T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

M[ary] E[lisabeth] Braddon: »Ein ungeschliffener Diamant«, 1867
von Mirko Schädel



M. E. Braddon: Ein ungeschliffener Diamant, Berlin: Otto Janke, 1867, Moderne Romane des Auslandes in guten Übersetzungen Band 28–30, 257, 245, 238 Seiten


Mary Elisabeth Braddon, 1837–1915, war eine typische Vertreterin des viktorianischen Spannungs- und Sensationsromans. Sie schrieb zahlreiche dieser Romane, die seinerzeit sehr beliebt waren.

Ein ungeschliffener Diamant, 1867, ist der Prototyp dieser Art Romane und gleichzeitig einer der stärkeren Romane der Autorin. Wie bei Vielschreibern üblich, variiert die Qualität der einzelnen Romanwerke beträchtlich – was man ebenso bei den zeitgenössischen Autoren von M. E. Braddon wie zum Beispiel Mrs. Henry Wood oder Wilkie Collins beobachten kann.

Der »ungeschliffene Diamant« ist niemand Geringeres als der Held der Geschichte, nämlich der aus Cornwall stammende Francis Tredethlyn, Träger eines guten Namens, aber doch vollkommen mittellos. Tredethlyn ist ein Soldat und als persönlicher Leibdiener des Offiziers Harcourt Lowther abgestellt, mit anderen Worten Tredethlyn wichst dem Mr. Lowther die Schuhe. Sie beiden befinden sich zu Beginn der Ereignisse in Van Diemens Land, dem späteren Tasmanien, einer vorgelagerten Insel südlich des australischen Festlandes, wo die Briten gern ihre Strafgefangenen auslagerten. Tredethlyn ist ein überaus interessierter, aber dem gesellschaftlichen Leben völlig gleichgültiger Eigenbrödler, ein naiver Bauer, der mit seiner wenig aussichtsreichen Zukunft trotzdem recht zufrieden ist – während Lowther einen eitlen Gecken und Stutzer darstellt, der zwar recht gebildet ist, sich aber dennoch blendend in der Ödnis Tasmaniens langweilt – und der nur für die feine Welt Londons gemacht zu sein scheint. Mr. Lowther betet eine junge Dame an, die er zu heiraten beabsichtigt, wenngleich er selbst ebenso mittellos ist wie sein Diener – und seine Verlobte namens Maude zumindest die Erbin eines sehr erfolgreichen und vermögenden Kaufmanns sein wird.

Braddon macht den Leser nun über ein Drittel des Romans mit den Personen und Gegebenheiten bekannt, dabei bedient sie sich der typisch viktorianischen Ausführlichkeit, die an ein reichlich bemessenes Zeilengeld denken läßt.

Neben den beiden jugendlichen Helden und Antipoden Tredethlyn und Lowther spielen noch eine überschaubare Anzahl weiterer Figuren eine wichtige Rolle. Maude Hillary zum Beispiel, sowie ihr Vater Mr. Hillary. Maude Hillary ist die Verlobte von Mr. Lowther, und Mr. Hillary jener reiche Kaufmann und Vater der letzteren. Als quasi angenommenes Kind lebt in dem Haushalt der Hillarys noch Julia Desmond, deren Vorfahren im Piratenwesen tätig waren, nunmehr aber völlig verarmt sind. Darüberhinaus gibt es noch einen toten Onkel namens Oliver Tredethlyn, der nur noch in Form eines ungeheuren Vermögens durch den Roman geistert und dessen Tochter Susanne Tredethlyn.

Die Ereignisse spielen sich folgendermaßen ab: Während Harcourt Lowther sich fast zu Tode langweilt und seiner Braut Miß Hillary gelegentlich Liebesbriefe in die Heimat schickt, erhält dessen Diener Francis Tredethlyn eines Tages einen Brief von einer Anwaltskanzlei aus dem hervorgeht, daß sein Verwandter Oliver Tredethlyn verstorben sei und Francis das Vermögen dieses Onkels erben wird. Francis macht sich beruflich frei und reist nach England, wo man ihm mitteilt, daß Oliver Tredethlyn seine einzige Tochter Susanne enterbt habe und nunmehr Francis 30.000 Pfund Rente im Jahr bezieht – ein fürstliches Vermögen.

