T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Gerhard Stein, das ist Wilhelm Rubiner: »Das Rätsel des ›roten Löwen‹«, 1913
von Mirko Schädel



Gerhard Stein, das ist Wilhelm Rubiner: Das Rätsel des »roten Löwen«, Berlin: Scherl 1913, Scherls Taschenbücher, 218 Seiten, angebunden Moritz Reichenbach: Mammon im Gebirge, Seiten 219–268


Gerhard Stein, das ist Wilhelm Rubiner, 1851–1925, war der Vater des expressionistischen Schriftstellers Ludwig Rubiner. Wilhelm Rubiner war Journalist und Schriftsteller und verwendete folgende Pseudonyme: Gerhard Stein, Otto Waldegg, Walter Gerhard, William Thompson. Rubiner lebte in Berlin.

Das Rätsel des »Roten Löwen«, 1913, ist ein vorzüglicher, atmosphärischer und amüsanter Kriminal- und Liebesroman, vielmehr eine Parodie des Kriminalromans, denn das eigentliche Verbrechen ist ein kleines Mißgeschick, das dem Opfer widerfahren ist.

Herr Heydemann taucht eines Tages in einem Berliner Gasthof namens Roter Löwe auf, wo er ein Zimmer nimmt. Heydemann ist ein Provinzler, etwas schrullig und altertümelnd, der einst Philosophie studiert hatte, dann aber in seiner Heimatstadt von Nachhilfe-Stunden abhängig war, die er für 25 Pfennige die Stunde begriffsstutzigen Volksschülern gab. So lebte Heydemann in äußerster Armut.  Doch eines guten Tages starb eine reiche Tante Heydemanns und vererbte dem ewigen Studenten 40.000 Mark Bargeld. Heydemann sieht sich am Ende seines Leidensweges, und will es sich einige Zeit in der Reichshauptstadt gut gehen lassen – er prahlt auch vor einem Gast mit seiner prall gefüllten Brieftasche und am nächsten Tag, kurz nach einem Ausflug ins Großstadtleben, stellt Heydemann den Verlust seiner Brieftasche fest, die aus seinem Zimmer verschwunden war. Seine gesamte Barschaft, seine Zukunft sind futsch. Er schlägt Alarm, die Polizei eilt an den Tatort, doch Heydemann muß sich gedulden und ist am Boden zerstört. Er packt sein kleines, zerschlissenes Köfferchen, bezahlt die Zimmermiete und betritt die Straße – ahnungslos wie es weitergehen soll.

Eine merkwürdig zielstrebige Matrone nähert sich ihm, als ihm sein Köfferchen aus der Hand fällt und seine wenigen Habseligkeiten auf der Straße liegen. Die Dame nimmt sich seiner an, es handelt sich dabei um die talentfreie Kriminalschriftstellerin Frau Doktor Driesen, die ihre ungeliebten Bücher im Selbstverlag auf den Markt bringt.

Frau Doktor Driesen weiß bereits von Heydemanns Verlust und dirigiert ihn geschickt in ihre Wohnung, wo sie ein anständiges Verhör mit ihm anstellt. Als sie erfährt, daß er Philosophie studiert habe und Nachhilfe gegeben hatte, macht sie ihm das Angebot ihre Manuskripte abzuschreiben. Heydemann in seiner Not ergreift den Strohhalm, der ihm dargeboten wird und ist dankbar. Er erhält im selben Haus ein Zimmer im dritten Stock und schreibt nicht nur eine Reinschrift des Romans, sondern lektoriert und schreibt den Roman nach seinem Geschmack um. Frau Doktor Driesen stellt Heydemann ihrer Schwester Edith vor, die aus unerfindlichen Gründen mit Heydemanns Tätigkeit unzufrieden ist.

Neben Heydemanns Tätigkeit an Driesens Manuskript, bemüht er sich um die Wiedererlangung des verloren gegangenen Vermögens, das ihm offenbar gestohlen worden ist. So besucht er auch gelegentlich die Polizei um in Erfahrung zu bringen, ob sein Geld oder der Dieb gefunden wurden. Auch führt ihn sein Weg zweimal in die Redaktion des Tagesboten, Berlins bedeutendster Zeitung. Durch einen Zufall, da alle Berichterstatter abwesend sind, gelingt es Heydemann einen kleinen Auftrag zu erhaschen, er soll von einem kleinen Wohnungsbrand berichten.

Zurück in der Redaktion legt sich Heydemann ins Zeug und verfaßt einen mehrseitigen Bericht, den der diensthabende Redakteur dann ordentlich einstreicht. Heydemann, der eine berufliche Chance kommen sieht, darf sich im Berichterstatterraum aufhalten – in der Hoffnung wieder ähnliche Aufträge zu ergattern, und tatsächlich gelingt es ihm nach zwei Tagen einen interessanten Bericht über den Aufenthalt eines Radschas zu verfassen, der großes Interesse und das Wohlwollen seines Vorgesetzten hervorruft.

Währenddessen bleibt Heydemann verborgen, daß Edith sich in ihn verliebt hatte, und es dauert noch ein paar Wochen bis auch Heydemann seine Gefühle für Edith entdeckt. Doch kommt es zu verschiedenen Mißverständnissen, und Heydemann zieht sich zurück. Seine Hoffnung auf das verlorene Vermögen schwindet und so stürzt sich Heydemann in die neue Aufgabe als Journalist. Er findet kaum noch Zeit sich angemessen um die Umarbeitung der Romane der Frau Doktor Driesen zu kümmern, die durch Heydemanns Zutun derart qualitativ aufgewertet werden, daß die Autorin erstmals einen Roman an eine Zeitungsredaktion verkaufen konnte – was ihr bislang verwehrt war.

Am Ende des Romans klären sich die Mißverständnisse der beiden Liebenden und der mit Diebstahl betraute Kriminalkommissar bittet Heydemann um ein Treffen im Präsidium. Der Kommissar eröffnet Heydemann, daß sämtliche Spuren zu nichts geführt haben, das jegliche Spur nirgendwo hin führe – doch eine Idee habe er noch in petto.

Der Kommissar läßt eine Droschke rufen, und kurz darauf befinden sich drei Beamte, Heydemann und sein Kollege vom Tagesboten namens Bohne auf dem Weg zum »Roten Löwen«, jenem Gasthaus in dem sich der Diebstahl zugetragen hatte. Man betritt das ehemalige Zimmer Heydemanns, und der Kommissar bittet den Gastwirt um ein Beil. Mit diesem Beil schlägt der Kommissar die Rückwand des Schreibtisches, in der das gestohlene Geld geborgen war, entzwei und entdeckt zwei Geheimfächer.

Tatsächlich findet sich dort die unangetastete Brieftasche mit den 40.000 Mark, die nun Heydemann und seiner Edith als Altersvorsorge dienen soll. Das Buch ist überaus spannend und sprachlich in einem modernen Tonfall erzählt, keineswegs in dem behäbigen wilhelminischen Sprachduktus vor dem Ersten Weltkrieg – und verweist damit bereits auf die 1920er Jahre.

Heydemann, der schüchterne und etwas verstaubt daherkommende Provinzler verwandelt sich nach und nach zu einem selbstbewußten, souveränen Journalisten der Großstadt, der aus einer Art Dornröschenschlaf unsanft erwacht ist. Selbst die Liebesgeschichte ist spannend und gelungen erzählt, und kommt ganz ohne Kitsch aus.