T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Otto Goldmann: »Die rote Maske. Eine seltsame Geschichte«, 1921
von Mirko Schädel



Otto Goldmann: Die rote Maske. Eine seltsame Geschichte, Berlin: Verlag »Lustige Gesellschaft« 1921, 156 Seiten, Umschlag von W. Helwig


Die rote Maske, 1921, ist ein überaus spannender und phantastischer Detektivroman, der sich zu Beginn gattungsgeschichtlich an Conan Doyles Sherlock Holmes und Emile Gaboriaus Lecoq abarbeitet. Der Roman berichtet von dem genialen Detektiv Dr. Cornelius, der in der Kleinstadt Bernstadt weilt, wo er zu einem verzwickten Kriminalfall hinzugezogen wurde – und der gerade erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Dr. Cornelius will sich gerade von seinem Kollegen Kommissar Voigtländer verabschieden, da dringt ein neues Rätsel in die Amtsstube. 

Die Tochter des Professors Hülsen, Ilse Hülsen, ist spurlos verschwunden. Statt ihrer findet man den Bräutigam der Dame von einem Kopfschuß verletzt unweit seines Hauses – ein glatter Schuß durch den Schädel, der allerdings zeitweise eine halbseitige Lähmung und Gedächtnisverlust zur Folge hat. Ilse Hülsens Bräutigam wird ins Krankenhaus geschafft und die aktive Suche nach Ilse wird teilweise eingestellt, da keine weiteren Spuren über den Verbleib der Gesuchten Aufschluß geben. Ilse Hülsen scheint laut Spurenlage freiwillig in ein Auto gestiegen zu sein, sei dann an dem Haus ihres Bräutigams vorbeikutschiert worden und danach nicht mehr gesehen. 

Mit dem Verschwinden Ilse Hülsens geht aber auch ein Diebstahl einher, denn Ilses Vater hatte für eine gemeinnützige Stiftungsarbeit 20.000 Mark in seinem Schreibtisch liegen, die an jenem Abend gestohlen worden sind. Auch ein weiterer Vorfall gibt zu denken, denn einer der Gäste an jenem Abend als Ilse Hülsen verschwand und das Geld gestohlen wurde, war offenbar ein Betrüger, der sich unter einer falschen Identität Zutritt zu der Abendgesellschaft Prof. Hülsens verschafft hatte – denn am Tag nach diesen verhängnisvollen Vorfällen stellt sich ein junger Mann bei dem Professor ein, dessen Identität in Form eines Empfehlungsschreiben gestohlen worden war – und, laut Prof. Hülsen, war am vorigen Abend ein junger, unbekannter Mann mit jenem gestohlenen Empfehlungsschreiben bei ihm zu Gast. 

Für den Diebstahl und das Verschwinden Ilses gibt es keine Zeugen und keine neuen Spuren, so daß Dr. Cornelius die Stadt Richtung Heimat verläßt. Noch Wochen und Monate forscht man ergebnislos nach Ilse Hülsen.

Nun macht der Autor einen Schnitt, dem Leser wird das Zirkus- und Varieté-Milieu vor Augen geführt. Zwei junge Damen, die am Trapez arbeiten, werden uns vorgestellt. Eine davon wird seit einiger Zeit von einer abstrakten Angst heimgesucht. Tatsächlich wird sie bei einem ihrer Auftritte den Eindruck haben, daß ihr eine innere Stimme befiehlt, daß sie das Seil verfehlen soll, ihre Hände sollen ins Leere greifen – und somit müßte sie in die Tiefe hinabstürzen. Doch gelingt es der Artistin im letzten Augenblick sich dieser Suggestion zu widersetzen. Auch erzählt der Autor von einer sensationellen Trapezkünstlerin, die ihre Identität verbirgt und unter dem Namen »Die rote Maske« allgemein bekannt ist. »Die rote Maske« ist eine Mystifikation und die zugkräftigste Varietekünstlerin überhaupt. Sie bleibt nie länger als für einen Auftritt in der jeweiligen Stadt – und das Publikum gerät in Hysterie, wenn die sagenhafte rote Maske ihr Gastspiel ankündigt. Die Auftritte der roten Maske werden zudem von rätselhaften Todesfällen flankiert, die diese Ausnahmekünstlerin noch mysteriöser erscheinen läßt – selbstredend tritt die Dame nur maskiert auf.

