart verschleiert, daß der Autor wohl kaum an den möglichen Verkäufen beteiligt gewesen ist – und so handelt es sich hier um eine Serie von Raubdrucken.

Vivian nutzte mindestens vier Pseudonyme, das bekannteste war Evelyn Charles Vivian, und unter dem Pseudonym Jack Mann verfaßte er vor allem die Gees-Serie, die sich um einen okkulten Detektiv namens Gregory George Gordon Green dreht. Neben Kriminalromanen schrieb er auch Western, Science fiction, Phantastik, Sachbücher und Jugendbücher. Vivian ist im Umfeld der Pulps zu verorten, wo er auch als Herausgeber tätig war.

Der Roman Das verbotene Tor, 1932, der in der Reihe Iris-Kriminalromane erschienen ist, ist genaugenommen ein Abenteuerroman mit Anleihen an den Kriminalroman und die Phantastik. Der Rechtsanwalt Mr. Bean betätigt sich als Testamentsvollstrecker eines reichen Klienten. Der Klient namens Terry hat sein beträchtliches Vermögen seiner Tochter Maraquita vermacht, die sich irgendwo in Südostasien aufhalten soll, falls sie noch lebt. Sollte Mr. Bean die Erbin nicht ausfindig machen, fällt das gesamte Vermögen an eine Stiftung für Katzen – und Mr. Bean haßt Katzen. Außerdem hat Mr. Bean einen gutaussehenden Sohn, den er als künftigen Gatten der reichen Erbin ausmacht – zumindest beschäftigt  ihn diese Möglichkeit.

Um der Sache etwas Dampf zu machen, beschließt Bean selbst nach Südostasien zu reisen um die Erbin zu suchen, dabei bedient er sich seines altes Schulfreundes Mole in Sindanao, der ihm Agentendienste leistet. In dieser tropischen Hafenstadt überschlagen sich die Ereignisse, es melden sich auf eine Anzeige Moles insgesamt zehn junge Damen, die sich als Maraquita Terry zu erkennen geben, wobei nur eine junge Dame den Anschein erweckt die rechte Erbin zu sein – allerdings hat diese auf ihrer Anreise sämtliche Papiere verloren.

Aber Maraquita scheint Mr. Mole dennoch die richtige zu sein, und Mr. Davids, ein Mitarbeiter Moles, lauscht an der Tür und ist ebenfalls überzeugt von der Identität dieses Mädchens. Davids jedoch beschließt sich das Erbe des Mädchens anzueignen. Er stellt Maraquita eine Falle in einer räudigen Hafenkneipe, entführt sie und will die junge Dame erst freigeben, wenn sie ihn geheiratet hat. Aber zwei Freunde namens Coulson und Josiah durchkreuzen Davids Pläne, denn der junge Coulson verknallt sich in die schöne Maraquita und wird Zeuge eines Gesprächs zwischen dem Verbrecher und der jungen Dame.

Coulson und Josiah sind Gelegenheitsarbeiter, die sich seit einigen Monaten in Sindanao herumtreiben. Doch jetzt werden sie aktiv und befreien Maraquita aus einer leerstehenden Villa. Sie bringen die junge Dame zurück in ihr Hotel und versorgen ihre Wunden, die sie sich im Kampf mit Davids zugezogen haben. Maraquita hat einen Schuß durch die Schulter abbekommen, und Coulsen ist grün und blau geschlagen und vollkommen erschöpft von diesem Abenteuer.

Maraquita, die ihr letztes Geld für die Anreise nach Sindanao ausgegeben hat, ist verzweifelt. Sie hat nur eine Stiefschwester namens Fleur, die sie aus den Augen verloren hat, und die in der Umgebung Sindanaos leben soll. Doch sobald sie wen auch immer nach der Adresse Fleurs fragt, reagieren die Leute nur ablehnend und ausweichend. Coulson klärt Maraquita auf, denn Fleur hat ein abenteuerliches Leben hinter sich, sie gilt als Schmugglerin und ruchlose Mörderin, die sechs oder sieben Tagesreisen entfernt von Sindanao hausen soll – und die über schier unbegrenzte Macht verfügt.

Ein arabischer Krämer weiß wie man zu ihr gelangt und so setzt sich Maraquita mit dem Araber auseinander, der umgehend für den Transport der Verletzten sorgt, die in das Piratennest Fleurs geschafft wird. Am nächsten Tag stellen Coulson und Josiah die Abreise Maraquitas fest und werden kurz darauf von dem Rechtsanwalt Bean kontaktiert, der mittlerweile in Sindanao angekommen ist und nach Maraquita sucht. Coulson und Josiah sind gegen ein ansehnliches Honorar bereit Mr. Bean in das Piratennest zu führen – und so reisen die drei Männer einen Tag später zu Fleur, jene rätselhafte und grausame femme fatale.

