T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Robert Heymann: »Der unsichtbare Mensch vom Jahre 2111«, 1909
von Mirko Schädel



Robert Heymann: Der unsichtbare Mensch vom Jahre 2111, Leipzig, Berlin: Julius Püttmann 1909, Wunder der Zukunft. Romane aus dem dritten Jahrtausend Band 1, 96 Seiten, Ganzleinen mit aufmontiertem Deckelblatt von Schlattmann


Der unsichtbare Mensch vom Jahre 2111, 1909, ist ein spannend geschriebener phantastischer Roman mit Elementen des Krimis und der Science fiction, der den Geist, den moralischen Kontext und die Lebensweise der Jahrhundertwende auf eine ferne Zukunft überträgt. Der Held der Geschichte ist der Chemiker Albert Spielhagen, der in seiner ärmlichen Wohnung in einem gläsernen Hochhaus einen Farbstoff entwickelt hat, der unsichtbar macht. In Indien stieß Spielhagen zufällig auf eine Pflanze, deren Saft ebenfalls unsichtbar war und so extrahierte er diesen Pflanzensaft und entwickelte daraus seine Erfindung. Heymann beschreibt eine Welt, in der das Gold alle anderen Bereiche überlagert, und so der Kapitalismus weltumspannend und erfolgreich ist – ganz nach den Maßstäben der Jahrhundertwende.

Als Spielhagen sich erstmals mit dieser Farbe bestrich und noch nicht ganz damit fertig war, waren  Teile seines Körpers unsichtbar – und in just diesem Moment bekommt er Besuch von einem Freund, der vorerst sehr erschrocken ist, da er unentwegt schwebende Gliedmaßen sieht, denen der Gesamtzusammenhang fehlt. Spielhagen beruhigt jedoch seinen Freund und pinselt sich auch den Rest der Körpers ein bis er vollkommen unsichtbar ist. Dann startet der Erfinder seinen ersten Versuch sich unsichtbar in der Öffentlichkeit zu bewegen – derweil sein Freund auf die Rückkehr Spielhagens in dessen Wohnung wartet.

Schon im Omnibus springen Menschen panisch vom Plafond, als Spielhagen sich nämlich auf einen freien Platz setzt und eine Zeitung hervorholt und darin blättert. Einzelne Passagiere beobachten die sich geisterhaft umblätternde Zeitung und geraten in Panik. Auch Spielhagens Versuch eine Taxe zu nehmen scheitert, denn einen unsichtbaren Passagier möchte niemand befördern. Also geht er zu Fuß eine weite Strecke in den Berliner Westen um seine Verlobte Rita aufzusuchen, die in einer luxuriösen Villa bei ihren Eltern lebt.

Dort angekommen geschieht genau das, was der Leser sich bereits vorgestellt hat, nämlich die reizende Rita an einem Klavier klimpernd, die von einem Verehrer zu einem Kuß verführt wird – und ein unsichtbarer Geliebter, nämlich Spielhagen, der vor Eifersucht rasend wird und seinem Nebenbuhler die Kehle zudrückt. Doch der Nebenbuhler kann sich befreien und flüchtet in Panik nach draußen. Rita, äußerst irritiert durch das seltsame Verhalten ihres Verführers, glaubt, daß ihm übel geworden sei – bis zu dem Zeitpunkt, als sie einen roten Vorhang an der Wand anstarrt, und dort ein seltsames Augenpaar wahrnimmt, daß freischwebend Rita fixiert. Rita gerät in namenlosen Schrecken und beginnt zu schreien, die Familie eilt ihr zu Hilfe.

Der Unsichtbare verläßt angewidert und tief enttäuscht das Haus, dann beschließt er Rache an seinem Nebenbuhler zu nehmen, den er als einen Freund betrachtet hatte. Spielhagen besucht diesen Freund in seiner Wohnung und setzt ihn in ein derart panisches Grauen, daß dieser sich vom Balkon stürzt. Wieder in seiner dämmrigen Wohnung entfernt Spielhagen die Tinktur von seinem Körper. Ihm ist klar, daß seine Augen sichtbar bleiben, wenn er als Unsichtbarer herumgeistert. Seinen Freund, der in der Wohnung warten wollte, hat er schon vergessen – anläßlich der vielseitigen Erfahrungen dieses Experiments, das ihn außerordentlich ermüdet hat.

Dann klopft es an seine Tür, Spielhagen öffnet, und sieht sich der Staatsgewalt in der Form eines Polizisten gegenüber. Der Beamte erklärt, daß die Nachbarn von unten Blut in ihre Wohnung rieseln sehen. Spielhagen macht das Licht an, und in diesem Augenblick sieht er eine riesige Blutlache und seinen ermordeten Freund, dessen Kopf fast gänzlich vom Rumpf abgetrennt ist.