Diese Dame beschäftigt übrigens einen Agenten, einen ausnehmend häßlichen Mann namens Alexander Berti. Dieser Mann sitzt eines Tages im Publikum neben Kommissar Voigtländer, da »Die rote Maske« in der nahegelegenen Nachbarstadt mit einer Vorstellung gastiert. Voigtländer, aber auch das Publikum, sind wie verhext. Die Hysterie des Publikums erinnert an eine Massensuggestion, der Herzschlag der Beteiligten beschleunigt sich. Und Voigtländer beobachtet seinen seltsamen Sitznachbarn, der ihm eine merkwürdige Antipathie einflößt. 

Als es zu dem tödlichen Unfall einer Trapezkünstlerin kommt, bemerkt Voigtländer, daß sein Sitznachbar sich kaltblütig Notizen macht. Kurz darauf, als das Publikum dem Ausgang zustrebt, gerät Voigtländer zufällig zu einem Theaterprogramm, das Alexander Berti offenbar als Unterlage für seine Notizen benutzt hatte. Voigtländer entziffert die eingedrückte Notiz, die lediglich den Namen der verunglückten Künstlerin und deren Todeszeit enthält. Nun ist Voigtländers Neugier geweckt. Er beginnt zu ermitteln und erfährt, daß »Die rote Maske« als nächstes in seiner Heimatstadt Bernstadt auftreten wird. Er eilt nach Bernstadt, doch zuvor schickt er noch ein Telegramm an den Detektiv Dr. Cornelius nach Breslau, der ihm bei der Klärung des Falls behilflich sein soll.

Als Voigtländer in Bernstadt das Kommissariat betritt, ist Dr. Cornelius bereits rege mit dem Staatsanwalt im Gespräch. Der Detektiv überreicht gerade seine Notizen zu der roten Maske an den Staatsanwalt. Am Abend werden mehrere Polizisten das Varieté absichern, Dr. Cornelius verschafft sich am Bühnenrand einen Platz, so daß er das Publikum und vor allem Alexander Berti gut im Auge hat. Man rechnet mit einem weiteren Zwischenfall. Als zwei junge Trapezkünstlerinnen ihren Auftritt haben, kann Dr. Cornelius beobachten wie es geradezu aus Alexander Bertis Augen blitzt. Eine der Trapezkünstlerinnen stürzt ab, doch ein altgedienter und mit der Artistin befreundeter Clown wirft sich der Abstürzenden entgegen. Das Rückgrat des Clowns ist gebrochen, doch die Trapezkünstlerin überlebt den Sturz.

Dr. Cornelius, der dies alles gut beobachten konnte, wird selbst Opfer einer suggestiven Kraft, die ihn hindert das Unglück abzuwenden – er kann sich für einige Augenblicke nicht rühren. Als der Unfall jedoch geschehen ist, und Dr. Cornelius wieder Herr seiner Glieder geworden ist, flüchtet der ominöse Alexander Berti panisch. Der Flüchtende wird in die Enge getrieben und stürzt sich von einem Fenster in den Tod. Bei seiner Leiche entdeckt ein Beamter ein ledergebundenes, rotes Buch – das Tagebuch des Alexander Berti, das nun im letzten Drittel des Romans Revue passiert. Doch vorher wird der Leser noch davon in Kenntnis gesetzt, daß »Die rote Maske« niemand anderes ist als die vermißte Ilse Hülsen, die offenbar in einer tiefen Hypnose gefangen ist. Dr. Cornelius schläfert das Mädchen nun ein und befiehlt ihr, daß bei ihrem Erwachen alle Erinnerungen der letzten Monate ausgelöscht werden.

Dann beginnt der Autor mit dem Vortrag des Tagebuchs. Das nunmehr tote Scheusal Alexander Berti erzählt die Geschichte der vorangegangenen Monate und in kurzer Rückschau auch Fragmente seines Lebens und Leidensweges. Er berichtet, wie er schon frühzeitig Menschen seinem Willen untertan machte, besonders die Frauen, und unter diesen speziell die blonden Frauen, sind angeblich besonders anfällig für Suggestionen aller Art. Sie sind es, die sich seinem Willen mit Leichtigkeit vollkommen unterordnen. Ilse Hülsen hatte Berti bereits in Weimar gesehen, doch durch das geheimnisvoll waltende Schicksal sei er eines Tages in Bernstadt gelandet, wo er das gestohlene Empfehlungsschreiben eines Bekannten vorweisen konnte – und so in das Haus der Hülsens Einlaß erhielt.