Es geht durch den Regenwald, durchs Gebirge und über einen gewaltigen See, nach etlichen Tagen gelangen die drei Männer in eine ausufernde, uralte Burganlage, in der Fleur als unumschränkte Königin herrscht. Empfangen werden sie von einem alten Araber, der behauptet, daß Fleur verreist sei. Er wolle die Herren zu Maraquita führen, die noch von ihrer Verletzung gesundheitlich beeinträchtigt sei. Tatsächlich erkennt  Coulsen seine Maraquita kaum wieder, nur Mr. Bean läßt sich von der vermeintlichen Erbin einlullen.

Als Bean bereits auf dem Weg in sein Gästezimmer ist um sich frisch zu machen, streift Coulsen das Kleid Maraquitas von deren Schulter und stellt fest, daß dort keine Wunde mehr sichtbar ist. Damit wird Coulsen klar, daß sie Opfer einer Scharade geworden sind. Es ist nicht Maraquita, die vor ihnen steht, es ist Fleur selbst, die angeblich verreist sei. In diesem Augenblick werden die beiden Freunde gepackt und in eine Art Kerker gesteckt.

Um es kurz zu machen: Fleur ist wohl seit einiger Zeit schon verliebt in Coulsen, doch der alte Araber, der Strippenzieher des Piratennestes, hat auch ein Wörtchen mitzureden und möchte die beiden Freunde töten lassen um alle Spuren ihres neuen Verbrechens zu verwischen. Die echte Maraquita wird ebenfalls in einem der alten Wehrtürme festgehalten. Coulsen und Josiah sollen nach Fleurs Willen bestochen und angeworben werden für ihre Zwecke.

Coulsen wird bei der Führung Fleurs durch die weitläufigen historischen Anlagen auf das verbotene Tor aufmerksam. Niemand weiß, was dahinter steckt – vermutlich Schätze des ehemaligen Eigentümers der Burg, doch sei das Öffnen des verbotenen Tors mit einem Fluch belegt.

Coulsen und Josiah benötigen Bedenkzeit, sie dürfen sich mittlerweile auch in der Burganlage frei bewegen und entdecken dabei das Gefängnis von Maraquita. Die beiden Freunde beschließen, Maraquita zu befreien und mit ihr zurück nach Sindanao zu flüchten, denn sie befürchten, daß sich das arabische Männchen am Ende durchsetzen könnte und alle Zeugen dieser Erbschaftsangelegenheit beseitigen läßt.

Mr. Bean, der von Fleur vollkommen manipuliert wurde und fest überzeugt ist, daß er es mit der Erbin Maraquita zu tun habe, soll nach England zurückreisen und alle Formalitäten des Testaments erledigen – um dann das gesamte Vermögen nach Sindanao zu senden, wo es Fleur in Empfang nehmen kann. Mr. Bean ist bereits auf dem Rückweg begriffen, seine beiden Begleiter sollen sich abgesetzt haben, so hat es ihm zumindest Fleur eingeflüstert.

Die Befreiung Maraquitas gelingt den beiden Freunden, die Flucht setzt sich auf dem Gelände der Burg fort, doch dann ertönt ein riesiger Gong, der das Alarmsystem Fleurs in Gang setzt. Die Flüchtenden suchen unmittelbar auf einem Felsabsatz über dem verbotenen Tor Schutz. Josiah, der wissen möchte, was sich hinter dem Tor verbirgt, schlägt mit einer Axt die Steinkeile entzwei, das steinerne Tor bricht aus seinem Rahmen und fällt tönend auf den Erdboden – während Josiah sich wieder auf dem Felsvorsprung in Sicherheit bringt.

Die Flüchtlinge sehen eine riesige Gaswolke aus der Höhle hinter dem verbotenen Tor dringen, ein Gas, das schwerer als Luft, langsam das gesamte Gelände der Burganlage einnimmt und alles Leben vernichtet. Noch hören sie Schüsse von den Wehrtürmen, aber es gibt kein Entkommen für die Piratenbrut. Die Flüchtlinge bringen sich oben auf dem Berg in Sicherheit und treten ihre Rückreise an. Zurück in Sindanao müssen sie noch den verdrehten Mr. Bean von seinem Irrtum über Fleur aufklären, und daß nunmehr die echte Maraquita vor ihm steht. Es braucht einige Zeit bis der Rechtsanwalt seinen Irrtum einsieht und bereit ist Maraquita als Erbin anzuerkennen. Auch Coulson und Maraquita brauchen Zeit um sich über ihre gegenseitige Zuneigung klar zu werden.

Das Buch ist ausgesprochen spannend. Man ahnt hinter der mäßigen Übersetzung ein weit besseres Original und ich befürchte,  daß Karl Döhring dafür verantwortlich ist. Dieser exotistische Abenteuerroman im Gewand einer Krimireihe ist nicht ungewöhnlich, ebenso gibt es zahlreiche Beispiele für exotistische Kriminalromane, die als Abenteuerromane deklariert wurden. Auch Raubdrucke und die Verschleierung von Autoren lassen sich manchmal nachweisen. Man denke an die beiden Sax Rohmer-Plagiate. Die deutsche  Erstausgabe von Die gelbe Kralle, 1922, erschien unter dem Pseudonym des Übersetzers Erich Walter, das ist Walter Heichen.