Da Tredethlyn sich nicht allzu viel aus Geld macht und er das Gefühl hat, daß sein Onkel nicht ganz bei Trost gewesen sein muß, sucht er nach seiner Cousine Susanne um mit ihr das Erbe zu teilen. Doch seine Cousine ist nicht auffindbar. Tredethlyn engagiert eine Anwaltskanzlei und läßt nach ihr suchen, er selbst bemüht sich redlich, doch kommt er selbst auch zu keinem Resultat.

Tredethlyn lernt zufällig den Kaufmann Hillary kennen, der ihn zum Dinner einlädt, wo unser Held die beiden jungen und hübschen Damen Maude Hillary und Julia Desmond kennenlernt. Auf den ersten Blick verliebt sich Tredethlyn in die reiche Erbin Maude, ohne zu ahnen, daß es sich dabei um die Verlobte seines ehemaligen Vorgesetzten Harcourt Lowther handelt. Doch Tredethlyn weiß, daß er in der Liga dieser jungen eleganten und weltgewandten Herrschaften nicht spielen kann und wird sich bewußt, daß in der gesellschaftlichen Rangordnung Maude Hillary weit über ihm stehe – und daß also seine Liebe unerwidert bleiben muß.

Er ist sich dabei vollkommen im Klaren, daß er weder die Belesenheit und klassische Gelehrsamkeit noch über den Witz eines Gentleman verfügt, und ebenso wenig mit den Manieren eines solchen vertraut ist. Julia Desmond, eine Art mittellose Adoptivtochter, sieht ihre Chance auf eine reiche Heirat gekommen, sie erkennt in dem unbeholfenen Tredethlyn die Möglichkeit ihr Leben in neue Bahnen zu lenken und behandelt den fremden, jungen Mann besonders zuvorkommend und freundschaftlich. Sie faßt den Entschluß Tredethlyn zu heiraten und breitet ihre Netze aus wie eine Spinne, die ihr Opfer sucht.

Tatsächlich fällt Tredethlyn, nachdem er viel Zeit im Haushalt der Hillarys zubringt, auf Julia Desmonds trickreiche Fallen herein. Er liebt Maude und nicht Julia, doch gelingt es der letzteren seinen Ehrenkodex zu benutzen und ihn in ein Heiratsversprechen zu verwickeln, das er so nicht gewollt haben kann, das ihm aber untergeschoben wurde ohne daß Tredethlyn klar wird, wie es dazu hatte kommen können.

Von Zeit zu Zeit wendet sich Tredethlyn der Suche nach seiner Cousine zu. Zumindest bringt er in Erfahrung. daß Susanne offenbar das Opfer eines Schurken wurde, der sie verführt und wohl unter falschem Namen geheiratet hat, ehe sie von ihrem Mann verlassen wurde. Doch der Aufenthaltsort Susannes bleibt vorerst ein Geheimnis.

Mr. Hillary, der reiche Kaufmann und Vater von Maude, wirkt in letzter Zeit recht nervös und ungehalten. Eines Tages gesteht er seiner Tochter, daß er kurz vor dem Ruin stehe. Maude solle überlegen, wen man nach Kredit fragen könne, Tredethlyn, der nunmehr mit der zielstrebigen Julia Desmond verlobt ist und kurz vor seiner Verheiratung steht, verkehrt nach wie vor im Hause der Hillarys – wo ja Julia, seine Verlobte, lebt. 

Maude begegnet Tredethlyn in ihrem Haus und fragt ihn unumwunden, ob er ihrem Vater Geld leihen könne. Tredethlyn, der noch aus begreiflichen Gründen recht aufgebracht zu sein scheint, eröffnet Maude leidenschaftlich seine Bereitschaft ihrem Vater helfen zu wollen und erklärt der jungen Dame ebenso leidenschaftlich seine Liebe – während Julia Desmond im Türrahmen steht und dem Gespräch lauscht. Miß Desmond gibt zu erkennen, daß sie alles gehört habe und packt ihre Koffer.

Tatsächlich verschwindet Julia Desmond aus dem Hillary-Umfeld und bleibt für Monate unsichtbar. Maude Hillary jedoch entwickelt Schuldgefühle gegenüber Tredethlyn wegen seiner Darlehen. Auch ihr Vater gibt zu erkennen, daß er sich eine Heirat mit Tredethlyn nicht nur vorstellen könne, sondern sich diese ausdrücklich wünsche. Der Ruin des Hauses Hillary ist abgewendet dank Tredethlyns Geldspritze, letzterer wird zum Teilhaber des Unternehmens des alten Mr. Hillary. Nach einigen Wochen erhört Maude den unsäglich verliebten Tredethlyn und schreibt ihrem Verlobten Harcourt Lowther in Van Diemens Land einen Abschiedsbrief.

