T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Max Uebelhör: »Der Ruf der Tiefe«, 1927
von Mirko Schädel



Max Uebelhör: Der Ruf der Tiefe, Berlin, München, Wien: Drei Masken Verlag 1927, 303 Seiten


Max Uebelhörs, 1881–1963, Der Ruf der Tiefe ist ein unkonventioneller, poetischer Kriminalroman, der in Paris spielt. Der Untersuchungsrichter Marcelin Desbarreaux ist erst vor kurzem nach Paris gerufen worden, denn er und sein Sohn Claude lebten vorher in einer französischen Provinzstadt. Die Desbarreauxs waren eine angesehene Familie, die jedoch durch einige schwarze Schafe im öffentlichen Bewußtsein derart herabgesunken war, daß man sich ihrer kaum zu erinnern wagte. 

Der Untersuchungsrichter Desbarreaux wird mit einem außergewöhnlichen Kriminalfall betraut, der sich offenbar um Taxichauffeure dreht, die ihre Opfer ausrauben und dann erfolgreich fliehen können. Unter anderem ist eine Dame um ihre auffallende Perlenkette gebracht worden, die aus je zehn weißen Perlen und je einer schwarzen Perle besteht.

Claude Desbarreaux, der an dem Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte und den Massenmord kennenlernte, hatte in Paris mit sehr kleinem Einkommen studieren müssen. Sein Vater nahm sich jedoch später seiner an und machte ihn zu seinem Assistenten. Schon während seiner Studienzeit hegte Claude ein andauerndes Interesse an den Niederungen des Volkes, den Armen, den Kriminellen, den Entwurzelten und Verzweifelten, den Huren, den Verrückten und den Aussätzigen. Nun, da er in geordneten Verhältnissen gemeinsam mit seinem angesehenen Vater eine Appartement  bewohnt, beginnt er sein altes Interesse neu zu entdecken und führt nebenher eine Art Doppelleben. Auch knüpft Claude mit seiner damaligen Freundin Rose aus seiner Studienzeit ein neues freundschaftliches Verhältnis an.

Rose, die für den schönen Bébert anschaffen geht und in tiefstem Elend lebt, scheint sich kaum entwickelt zu haben. Nachts schleicht Claude aus der väterlichen Wohnung und begibt sich in die Quartiere des Elends und der Verworfenheit – bis er sich zu Rose begibt und dort übernachtet.

Tagsüber assistiert Claude seinem Vater und läßt sich von diesem diktieren. Als der alte Desbarreaux seinem Sohn die Beschreibung eines geraubten Perlencolliers diktiert, das die Taxichauffeure erbeutet haben, fälscht Claude diese Mitteilung in der Form, das er aus der Perlenkette, die abwechselnd aus zehn weißen und einer schwarzen Perle besteht, eine Perlenkette macht, die aus zehn weißen und je einer roten Perle besteht – denn Claude hat an seiner Rose genau dieses Perlencollier gesehen.

Rose, der er mehr kameradschaftlich zugeneigt ist, scheint also mit den Kriminellen in Verbindung stehen. Tatsächlich ist der schöne Bébert einer dieser Räuber. Als Claude durch seine Arbeit bei seinem Vater auch von einem weiblichen Spitzel erfährt, die mit Bébert in näherem Kontakt steht, erzählt er diesen Umstand auch Rose, die er davor warnt das Collier weiterhin öffentlich zu tragen. Er sorgt sich um Rose und mietet für sie eine unscheinbare Absteige. Doch Rose wiederum warnt ihren Freund Bébert, der angesichts der Spitzeldienste seiner Bekannten in Panik gerät. Bébert lauert dieser Dame auf, lockt sie in seine Absteige, tötet sie mit einem Messer und zerstückelt die Leiche, deren Einzelteile er in ganz Paris verteilt. Als er nach dieser Tat abtaucht, gerät er in Verdacht und man beginnt nach ihm zu fahnden.

