T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Otto Goldmann: »Der Überdetektiv und andere Novellen«, 1918
von Mirko Schädel



Otto Goldmann: Der Überdetektiv und andere Novellen, Leipzig: Xenien-Verlag 1918, 98 Seiten


Der Überdetektiv, 1918, ist eine Parodie auf Conan Doyles Sherlock-Holmes-Geschichten. Jahrelang war Dr. Watson in Indien und hat geholfen, 14 Aufstände niederzuschlagen. Da Sherlock Holmes nur ungern korrespondiert, hat Watson nur gelegentlich etwas von seinem berühmten Freund aus den Zeitungen erfahren. Watsons erster Weg daheim in London führt selbstverständlich in  die Bakerstreet 221 b, doch das ehemals bescheidene Mietshaus ist einer Mischung aus Palast und Festung gewichen mit Schießscharten statt Fenstern, hinter denen Maschinengewehre stecken. Eine Zugbrücke wird hinabgelassen, Dr. Watson wird mittels einer Neonlicht-Schrift aufgefordert, den Lift zu betreten, dessen Tür sich im Nu öffnet. Ohne daß Watson auf einen Etagenknopf drücken müßte, jagt der Fahrstuhl seinem Ziel entgegen. Dr. Watson betritt aufwendige Laboratorien, irgendwoher vernimmt er die Töne eines Orgelspiels, er durchschreitet eine Bibliothek von 15.000 numerierten Bänden von ­Holmes’ Tagebüchern, dann sieht er seinen Freund an einer riesigen Orgel mehr schlecht als recht spielen.

Holmes wendet sich um, er wirkt müde, seine Augen scheinen trübe, sein Körper aufgeschwemmt. Dr. Watson denkt bereits an Drogenmißbrauch. Nach einigen Sätzen, die die alten Freunde wechseln, zeigt Sherlock Dr. Watson seine neueste Erfindung. Es handelt sich um eine Art Gedankenkino. Watson wird aufgefordert, die beiden Handgriffe der Maschine zu erfassen, dann entrollt sich eine Leinwand, und nachdem Holmes einige beruhigende Sätze gesagt hat und Watson auffordert, sich auf etwas zu konzentrieren, fließt ein leichter Strom durch Watsons Körper, und auf der Leinwand erscheinen Bilder aus dem tropischen Indien und von einem Gemetzel, an dem Watson beteiligt war. Watsons Schrecken ist groß, als er seinen eigenen Gedankenbildern auf der Leinwand folgt, und seine Aufregung nimmt überhand. Er bittet Holmes, das Gerät sofort auszuschalten, und Holmes kommt dem Wunsch seines Freundes umgehend nach.

Dann erklärt Holmes, daß sehr bald ein Klient eintreffen wird, ein Bankdirektor, dessen Tochter von zwei Gaunern entführt wurde. Als tatsächlich der Bankdirektor und verzweifelte Vater erscheint, erklärt Holmes diesem, was ihn hergeführt haben müsse, wie die Gauner aussähen und welches Alter sie hätten und daß der Vater in zwei Tagen wiederkommen möge, dann habe Holmes seine Tochter aus den Krallen der Verbrecher befreit. Nachdem der ­Klient verunsichert wieder mit dem Fahrstuhl entschwunden ist, zieht sich Holmes kurz hinter einen Vorhang zurück und bittet Watson zu warten. Doch Sherlock taucht nicht wieder auf. Ein verhutzeltes Männchen, offenbar ein Ofensetzer, tritt in das Gemach, und auf dessen Frage,  ob Sherlock Holmes zu sprechen sei, entgegnet Watson nur, Holmes sei außer Haus.

Als der Mann wieder gegangen ist, wird Watson langsam klar, daß der Ofensetzer Sherlock Holmes in Verkleidung gewesen sein muß – und Watson stellt fest, daß er in diesem Raum eingeschlossen ist. Erst am nächsten Tag läßt sich sein Freund Holmes wieder sehen. Holmes, vollkommen verdreckt und etwas verkohlt, zieht sich kurz hinter einen Vorhang zurück – und taucht wie neugeboren im Frack wieder vor Watsons Augen auf.

Holmes erklärt, er habe sich bei den Gaunern im Kamin versteckt. Er habe sich selbst dort eingemauert und aus den Gesprächen der Entführer erfahren, wo sich das Mädchen befindet. Da der Abend kühl war, haben die beiden Gaunern den Kamin entzündet, so daß Holmes nur knapp dem Tode entkam. Das Mädchen sei in San Maura, da aber Holmes über keinerlei geographische Kenntnisse jenseits des Kanals verfügt, besucht Watson sämtliche Bibliotheken in London und bringt Karten von Spanien mit, in denen die beiden Freunde die Insel San Maura finden.

Am nächsten Morgen in der Frühe chartern Holmes und Watson ein Flugzeug, um nach San Maura zu fliegen. Dort gibt es jedoch keine Landebahn, und zum Wassern ist das Fluggerät nicht geeignet. Also wirft Holmes einen Anker, der sich in einem Turm verheddert, so daß das Flugzeug langsam um den Turm kreist und das Seil sich immer kürzer werdend um den Turm wickelt. Als der Abstand immer geringer wird, wirft Holmes eine Strickleiter hinaus und hangelt sich abwärts zu einem Turmfenster. Watson bleibt derweil im kreisenden Flugzeug sitzen.

Nach wenigen Augenblicken taucht Holmes mit dem entführten Mädchen auf und wirft es Dr. Watson in den Schoß. Dann besteigt Holmes das Cockpit und dreht das Flugzeug in die entgegengesetzte Richtung, so daß die Leine sich langsam wieder abspult. 

Am Ende der Geschichte sitzen der Bankdirektor und seine Tochter bei Sherlock Holmes, während Sherlock die Orgel spielt und seine Braut, des Bankdirektors Tochter, die Noten wendet. Der künftige Schwiegervater räkelt sich im Clubsessel, und Dr. Watson ist mit der Niederschrift dieses Abenteuers beschäftigt.

Das Buch soll auch deshalb so selten sein, weil offenbar eine Brandbombe auf das Lager des Xenien-Verlags gefallen sein soll und den gesamten frischen Bestand der Bücher vernichtet hat. Aber die Autorenexemplare, die meist automatisch nach dem Druck an den Autoren geschickt werden – in der Regel ein Dutzend Exemplare – haben wohl überlebt. Denn dieses Büchlein ist auch von Goldmann gewidmet und signiert, so daß es sich hier sicher um ein solches Autoren- bzw. Belegexemplar handelt.