T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Kay Jens Petersen, das ist Günther R. Lues: »Sturm über den Schären«, 1941

von Mirko Schädel


Kay Jens Petersen, das ist Günther R. Lues: Sturm über den Schären, Berlin: Auffenberg Verlag 1941, AV-Kriminal-Roman, 256 Seiten


Kay Jens Petersen, das ist Günther Reinhold Lues, später Gunther R. Lys, 1907–1990, war ein deutsch-israelischer Schriftsteller und Antifaschist, der in Hamburg als Sohn eines Schauspielerehepaars geboren wurde und in Haifa starb. Er erhielt von der Reichspressekammer Berufsverbot als Fotograf und veröffentlichte Kriminalromane unter dem skandinavisch klingenden Pseudonym Kay Jens Petersen. Zeitweise im KZ Sachsenhausen bzw. Lieberose überlebte er den Nationalsozialismus und verließ später enttäuscht die DDR. Erst lebte Lues einige Zeit in West-Berlin, dann arbeitete er für den NDR in Hamburg. Als er seine zweite Ehefrau heiratete, zog er zu ihr nach Israel.

Sturm über den Schären, 1941, ist ein ausgezeichneter und angesichts seiner Entstehungszeit hervorragender whodunit, der unter den deutschsprachigen Kriminalromanen während des Naziregimes seinesgleichen sucht. Es handelt sich dabei um einen extrem spannenden Schmöker, dessen Handlung von lebenden Figuren bevölkert wird und dessen Atmosphäre eindringlich und überzeugend geschildert wurde – der Roman hebt sich wohltuend von den sonst so langweiligen und stümperhaft geschriebenen Kriminalromanen während des Naziregimes ab.

Ein lange in Siam, dem heutigen Thailand, lebender Schwede kehrt eines Tages in die schwedische Heimat zurück. Nicht weit von Stockholm entfernt und doch in den ländlichen Regionen der Schären steht ein altes Raubritterschloß, das nun von Kapitän Aslagson und seinen zwei Stiefkindern bewohnt wird – neben einigen exotischen Bewohnern, die als Dienstboten und Hauslehrer tätig sind.

Ein junger, darbender Rechtsverdreher wohnt kümmerlich in seiner schäbigen Kanzlei in Stockholm und hofft auf zahlungskräftige Kundschaft, die sich nicht einstellen will. Er schläft und wohnt nunmehr seit Monaten in seiner Kanzlei, die über ein Schlafsofa und einen Kleiderschrank verfügt und träumt von Helga, seiner Jugendliebe, die ihn angesichts seiner unzulänglichen Karrierechancen wohl abgeschrieben hat. Doch eines Tages erhält er ein merkwürdiges Angebot von Kapitän Aslagson, das er beim besten Willen nicht ablehnen kann. 

Hansen soll sich zu jener Adresse in den Schären begeben und auch seine alte Schußwaffe mitbringen, ebenso seinen frisch erworbenen Notarsstempel und andere Habseligkeiten, was vermuten läßt, daß Kapitän Aslagson über Rechtsanwalt Hansens private Verhältnisse über alle Maßen vertraut sein muß – was sich der Rechtsanwalt Olav Hansen nicht recht erklären kann. Doch eine Ablehnung dieses Angebots kommt in anbetracht seiner beruflichen Misere selbstverständlich nicht in Frage, und so zieht es ihn in die Schären. Auch das versprochene Honorar ist verlockend, nur ist sich Hansen nicht klar, welche Aufgabe er dort wahrnehmen soll.

Als Hansen in Aslagsons Haus ankommt, ist sein Auftraggeber bereits ermordet worden, zumindest hat es den Anschein, daß Aslagson nicht eines gewöhnlichen Todes starb. Hansen nimmt die Dinge in die Hand, er informiert einen Amtsarzt und benachrichtigt die Polizei. Ein intelligenter Staatsanwalt, der gerade in der Nähe seine Ferien verbringt, nimmt sich der Sache an. Zahllose Verdachtsmomente entwickeln sich und werden ebenso schnell wieder fallengelassen. Der Kriminalkommissar Moll trifft mit einigen Assistenten, der Spurensicherung und einem Gerichtsmediziner am Tatort ein. Man entdeckt eine zweite Leiche im Schacht des Kamins, ein bekannter Einbrecher, bei dem sich acht falsche Rubine in den Taschen finden.

Zudem gibt es ein aus der Niederlande stammendes Hausmeisterpaar, das außerst verdächtig erscheint. Außerdem befinden sich in dem Hause die zwei siamesischen Stiefkinder des Ermordeten von neun und sechzehn Jahren, ein philosophisch interessierter Hauslehrer, eine abgelegte Geliebte des Mordopfers, die mittels einer Glaskugel Hellseherei betreibt, ein chinesischer Gärtner voller handwerklichen Geschicks, ein Freund des Hauses namens Doktor Duval, der eine extrem zwielichtige Natur zu sein scheint und von dem es heißt, er sei ein Genie in der Kunst der Chirurgie gewesen und eine Hauslehrerin namens Helga, die nämlich Rechtsanwalt Hansens Jugendliebe war. Auch ein windiger Stiefsohn aus erster Ehe spielt eine verdächtige Rolle in der Scharade, ebenso wie eine siamesische Fürstin, die sich als leibliche Mutter der scheinbar verwaisten Stiefkinder Kapitän Aslagsons entpuppt.

Später tauchen weitere Nebenfiguren auf, unter anderem ein hoher Offizier der Marine, der von einem geheimnisvollen Gas zu berichten weiß, daß er vor vielen Jahren in Shanghai anläßlich einer Massenhinrichtung kennengelernt habe und das sich zuvor in einem mineralischen Zustand befand. Dazu erscheint noch eine Koryphäe der Gerichtsmedizin aus Stockholm und ein Abgesandter eines siamesischen Fürsten.