Der alte Desbarreaux kommt in seinem Taxichauffeur-Fall nicht weiter, auch der sensationelle Mord des Bébert gibt viele Rätsel auf, denn Béberts Tat läßt sich nicht beweisen. Desbarreaux bittet einen alten Kriminalbeamten, der an Vidocq erinnert, um Hilfe. Dieser Beamte rät Desbarreaux zu einer Razzia, die auch durchgeführt wird, aber keinerlei Ergebnisse zeitigt.

Bébert hält sich verborgen, doch sein ihm ähnlich sehender Halbbruder wurde zu neun Monaten Gefängnis wegen Hehlerei verurteilt – konnte aber dem Gefängnistransport entfliehen, und Bébert kommt auf die geniale Idee sich statt seines Bruders im Gefängnis als reuiger Sünder zu melden um sich die nächsten Monate erfolgreich seiner Verfolgung zu entziehen.

Rose jedoch, die erfolgreich eine Karriere als Varietekünstlerin und Sängerin anstrebt, liest von dem reuigen Sünder in der Zeitung, erkennt ihren Bébert auf einer Fotografie – und um ihn endgültig los zu werden, schreibt sie einen anonymen Brief an die Pariser Polizei, wo sie Bébert denunziert indem sie der Polizei verrät, wer sich da unlängst ins Gefängnis geflüchtet hatte.

Währenddessen geht Claude weiter seiner Lust an dem Untergang nach, er läßt sich zunehmend in den übelsten Vierteln und mit den elendigsten Charakteren treiben. Rose geht derweil ihren eigenen Weg, ihr gesellschaftlicher Aufstieg als gefeierte Künstlerin schreitet voran.

Bébert wird mittels eines Tricks zu einem unfreiwilligen Geständnis verführt, angeklagt und zum Tode verurteilt. In Béberts Nachlaß findet sich eine Grabinschrift, ein kleines Gedicht aus der Feder des Mörders, das die Zeitungen veröffentlichen und so den Frauenmörder zu einem Dichter hochstilisieren. Umgehend erklärt ein Kreis von Dichtern Bébert zu ihrem Vorbild, dem sie lyrisch nacheifern.

Paris liegt mittlerweile Rose zu Füßen, denn als sie Béberts Gedicht vertont ist die Resonanz auf ihre Gesangskunst auf dem Höhepunkt, sie erhält die höchsten Weihen des Publikums. Und Claude? Er versinkt in dem Milieu der Bettler und Verworfenen, der Unglücklichen und Benachteiligten – und er ist glücklich.

Uebelhörs Ansatz ist seine große Liebe zu Paris und die Lebensbedingungen dieser Stadt. Sein Kriminalroman ist eine literarische, ausdrucksstarke und atmosphärische Reise durch die französische Metropole. Der Held der Geschichte vertauscht seine sichere, bürgerliche Existenz, seine wohlgeordnete und von seinem Vater fürsorglich begleitete Zukunft mit dem ungewissen und namenlosen Elend der Verworfenen und Verlorenen – und findet damit seinen Frieden. Möglicherweise ist die Interpretation dieser Verweigerung in seiner Weltkriegserfahrung zu suchen. Und ganz sicher handelt es sich bei Claude um Uebelhör selbst, der gewisse Parallelen aufweist. Claude Kriegsverletzung zum Beispiel, denn Uebelhör verlor an der Front ein Auge.

Die traumwandlerische, sich selbst kaum reflektierende Rose, die für den schönen Bébert auf den Strich ging, entwickelt sich langsam zu einer selbstbewußten Künstlerin, die ihre Traumata in die Kunst einfließen läßt.

Uebelhör widersetzt sich den Geflogenheiten der Spannungsliteratur auf eine erstaunliche und eigenwillige Weise, er bedient die Erwartungen des Publikums nur gedämpft, dennoch ist diese literarische Milieustudie äußerst spannend und gekonnt umgesetzt. Ich bin mir sicher, daß Claudes Sehnsucht nach dem Verfall aus seiner Kriegserfahrung resultiert und daß Uebelhör selbst viel mehr mit Claude verbindet, als man meinen könnte.