T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Robert Heymann: »Mr. Sanders Doppelleben. Aus dem Reiche der Illusion. Geheimnisse der übersinnlichen Welt Band 1 +2«, um 1903
von Mirko Schädel



Robert Heymann: Mr. Sanders Doppelleben. Aus dem Reiche der Illusion. Geheimnisse der übersinnlichen Welt Band 1 + 2, Illustrierte Ausgabe, Gotha: Verlagsanstalt und Druckerei H. Bartholomäus um 1903, 113 und 120 Seiten


Warum Heymann die erste Geschichte Mr. Sanders Doppelleben betitelt hat, ist unverständlich, denn das Doppelleben führte ja Mrs. Sanders, Mr. Sanders Gattin. Diese phantastische und in jeder Hinsicht bombastische Geschichte ist ein weiterer Beleg für den Zeitgeschmack unmittelbar nach der Jahrhundertwende, Exotismus, metaphysischer Schnickschnack, hehrer Pathos bis hin zum ausschweifendsten Kitsch sind die Regel. Mit der Datierung dieser Bartholomäus-Publikationen tue ich mich persönlich schwer, denn ich glaube, daß diese Heymann-Titel bereits wesentlich früher erschienen sind – und das mache ich an der rekonstruierten Verlagsgeschichte fest.

Aufgebaut ist die Geschichte nach dem Muster von Sherlock Holmes und seinem Dokumentar Dr. Watson – nur ist unser Sherlock Holmes ein okkulter Detektiv und Wissenschaftler, seiner Zeit um etwa 1000 Jahre voraus und mit Namen Professor Cook. Unser Watson ist namenlos. Die Erzählung beginnt mit einem Kameraschwenk auf das Interieur einer Wohnung in London, wo ein indischer Indienforscher namens Sirdar Nero haust, dem der namenlose Watson einen Besuch abstattet, weil er gehört hatte, was für ein interessanter Charakter jener Nero sei. Der Rest dieser Episode beschreibt ein prachtvolles, exotistisches Interieur und eine wunderschöne Frauenskulptur. Angesprochen auf jene Skulptur, erklärt Nero hymnisch, sie sei alles, was er auf Erden liebe.

Ein Schnitt – und unser Watson befindet sich im Laboratorium bei dem berühmten Professor Cook, der gerade mit seinen rätselhaften Instrumenten experimentiert und ebenso rätselhafte Anspielungen
macht – vage und oberflächliche Anspielungen okkulter, metaphysischer und philosophischer Art in einem Sprachduktus pompösen Kitsches.

Doch dann hebt sich ein Vorhang und ein gewisser Mr. Sanders dringt in die Intimität dieses Forschungszentrums, und zeigt alle Eigenschaften eines schweren Nervenzusammenbruchs. Er erklärt, daß seine Gattin am Vortag verstorben sei, und daß er glaube, das dieser Tod keine natürliche Ursache habe – es also ein Verbrechen sei, und Professor Cook das Verbrechen an seiner Frau rächen möge.

Professor Cook bittet seinen schwarzen Diener um seine Operationstasche, und die drei Herren fahren zu Mr. Sanders Domizil. Dort liegt die Tote präsentabel auf einem Bett, umgeben von schluchzendem Personal und Rosenblüten am Fuß des Möbels. Unser Watson stellt fest, daß diese Leiche die schönste Frau sei, die er je gesehen habe, und das Gott 1000 Jahre benötigt habe, um derartige Schönheit zu schaffen usw. pp.

Der Wissenschaftler findet ein achtlos beiseite gelegtes Spitzentaschentuch an dem er schnuppert, dann reißt er sämtliche Fenster auf und läßt frische Luft in den merkwürdig duftenden Raum ein. Professor Cook arbeitet mit einer elektrischen Herzrhythmus-Maschine, die er mit der Leiche verdrahtet und führt der Toten einen Schlauch ein, der dem Leichnam Sauerstoff in die Lunge pumpt. Auch ein seltsames Lichtgerät kommt zum Einsatz. 