Auch berichtet Berti von seiner Mutter, die eine temperamentvolle Italienerin war, eine Trapez- und Seilkünstlerin, die es genial verstand ihre suggestive Kraft zu nutzen. Bertis Mutter hatte den Plan gefaßt sich Kraft ihres Willens ein Seil zu spannen zwischen zwei Kirchtürmen – also ein gedachtes, abstraktes Seil, das sie tragen sollte. Bertis Mutter hatte überirdische Kräfte, und sie betrat das unsichtbare Seil und tanzte. Doch im Publikum saß eine Marquise O., eine ehemalige Artistin, die voller Neid ihre Mißgunst hinaufschreit. Das Ergebnis dieser kränkenden Bemerkung führt zu dem Sturz von Alexander Bertis Mutter von dem unsichtbaren Seil. So liegt die Mutter tot am Boden, während ihr Sohn dies alles mitansehen mußte – und dieser schwört nun das Schicksal seiner Mutter zu rächen. Der kleine Berti, noch ein Kind, tritt der Marquise O. gegenüber und tötet diese nur Kraft seines haßerfüllten Blicks und seines Willens. Darauf stürzt der junge Alexander Berti bewußtlos zu Boden und findet sich mit einem Nervenfieber im Krankenhaus wieder. Als ihn einer der Pförtner des Krankenhauses auslacht und sich zudem über den Tod seiner Mutter lustig macht, stößt Berti dem Mann ein Messer ins Auge. Durch diese Traumata motiviert, rächt er sich später an allen talentierten Seiltänzerinnen – die ihn offenbar an jene Marquise O. erinnern. 

Berti berichtet, wie er Ilse Hülsen nach Weimar und von dort in eine abgelegene Villa geschafft hatte, um dort in der Stille und Abgeschiedenheit deren Persönlichkeit und Psyche nach eigenem Gusto umzugestalten. Ilse erhält eine neue Identität, ihr Bewußtsein glaubt den Einflüsterungen Bertis – und sie tritt als »Die rote Maske« auf. Berti beginnt mit der Tötung von Ilses Konkurrentinnen. Er mordet allein durch die wellenförmige Übertragung seiner Gedanken und seines Willens. Als ein unbestimmter Verdacht gegen ihn aufkommt, beschließt Alexander Berti Ilse allein auftreten zu lassen, während er selbst in einer anderen Stadt sitzt und kraft seiner Gedanken eine konkurrierende und weitentfernte Trapezkünstlerin tötet, so daß seine Beteiligung an der Tat aufgrund seiner physischen Abwesenheit nicht bewiesen werden kann. Doch nach und nach stößt Alexander Berti auf mentalen Widerstand, ein anderer Mensch mit ähnlichen Gaben fordert Bertis Kräfte heraus, denn aus Breslau drängen Suggestivkräfte zu Berti, die ihn verwirren und ängstigen. In Breslau nämlich residiert der Detektiv Dr. Cornelius, der über ähnliche, mystische Kräfte verfügt. Nach dem 13. Mord endet das Tagebuch des irrsinnigen Alexander Berti.

Der Staatsanwalt, Kommissar Voigtländer und Dr. Cornelius beenden die Lektüre und müssen den Wahnsinn dieser Zeilen erst einmal verdauen. Verhalten und sprachlos nehmen sie die Geschichte zur Kenntnis. Ilse wird von Dr. Cornelius in das Haus ihres Vaters verbracht und langsam auf ihr Erwachen aus dem hypnotischen Schlaf vorbereitet. Die Verwirrung von Ilses Bräutigam wird nach dem Tod Bertis im Krankenhaus schlagartig enden. Er erhält umfänglich seinen Verstand und sein Erinnerungsvermögen zurück. Mit dem Tod Alexander Bertis endet auch dessen suggestive Macht. Die schwere Kopfverletzung von Ilses Bräutigam scheint nicht auslösend gewesen zu sein für die geistige Konfusion, sondern nur der fortwährende Wille des Alexander Berti und dessen suggestive Gaben. Das Paar wird im Haus Professor Hülsens zusammengeführt – und Ilse wird von Dr. Cornelius aus ihrem hypnotischen Schlaf erweckt. Damit endet der Roman und die seltsame Existenz Ilse Hülsens, die kurz zuvor noch als italienische Trapezkünstlerin gewirkt hatte. 

