T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Friedrich Glauser: »Matto regiert«, 1936
von Mirko Schädel



Friedrich Glauser: Matto regiert, Zürich: Jean Christophe Verlag 1936, 208 Seiten


Glausers Roman Matto regiert, 1936, ist ein vieldeutiger, poetischer Kriminalroman, der in einer Irrenanstalt spielt. Matto ist der italienische Ausdruck für »verrückt«, und damit ist schon einiges erklärt. Während Thomas Mann in seinem Roman Der Zauberberg den Helden Hans Castorp in eleganten, verschachtelten Sätzen in die einzigartige Atmosphäre einer Lungenheilanstalt in Davos führt, läßt Glauser seinen nach allgemeingültigen Maßstäben gescheiterten Helden Wachtmeister Studer durch die nach Apotheke, Bodenwichse und Staub riechenden Flure einer gewöhnlichen Irrenanstalt wandeln – auf der Suche nach einem entflohenen Patienten und einem verschwundenen Anstaltsdirektor – aber möglicherweise auch nach sich selbst. Es gibt wohl nicht allzu viele Romane, die in Irrenanstalten spielen – mir fällt nur noch das großartige Buch von Ken Kesey Einer flog über das Kuckucksnest, 1962, ein, das aber eine andere Intention verfolgt – obgleich es auch da gewisse Parallelen zu Glausers Roman gibt.

Glausers fiktive Irrenanstalt ist im Kanton Bern gelegen und scheint eine weitgehend reformierte Anstalt zu sein, wo die Patienten statt in Lethargie sich selbst überlassen zu werden, mit einer Arbeitstherapie konfrontiert werden, die ihnen einen geregelten Tagesablauf garantieren. Dazwischen können die Patienten psychoanalytische und therapeutische Dienstleistungen in Anspruch nehmen, denn seit der junge Co-Direktor Dr. Laduner in der Anstalt wirkt, hat sich einiges zum Positiven verändert. Dr. Laduner, der undurchsichtige, mit einem maskenhaft erstarrten Dauerlächeln gesegnete Psychiater, war es, der den Wachtmeister Studer zu Rate gezogen hatte, denn die beiden kannten sich aus früheren Tagen in Wien, wo Studer ein Heim für schwererziehbare Jugendliche besucht hatte in welchem Laduner damals in einem experimentellen, da gewaltlosen (!) Erziehungsprojekt mit Heranwachsenden gearbeitet hatte – in einer Zeit also, in der in Deutschland noch Prügelstrafe und Mißbrauch an der Tagesordnung war.

Dr. Laduner war besorgt, denn zum einen war ein Patient spurlos aus der Anstalt verschwunden, während parallel dazu der Direktor nicht mehr auffindbar war. Studer wird von Laduner in die Anstalt eingeführt und verschiedenen Figuren vorgestellt, auch erhält Studer die nötigen Schlüssel um sich selbständig in dem weitläufigen Gebäude und den verschiedenen Abteilungen bewegen zu können. Die Irrenanstalt wird zu einem Mikrokosmos menschlicher Abgründe.

Dabei stößt Studer auf recht interessante Charaktere und die Grenzen zwischen gesunden und kranken Menschen verwischen sich zusehends. Mehrere Personen berichten Studer von einem Streit, den der Direktor in der Nacht seines Verschwindens gehabt habe – und gegen 1.30 Uhr habe es einen Schrei gegeben, so jedenfalls verschiedene Zeugen, die diesen Schrei in der Nacht gehört haben wollen.

Der Direktor der Anstalt findet sich dann auch recht schnell, vielmehr dessen Leiche, die im Heizungskeller am Fuße einer Leiter von Studer entdeckt wird, und die nun von einem Anstaltsarzt obduziert werden soll. Genickbruch. Unendlich langsam wird der Leser mit Mattos Reich vertraut gemacht, und man kann den Eindruck gewinnen, daß die erwähnten Verbrechen in diesem Roman keine Verbrechen im eigentlichen Sinne sein können, sondern viel mehr seelische Affekthandlungen, die aus dem Unbewußten herrühren und nur deshalb ausgeführt werden, weil der Mörder keine ausreichende Hemmung mehr verspürt. So oder ähnlich erklärt zumindest Dr. Laduner dem Studer einen Kindsmord, den jener geflohene Patient an seinem eigenen Säugling begangen hat. Schizoider Psychopath, meint erklärend – und auch entschuldigend der Dr. Laduner.

Die verschiedensten Indizien und Beweisstücke werden von Wachtmeister Studer mühselig gesammelt, dabei rekonstruiert Studers Hirn immer wieder Wortfetzen, die er im Verlauf der Befragungen und Gespäche aufschnappt hatte. Glauser schert sich nicht um die Gesetzmäßigkeiten des Kriminalromans, er reproduziert keine handelsüblichen Methoden oder literarische Techniken, er bedient sich auch kaum stereotyper Versatzstücke, derer sich andere Autoren so gern bedienen, und so schafft Glauser damit eine Art poetischen Kriminalroman, der genaugenommen nur ein etwas eigenwilliges Vehikel des Kriminalromans kopiert um doch etwas anderes und neues zu schaffen. Der klassische Krimileser wird vielleicht etwas enttäuscht sein, aber angesichts der Vielschichtigkeit des Romans ist diese Enttäuschung ein kleines Übel.

Glausers Held, der dann irgendwann die verschiedenen rätselhaften Vorkommnisse und Verbrechen glaubt aufgeklärt zu haben, muß am Schluß erkennen, daß er selbst einem Lügengewebe und einer Scharade zum Opfer gefallen ist, und das selbst Geständnisse von Angstneurotikern offenbar nicht viel Bestand haben.

