T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

J. D. H. Temme: »Es schmerzt nicht«, um 1884

von Mirko Schädel


J[odokus] D[onatus] H[ubertus] Temme: Es schmerzt nicht, Berlin: Wesemann, um 1884, Collection Wesemann Band 1, 156 Seiten


J. D. H. Temme, 1798–1881, ist der Vielschreiber von deutschen Kriminalnovellen und -romanen im 19. Jahrhundert. In meiner Datenbank finden sich derzeit 125 Titel von Temme, es können aber durchaus noch ein paar mehr gewesen sein. Irgendwo las ich einmal einen Kommentar eines begeisterten Lesers von Temme, der dessen Stil und sprachliche Gewandtheit pries. Ich kann mich dem leider nicht anschließen, denn die meisten Krimis von Temme sind ziemlich langweilige und äußerst umständlich geschilderte Kriminalfälle, die wenig sprachliche oder stilistische Eleganz oder Phantasie aufweisen. Temme ist ein in sich geschlossener, routierender und konventioneller Erzähler, der eine altertümelnde, rationale Perspektive einnimmt, die an Law and Order erinnert oder dessen Erzählungen mit einer moralischen Nemesis enden. Als Jurist, der er war, mag diese Perspektive begründet sein, doch für die Leser ist sie ermüdend und erschlöpfend.

Es schmerzt nicht, 1885, ist eine überaus umständliche Erzählung eines Eifersuchtsdramas, das zum Mord geführt hat. Der Gutsbesitzer Boland erschießt während des Geburtstagfestes seiner Gattin einen vermeintlichen Konkurrenten im Park seines Anwesens und im Beisein seiner Frau. Die Eifersucht, ob nun begründet oder nicht, führte zu diesem Verbrechen. Anschließend begibt sich das Ehepaar in seinen feinen Kleidern auf die hektische Flucht ins angrenzende russische Reich.

Die eigentliche Geschichte wird auf schier endlosen Seiten umständlich und verquast dargelegt und nach knapp 100 Seiten fühlt sich der Autor bemüßigt alles vorangegangene noch einmal zusammenzufassen und in knapp zwei Absätzen darzulegen. Dabei hätten jene zwei Absätze durchaus gereicht, die vorangegangenen 100 Seiten wären verzichtbar gewesen.

Etwas interessanter ist dann der weitere Verlauf der Flucht und das sich verändernde Verhältnis des Ehepaares. Zunächst fliehen die beiden über England nach Frankreich und von dort in die Schweiz. In Genf halten sich die Flüchtigen einige Zeit auf, dort gibt es eine illegale Spielbank, die Boland besucht. Doch dort befinden sich auch Detektive, und das Paar flüchtet von Genf von den Häschern verfolgt ins angrenzende Italien. Diese Flucht geht einige Jahre so weiter, das Paar pendelt zwischen Frankreich, Italien und Deutschland, während sich Boland offenbar als Falschspieler verdingt und mit Gaunern verkehrt – und das Paar lebt unter fortwährender Angst vor Entdeckung und nutzt fortlaufend falsche Identitäten.

Während der ganzen Zeit ist das Verhältnis des Paares zueinander von Haß auf der einen, und von Furcht auf der anderen Seite geprägt. Boland fühlt sich von seiner Frau betrogen und sie ist Schuld an seinem begangenen Mord, seine Frau soll demzufolge an dem Unglück, das sie hervorgerufen hat, leiden. Ihr Gatte hat bestimmt, sie solle durch ihn das Leben mit Qualen führen. Während Bolands Gattin Furcht vor diesem finsteren, zornigen Gatten hat, der grundlos einen Mord beging.

Am Ende der Erzählung faßt das Paar wieder Vertrauen zueinander und sie beschließen einen einsamen, abgeschiedenen Ort zu suchen, wo sie fortan unbehelligt leben können. Sie werden im Sauerland fündig, dort erwerben sie einen Bauernhof und leben in einer Bauernschaft mit sieben Höfen. Doch nach einiger Zeit meldet sich das Gewissen bei Boland, der zusehens abmagert und verfällt, offenbar von seinem Gewissen geplagt – und seine Frau wünscht sich ihren gemeinsamen Tod. Ein Kind, das geboren wird und gleich bei der Geburt stirbt, läßt das Paar zusätzlich verzweifeln. Eines Sonntags verschwindet das Ehepaar Boland spurlos und taucht niemals wieder auf. Kurz vor ihrem Verschwinden erzählt Bolands Gattin noch die Geschichte eines römischen Liebespaares, das gemeinsam Selbstmord beging. Die Römerin ergreift einen Dolch, den sie sich in die Brust rammt, wobei sie den Dolch mit den Worten aus ihrem Leib zieht und ihn mit schwindender Kraft ihrem Liebhaber reicht: »Es schmerzt nicht.«

So groß die Zahl von Temmes Novellen und Romanen auch sein mag, ich kann wenig mit diesen Texten anfangen. Aber ich konnte feststellen, daß die frühen Arbeiten Temmes wesentlich interessanter zu sein scheinen, als die späten, routinierten Criminalnovellen. Temme begann seine Schriftsteller-Karriere als Verfasser zweier anonym erschienener Schauerromane.