Bevor dieser Brief jedoch in Australien ankommt, betritt Harcourt Lowther die Bühne. Lowther hat seine Offiziersstelle verkauft und ist in die Heimat gereist. In England erfährt er von der Verlobung seines einstigen Dieners Tredethlyn mit seiner einstigen Braut Maude Hillary. Doch Lowther gibt sich keinerlei Blöße, im Gegenteil, er nimmt die Gegebenheiten zur Kenntnis und erneuert seine Freundschaft mit Tredethlyn, berät diesen auch in allen gesellschaftlichen Fragen – und Tredethlyn ahnt immer noch nichts von der zarten Verbindung Maudes mit Harcourt Lowther. 

Die Heirat Tredethlyns mit Maude Hillary findest statt, Maude scheint sich aus reinem Schuldgefühl gegenüber Tredethlyn opfern zu wollen. Lowther nimmt Tredethlyn unter seine Fittiche und sorgt dafür, daß sich der reiche Erbe von Maude ungeliebt fühlt und sich dem Laster zuwendet. Tredethlyn läßt sich von Lowther langsam zu Grunde richten, er beginnt zu spielen, zu trinken und bringt die Nächte in zweifelhafter Gesellschaft zu. Lowther führt seinen Freund dem Abgrund zu – er plant den langsamen Untergang seines ehemaligen Dieners, doch nicht aus Rache führt er seinen kaltblütigen Plan aus, sondern aus der Gewißheit seiner Überlegenheit und weil er es kann. Er hat den Plan gefaßt Tredethlyn derart zugrunde zu richten, daß dieser reif wird für ein frühes Ableben – um dann Maude, seine ehemalige Geliebte und künftige reiche Witwe an den Traualtar zu führen.

Doch dann gerät der Plan Harcourt Lowthers überraschend ins Wanken, denn Tredethlyn verändert ad hoc sein Verhalten, denn er hat seine Cousine Susanne in einem Theater erkannt – trotz der beträchtlichen Menge Alkohols, den er genossen hat. Als Tredethlyn seinen Rausch ausgeschlafen hat, erinnert er sich dumpf an seine Cousine, die er am vorigen Abend im Theater unter den Tänzerinnen entdeckt zu haben glaubt. Er setzt alles in Bewegung um endlich seine Cousine aufzuspüren – dabei hält er seine Absicht gegenüber seinem Freund Lowther geheim – auch Maude wird nicht ins Vertrauen gezogen. Tredethlyn findet über Umwege Susanne, die sich maßlos ob ihres verfehlten Lebens schämt. Susanne wurde von ihrem falschen Ehemann mit ihrem Kind sitzen gelassen, sie befindet sich in trauriger Armut und am Ende ihrer Kräfte. Während Harcourt Lowthers älterer Bruder aus dem Ausland heimkehrt und sich bei ersterem einnistet, treibt Harcourt seine Intrige auf die Spitze. 

Tredethlyn richtet seiner Cousine Susanne ein stilles Landhaus ein, so daß diese sich mit ihrem Kind dort zurückziehen kann. Als Harcourt nun entdeckt, daß Tredethlyn einer jungen, unbekannten Dame ein Haus kauft und sich rührend um diese kümmert, begeht er den Irrtum zu glauben, daß Tredethlyns moralischer Kompass zerstört ist und er eine Geliebte protegiert. Dieser Irrtum kulminiert, als er es einzurichten weiß, daß Maude einen Ausflug aufs Land unternimmt, wo er die Gattin Tredethlyns an den Zaun des fraglichen Landhauses führt, so daß Maude im Garten eine junge unbekannte Frau sehen kann – und Tredethlyn, der an einem Baum im Garten gelehnt steht. Dieses idyllische Bild prägt sich Maude ein.

Harcourt tut so, als sei die Situation ein unfassbarer Skandal und verunsichert somit Maude nachhaltig. Er, der alles dafür getan hatte, Tredethlyn in den Untergang und frühen Tod zu schicken und als ein vermeintlicher Freund desselben, behauptet nun, er habe lediglich versucht Tredethlyns zweifelhaften Charakter zu zähmen und doch sei letzterer nichts weiter als ein orgienfeiernder Wüstling usw.