Nach einiger Zeit rötet sich die Haut der Toten, die Atmung und der Herzschlag setzen wieder ein. Die
Scheintote schlägt die Augen auf und artikuliert den Namen »Nero«. Mr. Sanders offenbar starr vor Entsetzen als er die ersten Worte seiner Gattin vernimmt, starrt anschließend paralysiert ins Nichts. Scheinbar beglückt ihn die Reanimation dieses geliebten Wesens weniger, als man anzunehmen geneigt war.

Professor Cook und sein Begleiter verlassen das Haus und begeben sich zur Sirdar Nero, doch ein Diener erklärt, der Herr sei nicht im Hause. Cook läßt sich aber nicht abwimmeln, er betritt zielstrebig die Wohnung des Inders und schießt das Schloß einer abgesperrten Tür entzwei. Als sie die Tür öffnen, finden die Eindringlinge zwei Leichen, die des Sirdar Nero und eine weitere, weibliche Leiche, offenbar eine Doppelgängerin von Mrs. Sanders. Auch ein begonnener Liebesbrief an Mrs. Sanders wird aufgefunden, der wohl von dem Inder herrührt.

Darauf begeben sich der Professor und sein Adlatus zurück in die Gemächer des Wissenschaftlers, der allerdings sehr beunruhigt ist, so daß die beiden sich kurz darauf wieder zu Mr. Sanders aufmachen. Doch es ist zu spät. Wieder finden sich zwei Leichen, Mr. und Mrs. Sanders erschossen. Professor Cook ermittelt, Patienten tot.

Zumindest erklärt Cook noch, daß der Inder und Mrs. Sanders sich liebten und nach der buddhistischen Lehre ein neues Leben beginnen wollten, ein Leben nach dem Tode des letzteren. In diesem Leben begnügte sich Sirdar Nero mit einer Doppelgöngerin, daher das Taschentuch, das mit Gift behandelt war um Mrs. Sanders der Wiedergeburt zuzuführen. Doch wurde dieser Tod vereitelt. Warum sich Nero dennoch selbst tötete, bleibt mehr oder weniger offen. 

Als Mr. Sanders nach der Wiederauferstehung seiner Gattin bemerkt, daß diese einen anderen liebte, nämlich Nero, erschießt er die Reanimierte und dann sich selbst. Er fand einen vollendeten Liebesbrief jenes Inders, der unmißverständlich war.

Die Erzählung ist in ihrem Pathos und Kitsch wohl schwer zu überbieten, naturgemäß fließen die Décadence-Literatur und der Schauer- und Kolportageroman auch in diese alberne Geschichte ein, die nicht einmal sauber konstruiert ist. Auch das Motiv des Scheintodes – in Verbindung mit indischen Giften – hatten wir schon in Abenteuer des Marquis Montesquieu kennenlernen dürfen – und wird wohl häufiger von Heymann als Kolportageschnipsel in Erzählungen einmontiert worden sein. Dabei wissen wir, daß Heymann durchaus auch zu schreiben verstand, aber seine überaus opulenten, exotistischen, phantastischen und pathetischen Sujets können einem den letzten Nerv rauben. Er packt alles in die Geschichte hinein, und merkt dabei nicht, daß weniger doch eigentlich mehr ist.

Gelungen finde ich lediglich die Idee des Professors Cook, der wohl der erste deutsche Okkult-Detektiv ist, mit Heymanns Worten: Ein Wissenschaftler und Kriminalist – der Entwicklung um 1000 Jahre voraus. Welcher Leser würde derartiges nicht gern über sich sagen hören, stattdessen höre ich jedoch immer, ich sei entwicklungsgeschichtlich noch mit dem Neandertal verhaftet.

Von Zeit zu Zeit füge ich noch weitere Beiträge zu diesen Erzählungen hinzu. Nur widerstrebt es mir, mehrere dieser Professor Cook-Episoden hintereinander lesen zu müssen. Dazu benötigt man eine besonders tolerante Grundhaltung nebst einer reduzierten Kritikfähigkeit.