Das knappe letzte Drittel des Romans widmet sich den okkulten Tagebuchaufzeichnungen Alexander Bertis, der eine ebenso hanebüchene, wie bizarre Autobiographie enthüllt. Dieser Text ist mit vielen philosophischen und metaphysischen Fragen und Anmerkungen gespickt, das ganze naturgemäß in einer pseudowissenschaftlichen, expressiven Form. Berti schwankt zwischen Genie und Wahnsinn, doch seine suggestiven Kräfte werden nicht infrage gestellt, sondern als von der Mutter ererbt beschrieben. Goldmann hätte dieses letzte Drittel besser kompakter gestaltet, denn natürlich sind seine Ausführungen alles andere als glaubhaft. Dennoch muß man gleich mehrfach an Kleist denken, nicht nur an die Marquise von O., sondern vor allem an jenes Seil, das Gedankenseil, daß Bertis Mutter zwischen zwei Kirchtürmen spannt um darüber zu tanzen. Man denke an das Schwert Penthesileas, das sie sich beim Anblick ihres von ihr selbst in Raserei ermordeten Geliebten aus Schmerz und Reue schmieden will. 

Berti ist ein Einzelgänger, eine weltfremde Existenz, der getrieben ist von Visionen der Rache und der Gewalt. Auch auf Nietzsche wird verwiesen, denn, wie auch immer man den Menschen Alexander Berti bewerten mag, er ist ein geheimnisvolles Wesen, etwas zwischen Übermensch, Genius und Verbrecher, der aber auch zur Liebe fähig ist. Eines ist er aber sicherlich nicht, nämlich ein Spießer. Welche Absicht Berti mit der Transformation Ilse Hülsens verfolgt, ist unklar. Der Autor behauptet, Berti benötigte Ilse um seine Rache zu üben – doch das ist natürlich Unsinn. Ilse Hülsen wird die Identität einer Cousine Alexander Bertis übergestülpt, welchen Sinn das jedoch haben könnte, bleibt unklar. Vermutlich schwebt dem Autor vor, die tote Mutter Bertis in Ilse Hülsen auferstehen zu lassen. Lediglich die aufkeimende Liebe von Berti zu Ilse Hülsen läßt sich nachvollziehen, denn Berti ist ein Machtmensch, und er hält alle Fäden von Ilses Existenz in der Hand, dennoch erweist sich diese Liebe als einseitig. Soweit scheint die Macht Alexander Bertis nämlich nicht zu reichen, denn er schafft es nicht seiner Kreatur Liebe zu ihm einzuhauchen. Er suggeriert ihr nicht nur, wer sie ist, sondern auch was sie tun wird – doch an der Liebe scheitern alle suggestiven Kräfte Bertis. Ilse Hülsens Vergangenheit ist aus ihrem Bewußtsein gelöscht. Doch gelingt es Berti sogar intime Gedanken seiner verstorbenen Cousine auf Ilse Hülsen zu übertragen.

Der kleine Roman bricht in drei Teile, während der erste Teil noch ganz einer rationalen Detektion geschuldet ist, und Dr. Cornelius ein Zwitter aus Monsieur Lecoq und Sherlock Holmes zu sein scheint, wendet sich der zweite Teil des Romans langsam dem Okkulten zu. Der Leser spürt, daß es keine rationale Lösung dieses Falls geben kann. Ein Mann, der mit der Kraft seiner Gedanken und aus der Entfernung morden kann, läßt sich rational nicht mehr erklären. Sein Widersacher Dr. Cornelius scheint jedoch auch zu denen zu gehören, die über okkulte Techniken verfügen, wie zum Beispiel die Gedankenübertragung. Zwar nennt Goldmann dabei keinen Namen, doch weiß der Leser, daß Dr. Cornelius in Breslau lebt – und mit Hypnose vertraut ist. Alexander Berti kann jedoch die gegnerischen, medialen Kräfte in Breslau lokalisieren – und der Leser weiß diesen Hinweis zu adressieren.

Dieser dritte Teil soll dann eine plausible Erklärung der Ereignisse und der Motivation des Täters liefern, doch hat mich das am wenigsten überzeugt, denn es bleiben mehr Fragen offen als dem Leser eines Detektivromans recht sein kann. Dennoch war das Buch äußerst unterhaltsam und interessant, voller literarischer Anspielungen und mit einem sehr bizarren Schurken und eines noch bizarreren Motivs für dessen Untaten.