Ein weiterer Sax Rohmer-Roman wurde von Ernst Willi Ebel übersetzt und unter dessen Pseudonym Ernst Rohden 1935 bei Burmester veröffentlich, nämlich Der goldene Skorpion – zu einer Zeit, als Sax Rohmer in Deutschland von den Nazis bereits verboten war.

Aber diese Art Raubdrucke sind äußerst selten. Das hier gleich so zahlreiche Werke von Cannell als Raubdrucke und mit verschleierter Autorenschaft erschienen sind, ist sehr ungewöhnlich. Natürlich dreht sich in diesem Roman alles um das gewaltige Erbe der Maraquita Terry, das ihr von verschiedenen Schurken abgejagt werden soll – und in der Folge finden auch verschiedene Verbrechen statt, wie Entführung, Mord, Mordversuch, usw. Doch im Gegensatz zum Kriminalroman geht es nicht um die Aufdeckung des Verbrechens oder die Verfolgung und Inhaftierung der Schurken.

Insofern ist dieses Buch kein Kriminalroman, sondern ein Abenteuerroman in dem diverse Verbrechen begangen werden und es zu einem phantastisch anmutenden Ereignis kommt, nämlich jenem Austreten des giftigen Gases aus der Höhle hinter dem verbotenen Tor. Aber genaugenommen ist das Buch auch kein phantastischer Roman – es spielt lediglich mit sensationslüsternen Versatzstücken der Kolportage und bedient sich im umfangreichen Ersatzteillager der Trivialliteratur. Es gibt Elemente der Phantastik, des Kriminalromans und des melodramatischen Frauenromans.


Lakiti, 1932, ist der Titel dieses melodramatischen Intrigenromans und gleichzeitig der Name eines malayischen Schlangengiftes. Das Buch ist die Fortsetzung von Das verbotene Tor, denn die Geschichte der Fleur Delage beginnt bereits in diesem zwei Jahre zuvor erschienen Roman.

Dieser Roman ist schwächer als sein Vorgänger, und doch wirkt er wie die Blaupause zu einem Hollywood-Melodram. Die rätselhafte, schöne Fleur hat nämlich das entweichende Gas überlebt … gemeinsam mit ihrem alten, arabischen Freund, denn den Tod der beiden ließ der Autor in Das verbotene Tor offen. Diese beiden Verbrecher treten nunmehr in einer nahegelegenen Hafenstadt hervor, und Fleur wird als künftige Braut des Sultans gehandelt.

Doch dann tritt ein Engländer, seines Zeichens ein Bildhauer namens Grenville, auf den Plan, der mit der Restauration einiger bedeutender Denkmäler im Palast des Sultans betraut wurde. Drinkwater, der ständig alkoholisierte Held aus Das verbotene Tor, ist ebenfalls in der Stadt – er hat sich verheiratet und leidet an seiner Gattin über alle Maßen. Drinkwater freundet sich mit Grenville an.

Dann entspinnen sich eine Reihe von Intrigen, und währenddessen verlieben sich Grenville und die schöne Fleur. Ihre heimlichen Zusammenkünfte werden jedoch von spionierenden Zuträgern des Sultans und des holländischen Gouverneurs überwacht, die beide vollkommen im Bilde sind. Naturgemäß ist die empfindlich gereizte Eitelkeit des Sultans ein wachsendes Problem für die Liebenden. Als der Sultan des letzten Beweis dieser Liebesaffäre in Händen hält, droht er sich an den beiden zu rächen. Er läßt Grenville bei der Arbeit in seinem Palast verhaften und einkerkern. Drinkwater eilt in die Stadt zum Gouverneur, doch dieser ist Teil einer Intrige und schert sich nicht um das Tun und Lassen des Sultans.

Der Sultan jedoch begibt sich zu Fleur und stellt sie vor ein Ultimatum. Entweder sie kommt nach Sonnenuntergang in den Sultanspalast und gibt sich hin, oder sie bleibt in sicherer Entfernung und muß hinnehmen daß ihr Geliebter ermordet wird. Fleur, die die Liebe Grenvilles erwidert, beschließt am Abend zum Palast zu fahren. Dort wird sie Zeuge von der Freilassung Grenvilles, ehe jedoch der Sultan seine Hände auf Fleurs Leib pressen kann, vergiftet sich diese mit Lakiti, dem Schlangengift. Ihre Leiche wird im Palast aufgebahrt, Grenville kommt zu spät und verabschiedet sich zutiefst getroffen von seiner Geliebten.

Dieser exotistische Intrigenroman liest sich tatsächlich wie eine Vorlage zu einem Drehbuch, das ein Melodrama der 1930er mit Starbesetzung hätte werden können, denn in genau diesem damals modernen Sujet bewegt sich der Leser. Die Konstruktion des Romans ist handwerklich gut umgesetzt, obwohl der Leser etwa an der Hälfte des Romans ahnt, wie die Geschichte ausgeht. Wer allerdings an melodramatischen Liebesgeschichten kein Gefallen findet, sollte dieses Buch meiden.