T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Emile Gaboriau: »L’Affaire Lerouge oder Gefahren des Irrthums«, 1867

von Mirko Schädel


Emile Gaboriau: L’Affaire Lerouge oder Gefahren des Irrthums, Wien: Last 1867, 3 Bände


 

L’Affaire Lerouge oder Gefahren des Irrthums, 1867, ist ein stringend erzählter, spannender und klassischer Kriminalroman, der aufgrund seiner zukunftsweisenden Struktur und dem Mangel an Geschwätzigkeit zurecht zu den Meisterwerken des Genres zählt.

Gaboriau führt in diesem Roman seinen Helden Monsieur Lecoq erstmals in die Literaturgeschichte ein, der hier jedoch nur eine unbedeutende Rolle spielt – stattdessen bereitet vor allem aber die Figur des Tabaret Freude.

Am Rande eines unbedeutenden Dorfes wird ein Mord an der angeblichen Witwe Madame Lerouge verübt, die die Polizei aufgrund der Sorgen einiger Nachbarn aufsucht. Auf das Klopfen eines Polizisten erfolgt keinerlei Reaktion, so daß die Beamten die Tür mit Gewalt öffnen.

Man findet die Leiche in einem Hinterzimmer mit zwei Stichverletzungen im Rücken. Die Nachbarn werden befragt, und es kommen interessante Informationen zum Vorschein. Der diensthabende Kriminalbeamte legt sich jedoch schnell auf einen möglichen Täter fest, während Lecoq, ein ehemaliger Sträfling, dem anwesenden Untersuchungsrichter vorschlägt Monsieur Tabaret hinzuzuziehen. Tabaret ist ein verknöcherter, kleiner Mann in den 60ern, ein Bibliophiler, dessen Steckenpferd das Detektivspielen ist, denn der vermögende Herr langweilt sich zu Tode und hat eine feine Spürnase für die Aufklärung verzwickter Kriminalfälle.

Leqoc eilt ins nahe Paris und holt Tabaret herbei, der den Tatort und die Umgebung sorgfältig untersucht. Angesichts der Indizien gibt Tabaret eine ziemlich genaue Beschreibung des Täters ab und stellt auch einen Gipsabdruck des Schuhwerks des Täters her.

Die Ermordete lebte in einer Art angenehmen, jedoch unerklärlichen Wohlstands, und sie hatte gern und häufig dem Alkohol zugesprochen und wurde dann naturgemäß redselig. Einer Zeugin sind einige Worte aus dem Munde der Witwe aufgefallen, die dem Leser suggerieren, daß die Witwe Lerouge, deren wahre Identität noch unklar ist, jemanden seit langer Zeit erpreßt hatte und dadurch ihr bequemes Leben finanzierte. Sie soll einen Ehemann gehabt haben, der als Seemann einen frühen Tod fand und einen Sohn, von dem aber niemand etwas weiß.

Gaboriau führt seinen verknöcherten Helden, der leicht an Don Quichotte erinnert, in die Irre. Zuvor stilisiert Gaboriau seinen Detektiv Tabaret, die Feinnase, noch zu einem exzentrischen Helden, doch der Leser ahnt bereits, daß Tabaret einem riesigen Irrtum zum Opfer fällt und von der Höhe der Euphorie in die Niederungen der Lächerlichkeit abgleitet.

Der Zufall spielt dabei eine erhebliche Rolle, denn der menschenscheue Tabaret, dem ein Mietshaus gehört, ist mit zwei seiner Mieter befreundet, während er darüberhinaus keinerlei Kontakte pflegt. Die Witwe Gerdy und ihr Sohn der Advokat Gerdy sind die einzigen Menschen mit denen Tabaret freundschaftlich verbunden ist. Tabaret denkt sogar darüber nach die Witwe eines Tages zu heiraten und ihren Sohn zu adoptieren und ihn zu seinem Alleinerben zu erklären, denn er hält die beiden für ein Muster der Tugendhaftigkeit. Doch dann stellt sich Tabaret überraschend dar, daß die beiden Freunde in die Mordsache der Witwe Lerouge involviert sind. Das Mordopfer war die Amme des Advokaten Gerdy – und ein Familiengeheimnis kommt ans Tageslicht, denn Madame Gerdy war die Geliebte des reichen und einflußreichen Grafen Commarin.

Zwar bedient sich Gaboriau als typisches Kind seiner Zeit der wiederkehrenden Muster der Kolportage, wie das Vertauschen zweier Säuglinge und die damit verbundenen Verwicklungen oder die auf Zufall beruhenden Wendungen der Geschichte, doch findet der Autor darüberhinaus etliche feine Details und einen ganz eigenen Ton, der bereits die Entfernung zur zeitgenössischen Kolportage darlegt. Auch die psychologische Tiefe von Gaboriaus Figuren entkräften den Verdacht der Kolportage.

Die symbiotische Zusammenarbeit zwischen Tabaret und dem mit diesem Mordfall betrauten Staatsanwalt, der in dieser Sache auch noch befangen ist, scheint auf den ersten Blick fruchtbar und rational zu sein. Doch bei näherer Betrachtung läßt Gaboriau den Leser ahnen, daß die beiden Kriminalisten sich an einer falschen Spur festgebissen haben – und das dies am Ende zu einer Katastrophe führen muß.