Spielhagen wird verhaftet und am selben Tag noch zum Tode verurteilt für einen Mord, den er nicht begangen hat. Noch in der Nacht wird er in seiner Zelle vergast, denn das 3. Jahrtausend fackelt nicht lange mit seinen verurteilten Verbrechern. Der Nachbar neben Spielhagens Wohnung ist es, der den Mord verübt hat. Dr. David mit Namen, eine Mischung aus Quasimodo und Zwerg Nase, dessen unfaßbare Häßlichkeit ihn zu dem Mord veranlaßt hat um sich die Erfindung Spielhagens dienstbar  zu machen, denn Dr. David liebt eine hübsche Bürgersfrau und träumt von voyeuristischer Betätigung – und er wußte offenbar von der Erfindung seines Nachbarn. Nach dem Mord an Spielhagens Freund raubt er alles, was mit der Erfindung in Verbindung steht.

Tatsächlich streicht sich Dr. David die Tinktur über den Körper und verläßt ungesehen sein Wohnhaus. Er eilt zu seiner Angebeteten, es gelingt ihm sich in das Schlafzimmer zu schleichen und er wird Zeuge, wie sich die Dame und Gattin eines angesehenen Politikers für das Bett zurechtmacht. Als Dr. David glaubt, daß seine Angebetete eingeschlafen sei, nähert er sich der Dame und drückt ihr einen ungeschickten Kuß auf die Lippen, der dazu führt, daß die Schlummernde unmittelbar erwacht und vor ihren Augen jenes verunstaltete, riesige Kuhauge Dr. Davids schweben sieht, denn Davids Augen sind unterschiedlicher Natur, während eines grün und von normaler Größe ist, ist das zweite unnatürlich groß und droht aus der Augenhöhle zu platzen.

Unfassbarer Schrecken bemächtigt sich der Dame, Dienstboten eilen zu Hilfe, und Dr. David schlüpft ungesehen durch die Tür und kehrt in seine Wohnung zurück. Doch nachdem er sich von der Tinktur gereinigt hat, steht der Gatte jener Dame vor seiner Tür und fordert ihn zum Duell. Erst streitet der Doktor seine Anwesenheit in dessen Wohnung noch ab, doch hat der eifersüchtige Gatte einen unwiderlegbaren Beweis in Händen. Heymann ahnte bereits die Zukunft der Kameratechnik, denn er beschreibt, daß jeder Haushalt mittels Kameras sein Eigentum überwacht. Dr. David hatte auf dem Weg zu seiner Angebeteten den Mechanismus einer Überwachungskamera ausgelöst, die technisch so entwickelt ist, daß sie direkt eine Kopie des Abzugs ausspuckt.

Auf dieser Fotografie ist Dr. David, wenn auch nur schemenhaft, zu erkennen. Und so scheint die Erfindung Spielhagens doch erhebliche Konstruktionsfehler zu haben, denn während das menschliche Auge sich täuschen läßt, ist die Kamera durchaus in der Lage das Unsichtbare sichtbar zu machen.

Das Duell des 3. Jahrtausends ist mehr dem Glücksspiel verpflichtet, denn in einem Zylinder (offenbar auch in der Zukunft noch hochmodern) werden eine schwarze und eine weiße Kugel gegeben. Wer die schwarze Kugel herauszieht, muß sich innerhalb der nächsten zwei Stunden selbst das Lebenslicht ausblasen. Dr. David zieht der Gerechtigkeit halber tatsächlich die schwarze Kugel, sein Widersacher läßt ihn in seiner Wohnung allein. Dann vernichtet unser sympathischer Quasimodo die Erfindung seines Nachbarn Spielhagen, seine Aufzeichnungen, seine Pulver und Essenzen, seine Pflanzen, die zur Gewinnung der Tinktur gezüchtet wurden.

Als sein Zerstörungswerk vollbracht ist, schimpft Dr. David noch auf diese schlecht durchdachte, fehlerhafte Erfindung, reißt ein Stromkabel aus der Wand, drapiert es so, daß er sich das Kabel um den Hals legt, schiebt den Sessel unter seinem Sitzfleisch beiseite um gleichzeitig den Lichtschalter zu betätigen und den Strom durch das Kabel und also durch seinen Körper zu jagen.

Was soll man dazu sagen? Erst einmal ist zu bemerken, daß Heymann offenbar meinen Rat, daß nämlich weniger häufig mehr ist,  beherzigt hat, denn er verzichtet größtenteils auf Pathos, Pomp und Kitsch, stattdessen erzählt er die Vorgänge in einem für seine Verhältnisse nüchternen Erzählton, vielleicht hier und da etwas expressiv, ekstatisch und hysterisch, doch dabei verhebt er sich nicht derart, wie in vielen seiner früheren Texte.