Erstaunlich ist nur, daß der Leser trotz der Vielzahl der Nebenfiguren der Geschichte gut folgen kann und der Autor jede dieser Figuren so skizziert, daß etwas Charakteristisches hängenbleibt. Ebenso geht es mit den vielen Indizien, eines verschwundenen Armeerevolvers, den Edelsteinen und seinen Falsifikaten, einer Gasleitung versteckt im Mordzimmer, einer toten Fledermaus, einer seltenen Rosengattung, einer Pfauenfeder, die einst einen fürstlichen Fächer in Siam zierte usw.

Das ganze Haus scheint ein Sammelsurium orientalischer und südostasiatischer Kunstgegenstände zu sein, auch die Lebensart der Bewohner kann nur als exotisch beschrieben werden. Man hält sich einen Geparden, einen diebischen Kakadu, ein Treibhaus, das von tropischen Pflanzen nur so strotzt.

Natürlich bringt der Fall die Beamten an den Rand der Verzweiflung. Unzählige Verhöre werden getätigt, Aussagen überprüft, Spuren gesichert. Es entwickeln sich scheinbar unendlich viele Hypothesen, doch Beweise finden sich vorerst nicht. Erst spät wird sich die seltsame Todesursache des Mordes klären und ganz am Ende werden die einzelnen Indizien vom Staatsanwalt und dem Rechtsanwalt Hansen ordentlich sortiert und zu einer unwiderlegbaren Beweiskette gegliedert.

Es kristallisiert sich heraus, daß der ermordete Kapitän Aslagson über ein riesiges Vermögen verfügt, doch die Idee, daß jemand sich das Erbe Aslagsons unter den Nagel reißen wollte, und deshalb der Mord durchgeführt wurde, ist falsch. Tatsächlich ist es nämlich so, daß Aslagson selbst kein Engel war und seine Besucherin, jene leibliche Mutter seiner Stiefkinder, ermorden wollte. Es stellt sich heraus, daß diese exotische Dame Aslagsons zweite Ehefrau in Siam war, die er ebenso schmählich verließ, wie schon seine erste Gattin. Und so wird auch klar, daß die zwei Stiefkinder Aslagsons leibliche Kinder sind. Außerdem hatte Aslagson traditionell bedeutende Gegenstände aus dem Besitz seiner zweiten Frau mitgehen lassen, als er Siam verließ. 

Doch Aslagsons Mordplan wird belauscht, und das Opfer und deren Kinder drehen den Spieß einfach um und ermorden ihrerseits ihren Vater und Ehemann. Aslagson hatte es mit der Angst zu tun bekommen und befürchtete seine Kinder an seine zweite Ehefrau zu verlieren, deshalb wollte er sie mit Hilfe Doktor Duvals aus der Welt schaffen. Doktor Duval seinerseits verfügte über die mineralischen Steine, die sich mit Flüssigkeit zusammen zu einem giftigen Gas verwandelten. Duval arbeitete in seiner frühen Zeit in den USA in Forschung und Lehre, wo er offenbar jenes mineralische Gas entdeckte, das nun als Mordwaffe eingesetzt wurde und das er schon früher in China in Anwendung brachte.

Am Ende des Romans fliehen Aslagsons zweite Frau und deren zwei Kinder, die den Mord durchgeführt haben mit einem Wasserflugzeug, die Flucht scheitert jedoch und die Insassen kommen ums Leben.

Wir verschwurbelt die Auflösung und die Motive der rätselhaften Morde auch sein mag, das Buch ist witzig und intelligent, sehr unterhaltsam und spannend bis zur letzten Seite. 1941 erschien der Roman, im selben Jahr wurde Lues verhaftet und ins KZ gesteckt. Interessant an diesem Buch ist auch die völlige Abwesenheit deutscher Gegenwart oder die damaligen Kriegshandlungen. Der Autor hat seinen Roman, den er unter seinem skandinavisch klingenden Pseudonym veröffentlicht hat, kurzerhand nach Schweden verlegt und blendet damit komplett die Realität seiner Gegenwart aus. In diesem Buch gibt es keinen Führer, keine Nazis, keine Verfolgung, keinen Krieg, keine rassistische Propaganda und keinen irrwitzigen Massenwahn.

Lues wollte eine Weltflucht kreieren und das ist ihm gelungen. Man vergißt die Wirklichkeit und findet sich in einer Idealwelt wieder, einer Welt in der das Gute mit dem Bösen ringt, die aber von humanistischen Weltverbesserern regiert wird, die einzig dem Recht und der Gerechtigkeit verpflichtet sind. Die Beamten und Juristen in diesem Roman arbeiten nämlich Hand in Hand um den Mord an Aslagson aufzuklären, sie entwickeln von Anfang an eine gegenseitige Zuneigung, gemeinsam von dem einen Wunsch beseelt den unbekannten Mörder zu entdecken und der Gerechtigkeit zuzuführen – also ungefähr das Gegenteil von dem, was in Deutschland zwischen 1933 und 1945 Praxis war.

Nur der Einstieg in den Roman ist mißlungen, die ersten zwei Seiten führen den Leser auf eine falsche Fährte, man glaubt einen dieser schlechten Kriminalromane aus der Nazizeit zu lesen, wie es so viele gab, aber da täuscht man sich. Lues war sicher mit einigen zeitgenössischen, ausländischen Kriminalromanen vertraut, denn man spürt den Einfluß angelsächsischer und amerikanischer Vorbilder.