Auch Mattos Reich, das sich über die ganze Welt zu erstrecken scheint, wird zu einer Metapher, als im Rundfunkgerät eine Rede Adolf Hitlers gesendet wird, nämlich in der Form einer Art Selbstvergewisserung dieses Psychopathen mit massensuggestiver Wirkung – und sich dabei ein beiläufiger Gedanke Glausers zu dem Kommentar formt, daß dieser Matto/Hitler, wenn man ihn früh genug psychiatrisch untersucht hätte, nie in diese mächtige Position geraten wäre.

Glausers bzw. Studers Perspektive ist die eines empathischen Beobachters, der sich mit allen Figuren zu identifizieren sucht, dabei berücksichtigt er in hohem Maße die Entwicklung und Geschichte seiner Figuren, ganz so, als sei er selbst ein Psychoanalytiker, wie der Dr. Laduner. Nur ein gerüttelt Maß an künstlicher Autorität oder grobe Unhöflichkeit provozieren Studers Nerven, doch bleibt er äußerlich immer ruhig und besonnen und gibt sich keine Blöße.

Matto regiert beschäftigt sich mit vielen Fragen der damaligen Zeit, religiöse, psychiatrische, psychologische, politische, moralische und gesellschaftliche Themen werden mehr oder weniger deutlich angerissen. Das Buch wartet sowohl mit grotesken, als auch mit humorvollen Passagen auf. Studer beobachtet und denkt in seiner behäbigen Art, er weiß genau welchen Ton er anschlagen muß, wenn er mit den verschiedenen Charakteren spricht. Sein Feingefühl sagt ihm auch, ob es geraten ist mit einer Person in Mundart zu kommunizieren, oder ob man sich besser des Schriftdeutschen bedient. Dabei wirkt das Schriftdeutsche immer fad, steril und von Machtinteressen beherrscht. Es ist die Sprache der Behörden, der Autoritäten und der Intellektuellen – Mundart wird stattdessen von Menschen bevorzugt.

Die Atmosphäre ist der Kern von Glausers Erzählweise, das Konstrukt des Kriminalromans scheint nur übergestülpt zu sein um eine Spannung zu erzeugen, die ausreicht um Themen zu berühren, die gewöhnlich wenig bis gar keinen Raum in einem kolportageartigen Kriminalroman einnehmen. Überhaupt ist mit dem Begriff der Kolportage bei Friedrich Glauser nichts anzufangen. Er entzieht sich fast allen Strömungen und Einflußsphären gewöhnlicher Spannungsliteratur.

Zwar wird am Ende der Mörder des Direktors der Irrenanstalt gefaßt, doch entkommt dieser kurz darauf um von einem Auto erfaßt zu werden und sich damit der irdischen Gerechtigkeit zu entziehen. Und Studer wird von Dr. Laduner über die tatsächlichen Zusammenhänge der Verbrechen belehrt. Studer selbst ist offenbar wieder einmal gescheitert, zumindest in der schnöden Auffassung einer Welt des Rationalismus. Aber der Leser weiß durchaus die Haltung Studers, seine Empathie und Redlichkeit, seine Unabhängigkeit und Geradlinigkeit zu würdigen. Und Studer beweist, daß er nicht korrumpierbar ist, obgleich er nach einem Versuch der Bestechlichkeit seinen störrischen Widerstand fast bereut und sich fragt, ob es nicht besser und bequemer für ihn gewesen wäre dieser Versuchung nachzugeben.

Die Figuren, die Glauser zeichnet, besonders die Irren, scheinen aus eigener Anschauung porträtiert worden zu sein, insbesondere der rothaarige Gilgen. Glausers Vorwort weist zwar ausdrücklich darauf hin, daß dieser Roman kein Schlüsselroman sei und also keinen Bezug zu realen Personen habe, aber das scheint mir eher eine Schutzbehauptung zu sein. Nicht zuletzt, weil Glauser selbst einige Zeit in psychiatrischen Anstalten lebte, und vor allem aufgrund der sympathischen und lebendigen Eigenschaften seiner Figuren, die alles andere als papiern sind und auch keinerlei klischeeartigen Ballast zur Schau tragen, so daß man das Gefühl bekommt, Glauser habe seine Figuren nach dem Leben gezeichnet.

Glausers Held Wachtmeister Studer hat eine unterschwellige, anarchische Neigung, die erfrischend ist, denn trotz seiner Langsamkeit und Behäbigkeit ist Studer alles andere als ein pickelhaubentragender Wachtmeister deutscher Fasson, sondern ein eigenbrötlerischer, freigeistiger Schweizer – und damit eher mit Simenons Maigret verwandt, als mit irgendeinem deutschen Polizeibeamten. Die Schweizer haben ja einige sehr knorrige und geradezu verwunschene Künstler hervorgebracht, man denke an Panizza, Brupbacher, Robert Walser oder die Zürcher Institution des Dadaismus. Friedrich Glauser ist einer von diesen spannenden Künstlern und Charakteren.

Glauser verzichtet völlig auf die obligate Wiederherstellung der Ordnung, trotz des überführten und verstorbenen Mörders stellt sich beim Leser keinerlei Beruhigung ein. Im Gegenteil, denn der Autor macht uns klar, daß in jedem von uns ein Mörder steckt, der jederzeit, wenn die Umstände entsprechend sind, zuschlagen könnte. Und jeder von uns besitzt die gnadenvolle Gabe des Irreseins. Eine Idylle, wie in so vielen anderen Kriminalromanen, stellt sich am Ende des Romans keineswegs ein, stattdessen dürfte der Leser beunruhigter sein nach der Lektüre dieses einzigartigen Romans. Doch was kann es besseres geben als der am Ende der Lektüre beunruhigte Leser, der mehr Fragen hat, als er Antworten geben könnte.