Am späten Nachmittag treffen die Gatten in ihrem Hause aufeinander und es kommt zu einem weiteren Eklat. Tredethlyn weiß jedoch nicht, woher die drastische Wut Maudes herrührt, er weiß nicht, daß Maude ihn und seine Cousine in dem Garten gesehen hatte. Tredethlyn, der glaubt, daß Maude ihn nie geliebt und sich nur aufgrund seiner finanziellen Hilfeleistung geopfert habe, schreibt einen langen, sentimentalen und doch wahrhaftigen Brief an seine Gattin – in dem er erklärt, daß er nach Südamerika gehe. Anschließend verläßt Tredethlyn das Haus und mietet sich in einem Hotel ein. 

Eine Freundin Maudes, die dem Eklat beigewohnt hatte und die am Nachmittag auch an der Landpartie teilnahm, erklärt Tredethlyn unumwunden, daß der ganze Ärger von Harcourt Lowther herrührt – und das dieser ja der ehemalige Bräutigam Maudes sei. Doch die junge Dame traue diesem Menschen nicht – und Tredethlyn geht ein Licht auf. Er beginnt langsam und zäh, wie es seine Natur ist, sein Verhältnis zu Harcourt Lowther zu begreifen, er begreift, daß dieser ihn an die Stätten des Lasters geführt hatte, um ihn zu schröpfen und ihn dem Alkohol zuzuführen. Er begreift die bösartige Intrige Lowthers und nachdem er endlich klar sehen kann, eilt er in die Wohnung Lowthers, wo er einen weiteren Eklat herbeiführt. In Lowthers Wohnung findet ein Festmahl statt, Lowthers Freunde sind zu Gast, sie spielen und speisen, als Tredethlyn gegen Mitternacht die Bühne betritt. Letzterer erzählt nun der versammelten Mannschaft in Form einer Geschichte die Vorgänge um seine Person – und die Rolle, die Lowther darin spielt. Am Ende des Vortrags versucht Lowther Tredethlyn zu erwürgen, doch letzterer schüttelt diesen ab wie eine Ratte und verabschiedet sich – wobei Lowther verletzt wird.

Am nächsten Tag liest Maude den Abschiedsbrief ihres Gatten, und der Zweifel an der Verdorbenheit Tredethlyn nagt in ihrem Unterbewußtsein. Sie beschließt die junge Dame aufzusuchen und zu sehen, mit wem ihr Gatte sich die Zeit vertrieben hatte. Dort kommt es zu einer überraschenden Wendung, denn Maude begreift, daß dieser von Lowther inszenierte Auftritt am Gartenzaun eine Finte war, und daß diese junge Dame die Cousine Tredethlyns sei.

Maude ahnt nun auch, daß ihr alter Freund Lowther keineswegs ihr guter Freund sei, sondern ein gefährlicher Intrigant – überhaupt scheinen die Ereignisse Maude zu verändern. Ihre gesellschaftliche Stellung und die damit verbundenen Verpflichtungen sämtliche Soireen in London zu besuchen sind ihr seit längerem zuwider. Sie sehnt sich nach Klarheit, Wahrheit, Aufrichtigkeit und einem ruhigen Leben auf dem Lande. Sie sucht zunehmend das kleine Glück – ein Glück, das ihr Tredethlyn verschaffen könnte, wenn da nicht diese Mißverständnisse wären.

Und nun, da wir uns fast am Ende dieses viktorianischen Romans befinden, werden langsam nach einigen weiteren, verwirrenderen Episoden alle offenen Fragen geklärt. Tredethlyn ist nicht auffindbar, Maude vermutet ihren Gatten auf dem Dampfer nach Südamerika, erfährt aber kurz darauf, daß auf dem Schiff Feuer ausgebrochen sei – und die Passagiere als verschollen gelten. Harcout Lowther nutzt die Gelegenheit, denn die Narben, die Tredethlyn dem schönen Gesicht Lowthers zugefügt hatte, sind verheilt. Der Intrigant sucht seine Jugendliebe Maude auf, die ihm unmißverständlich erklärt, daß ihre Liebe zu Harcourt Lowther erloschen sei und weist dem Herrn die Tür.