Witzig und unterhaltend ist der ganze Text ebenso. Witzig empfinde ich vor allem die Struktur der Erzählung, denn trotz mancher Anleihen an Jules Verne’scher Zukunftsmusik herrscht in diesem Roman der Geist des 19. Jahrhunderts. Es gibt zwar eine rundum elektrische Welt, Gezeitenkraftwerke in Cuxhaven, die ganz Deutschland mit Strom und Wärme versorgen, Glasarchitektur, denn die Wolkenkratzer Berlins bestehen in ihren Außenwänden aus ein Meter starkenGlasquadern – und weitere Kleinigkeiten lassen an die Science fiction denken, doch alles folgt dem Regelwerk und dem Denkkosmos des 19. Jahrhunderts. Das ganze erinnert stark an den Steam-Punk, einer Gattung der Popkultur, die Anleihen an Formen und Strukturen von Ästhetik und Mechanik des 19. Jahrhunderts nimmt, diese aber partiell zu etwas neuem zusammensetzt, dabei spielt auch das Design bestimmter Fantasy-Welten eine Rolle.

Wenn es also so etwas wie einen literarischen Steam-Punk gibt, dann ist es wohl diese Reihe von Robert Heymann, die übrigens auf eine eigenwillige Weise eine Krimihandlung in ihr Science fiction-Interieur einbaut. So glaubt Robert Heymann zum Beispiel, daß das 3. Jahrtausend noch Wert auf den zylindrischen Kopfputz des 19. Jahrhunderts legt, mir scheint das aber eher schlicht eine Ungenauigkeit des Autors zu sein. Vermutlich war der Zylinder derart en vogue, während Heymann diese Zeilen schrieb, daß er sich nicht vorzustellen wagte, daß die Gesellschaft der Zukunft darauf verzichten könnte. Ebenso verwechselte er an einer Stelle den Vornamen seines Helden, der ja eigentlich Albert Spielhagen heißt, an einer Stelle aber als Rafael Spielhagen genannt wird.

Heymanns Science fiction ist im Grunde genommen nur ein Bühnenbild, ein Interieur, und die wenigen Hinweise darauf lassen tatsächlich an Jules Verne denken. Der eigentliche Kern und Antrieb ist jedoch eine Art des Grauens, die der Autor herstellen möchte, und da er verschiedene Techniken des Kriminal- und Kolportageromans beherrscht, nutzt er diese auch – jedoch wohldosiert.

Heymann war schon immer eine Art Phantast, auch als er kaum noch veröffentlichte und sich zunehmend als Regisseur von Stummfilmen betätigte, denn auch beim Film galt sein besonderes Interesse dem Abenteuerfilm und vor allem dem phantastischen Film. Naturgemöß sind Texte wie Der Unsichtbare vom Jahre 2111 unweigerlich einer Infantilität geschuldet, es handelt sich hierbei um moderne Märchen für Erwachsene. Heymanns Schlüpfrigkeit, Erotik und drastische Brutalität sind obligate Ingredienzien einer Heymann’schen Rezeptur des sensationslüsternen Reißers. Er liebte die Opulenz, die Wirkung des Pompösen, die Sensation und den Exotismus. Auch  in diesem Roman konnte Heymann nicht ganz auf Exotismus verzichten, denn zumindest die Pflanze seiner unsichtbarmachenden Tinktur stammt aus Indien, ebenso sämtliche Textilien der Menschen des 3. Jahrtausends,  die allesamt aus indischen Bambusfasern bestehen.

Blutbäder scheinen dem Autor auch gefallen zu haben, denn an derartigen Übertreibungen mangelt es bei Heymann nie. Das Blut, das von einem Stockwerk in das andere sickerte, und als Spielhagen das Licht in seiner Wohnung anknipst und des enthaupteten Freundes ansichtig wird – in einer »großen Lache Blut, die sein ganzes Zimmer förmlich überschwemmt hatte.«

Auch das sind Bilder um die es Heymann zu tun ist. Die Hälfte seiner Geschichten nehmen immer wieder Interieurs, Räume, Bühnenbilder ein; Bilder die sich dem Leser einprägen sollen – ob es nun Bilder des Grauens, Bilder der Pracht und Opulenz oder Bilder schwülstiger Erotik sind, bedeutender zumindest für den Autor als die Sorgfalt und Genauigkeit seines Textes.

Insofern ist der berufliche Wechsel vom Autor zum Filmschaffenden für Heymann eine logische Konsequenz. Da Heymann jedoch einen Hang zu diesen Übertreibungen und zum Kitsch hatte, würde es mich nicht wundern, wenn seine Filme vor allem durch seine prächtige Ausstattung und seine Bilder aufgefallen wären – und weniger aufgrund ihrer ausgefeilten dramaturgischen Leistung gewürdigt wurden. Doch leider sind die meisten seiner Filme verschollen, soweit ich weiß.

Heymann begann wie viele andere auch als hoffnungsvoller Autor von Belletristik und Lyrik, doch seine ökonomischen Verhältnisse zwangen ihn zu einer immer ausufernden Produktion von Unterhaltungsstoffen, ganz ähnlich wie seinen Zeitgenossen Matthias Blank. Während die früheren Bartholomäus-Publikationen noch übelste Kolportage in fast unerträglicher Schwülstigkeit darstellen, fand Heymann mit seiner Reihe Wunder der Zukunft inhaltlich und ästhetisch zu neuer Kraft und schuf ein überaus interessantes Zeitzeugnis der Unterhaltungsliteratur des wilhelminischen Deutschlands.