Der Graf Commarin hatten einen ehelichen Sohn, aber auch einen unehelichen Bastard mit seiner Geliebten – der Madame Gerdy. Aufgrund seiner leidenschaftlichen Liebe zu Madame Gerdy, beschließt der Graf die beiden Säuglinge zu vertauschen, die innerhalb weniger aufeinanderfolgenden Tage das Licht der Welt erblicken.

Somit wächst der Bastard, ein Kind der Liebe, aber vor dem Gesetz bar jeglicher Rechte, bei seinem Vater als Stammhalter auf, während sein ehelicher Sohn bei seiner Geliebten aufwächst und die mühselige, bürgerliche Existenz eines Advokaten beginnt. Sollte dieses Verbrechen an den Kindern offenbar werden, dann müßte der Grafensohn auf all seinen Reichtum verzichten und selbst eine bürgerlicher Existenz beginnen, während der Advokat in den Adelsstand versetzt werden und das Vermögen seines Vaters erben würde. Und dieses Familiengeheimnis gerät an die Öffentlichkeit, denn der Mord an der ehemaligen Amme und Mitwisserin Lerouge war der Versuch dieses Geheimnis weiterhin zu bewahren.

Gaboriau und seine Figuren fragen zurecht, wem nützt es? Sie beantworten die Frage mit der Annahme, daß der Grafensohn und Stammhalter seinen Status nicht verlieren wollte – und dieser also der Täter sein muß. Der Sohn des Grafen wird verhaftet.

Doch als am Ende nach all den erdrückenden Indizienbeweisen Tabarets und des Staatsanwalts der Grafensohn hartnäckig seine Unschuld beteuert, weiß Tabaret, daß letzterer nicht der Mörder sein kann. Der Grafensohn ist nicht einmal in der Lage ein Alibi beizubringen, doch Tabaret weiß, daß der Mörder ein junger Mann sein muß, der mit allen Wassern gewaschen ist – und der vorsorglich über ein falsches, aber glaubwürdiges Alibi verfügen würde. Ende des zweiten Drittels des Romans erkennt Tabaret seinen Fehler und ist überzeugt, daß es einen anderen geben muß, der die Tat begangen hat. Doch der Staatsanwalt ist nun von der Schuld des Grafensohns überzeugt, in seinen Augen ist die Beweislage erdrückend.

Der dritte Teil des Romans ist ein Feuerwerk der Offenbarung, denn nun kommen Einzelheiten ans Licht, die den Spürhunden der Polizei völlig neu sind. Gaboriau hat dem Leser durchaus geschickt suggeriert, daß der tugendhafte Advokat und Grafensohn, den Tabaret als seinen Ziehsohn und Alleinerben schätzt, nicht der ist, der er zu sein scheint. Tabaret, der sich anfangs gegen diesen skandalösen Verdacht wehrt, muß erkennen, daß sein tugendhafter Ziehsohn ein Monster sein muß. Denn der einst geplante Tausch der Säuglinge hatte gar nicht stattgefunden, so daß die beiden Söhne von Anfang an auf dem rechten Platz waren. Um dies zu vertuschen, nämlich die Tatsache des geplatzten Austausches der Kinder, mußte der Advokat handeln und Zeugen dieses Ereignisses beiseite schaffen, denn nur so hätte er sich in betrügerischer Absicht auf den Platz des echten Grafensohns setzen und sich das Vermögen der Familie sichern können. Der tugendhafte Advokat war nämlich bereits zu Grunde gerichtet, sein Vermögen und das seiner Mutter Madame Gerdy hatte er bereits einer zwielichtigen Geliebten in knappen vier Jahren zu Füßen gelegt, die es verjubelt und verpulvert hatte. Dieses amouröse Verhältnis hielt er geheim, doch Tabaret erfährt von der Liason und es gelingt ihm ein paar Worte mit der reizenden Maitresse zu wechseln – und darauf erkennt er die ganze Tragweite seiner Irrtümer. Er muß erkennen, daß der junge Mann, dem er das größte Vertrauen entgegenbrachte, der größte Schurke ist, den man sich vorstellen kann.

Auch der Staatsanwalt muß sich einer ähnlichen Katharsis stellen, denn dieser trägt die Verantwortung dafür den ehelichen Sohn des Grafen Commarin, der unschuldig ist, ins Gefängnis geworfen zu haben – zu alledem ist der Staatsanwalt befangen, denn er liebt die Braut dieses Adligen. Nicht zuletzt diese Dame ist es, die ihn nun von seinem Irrtum überzeugt – zudem der aufkeimende Informationsfluß der polizeilichen Ermittlungen, der ihm darlegt, daß sein Gefangener unschuldig an dem Mord der Witwe Lerouge sein muß.

Doch ehe der mörderische Advokat gefaßt werden kann, richtet dieser sich selbst – und sowohl der Staatsanwalt als auch Tabaret sind nunmehr geläutert. Der Staatsanwalt nimmt seinen Abschied und führt ein stilles Leben in der Provinz, Tabaret engagiert sich fortan für Strafgefangene, die aufgrund eines Justizirrtums in Haft gerieten, und gegen die Todesstrafe.

Der alte Tabaret ist ein ungewöhnlicher Held, den Constant Guéroult in seinem Roman »Herr Lubin und seine Tabaksdose« als Moniseur Lubin wieder auferstehen läßt. Die Ähnlichkeit dieser beiden Helden ist zu offensichtlich und Emile Gaboriau war bereits unter der Erde, als Guéroults Plagiat veröffentlicht wurde.