Maude erkennt, daß sie ihren Gatten geliebt hatte, sie ist eine trauernde Witwe, die erst jetzt den wahren Wert Tredethlyns zu schätzen weiß. Doch bald darauf erscheint Susanne, Tredethlyns Cousine, und behauptet, Tredethlyn habe das Schiff nach Südamerika verpaßt und sei dann nach Cornwall, in seine alte Heimat, gefahren. Tredethlyn lebt und Maude packt ihre Koffer. In Cornwall erfährt sie, daß Tredethlyn einen Zusammenbruch hatte und noch sehr schwach ist. Sie pflegt ihn und bittet um Vergebung. Tredethlyn begreift, daß Maude ihn liebt – und nach der Geburt zweier Kinder leben sie in einem beschaulichen Landsitz, wo sie sich landwirtschaftlich betätigen. Auf ihren gelegentlichen Reisen nach dem Kontinent hören sie von einem Landsmann, der an delirium tremens leidet. Tredethlyn unterstützt den zu Grunde gerichteten Herrn finanziell. Dieser englische Patient sinkt nach vielen Tagen von Schlaflosigkeit endlich in Schlaf und wird nicht mehr erwachen. Als Tredethlyn genötigt wird den Kranken kurz vor seinem Tod kennenzulernen, stellt er betroffen fest, daß es sich bei dem Kranken um Harcourt Lowther handelt.

Der Roman ist ein Intrigen- und Entwicklungsroman, man kann ihn als eine Art Vorläufer des Psychothrillers begreifen, denn Lowther ist ein kaltblütiger Intrigant ohne Empathie, der es meisterhaft versteht sein Gegenüber so zu manipulieren, daß der- oder diejenige am Ende nicht mehr weiß, was er oder sie eigentlich selbst wollen. Lowther ist ganz wie sein Bruder ein Psychopath, der nur seinen eigenen Vorteil im Auge hat. Doch gibt Braddon diesem Schurken durchaus auch menschliche Züge, denn als Lowther erfährt, daß sein ehemaliger Diener und Konkurrent um die Gunst Maudes, auf dem Schiff seinen frühen Tod gefunden hat, ist er doch einen Moment betroffen.

Susanne, die von einem Mann verführt und unter falschem Namen geheiratet wurde, kennt den echten Namen ihres Verführers nicht. Doch trifft sie eines Tages jenen Mann, der nämlich Harcourt Lowthers Bruder Roderich ist, der gerade dabei war eine Bigamie zu begehen, denn auch Roderich Lowther ist auf seinen eigenen Vorteil bedacht und will eine naive, junge Dame heiraten, die ein beträchtliches Vermägen erben soll. 

Sowohl Tredethlyn als auch dessen Gattin Maude machen eine erhebliche Wandlung in dem Roman durch. Der naive, bäuerliche, aber charakterlich integere Tredethlyn reift zu einem klugen, bedächtigen Mann, der sich dank seiner Lebensklugkeit und seiner Belesenheit das Wissen aneignet, das ihn von einem Gentleman unterschieden hat. Während aus dem schwärmerischen, fashionablen und verwöhnten Mädchen Maude eine Frau wird, die sich nicht mehr für Äußerlichkeiten und Modetorheiten interessiert – und ein klares, wahrhaftiges und einfaches Dasein vorzieht. Damit erlischt auch ihr Interesse an Blendern wie Harcourt Lowther, die von Damen umschwärmt werden.

Dieser Sensationsroman ist kein Kriminalroman in herkömmlichen Sinne, wenngleich er ähnlich funktioniert wie ein Krimi. Das Buch ist trotz seiner ausführlichen Erzählweise keineswegs behäbig, sondern äußerst spannend. Der Schurke ist eindeutig Harcourt Lowther, während die Opfer des Verbrechers gleichzeitig die Rolle der Detektive annehmen. Maude und Tredethlyn brauchen lange Zeit um zu erkennen, welche Rolle Lowther in Wahrheit spielt und welche Absichten er verfolgt. Sie rächen sich jedoch nicht und sorgen auch nicht für eine ausgleichende Gerechtigkeit, sondern lassen das Schicksal entscheiden. Lowther wird angesichts der moralischen Doktrin des Viktorianismus selbst zum Opfer des Alkohols, eine Rolle, die er seinem Freund Tredethlyn zugedacht hatte – und der er am Ende selbst zum Opfer fällt.

Überraschend ist Braddon Witz und Ironie in diesem Roman, aber auch die Ausgestaltung der Charaktere, denn meist sind ihre Figuren schablonenhafter und lebloser als in »Ein ungeschliffener Diamant«, Das Thema scheint ihr ein Anliegen zu sein, ein Stachel gegen die Oberflächlichkeit und Konvention der viktorianischen Ära, ein Statement gegen die Betulichkeit der Frömmelei und gesellschaftlicher Ressentiments. Mit diesem Roman gelingt es Braddon Mrs. Henry Wood Paroli zu bieten.