T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Manfred Georg [Cohn]: »Aufruhr im Warenhaus«, 1928
von Mirko Schädel



Manfred Georg [Cohn]: Aufruhr im Warenhaus, Berlin-Friedenau: Weltbücher-Verlag 1928, 385 Seiten


Dr. Manfred Georg Cohn, 1893–1965, [Pseudonyme: Manfred Georg, L. Labasse, K. Hesse]  war ein deutscher Jurist und Schriftsteller, der vorwiegend als Journalist tätig war. Er war Redakteur des Berliner Acht-Uhr-Abendblatts, Theaterkritiker der Berliner Volkszeitung und arbeitete vorwiegend für die Verlagshäuser Ullstein und Mosse. Cohn wohnte 1928 in Berlin-Lichterfelde, Dahlemer Str. 64 und emigrierte 1933 über die Tschechoslowakei nach USA. Dort machte er sich einen Namen als Chefredakteur des »Aufbau« in New York. Cohn starb 1965 in New York. Er war mit Leni Riefenstahl und Carl von Ossietzky befreundet. Sein Nachlaß befindet sich im Marbacher Literaturarchiv.

Am Vortag eines Attentats auf den Polizei-Minister Bessarabiens [wohl dem heutigen Staatsgebiet  von Moldawien entsprechend] treffen sich fünf Verschwörer in einer konspirativen Bukarester Wohnung um den Ablauf des Attentats zu besprechen.

Die fünf Terroristen bestehen aus Jelena, Maria Boris, John und Victor, wobei jeder seinen Fähigkeiten gemäß für die Durchführung des Attentats verantwortlich ist. Der selbstbewußte Victor soll die Bombe werfen, doch am nächsten Tag stockt er für den Bruchteil einer Sekunde und verfehlt durch eine kleine Irritation, die er sich selbst nicht erklären kann, sein Ziel. Die Folge davon ist, daß etliche Unschuldige sterben und die Polizei auf die Bevölkerung anlegt, so daß weitere Opfer zu beklagen sind.

Die fünf Attentäter fliehen getrennt auf abenteuerliche Weise nach Italien, wo sie gemeinsam einen Dampfer in Richtung Vereinigte Staaten betreten. Auf dem Schiff ist ein holländischer Gemüsehändler ganz verliebt in die schöne Jelena, bis diese jedoch erfährt, daß ihr Bewunderer keineswegs Gemüsehändler ist, sondern der amtliche Schiffs-Detektiv Hylton sei, der die kleine Gruppe identifiziert hat und auszuliefern droht, wenn Jelena ihm nicht zu Willen ist. Jelena geht auf den Handel ein, doch ihre Passivität beim Liebesakt zerknirscht die Nerven des liebenswürdigen Detektivs.

Doch unmittelbar darauf bahnt sich ein neues Abenteuer an, denn ein amerikanischer Magnat namens Mr. Brooker sieht unserem Bombenwerfer Victor zum Verwechseln ähnlich. Mr. Brooker scheint dieses Doppelgängertum bemerkt zu haben und bittet Victor zu einem Gespräch in seine Kabine. Dort kommt es zur Aussprache, und Mr. Brooker gibt zu erkennen, daß er unbedingt einen Doppelgänger benötige, der neben einer verblüffenden Ähnlichkeit auch genügend Intelligenz besitzt um ihn auch im Geschäftsleben zu ersetzen. Victor, dem sich ansonsten wenig Perspektiven bieten, geht umgehend auf dieses ungewöhnliche Geschäft ein, obwohl Mr. Brooker von ihm erwartet, daß er nunmehr seine eigene Existenz vollkommen aufgibt und sich ganz der neuen Aufgabe widmet.

Victor erzählt lediglich Jelena von seiner neuen Aufgabe, darüberhinaus sorgt er für das berufliche Fortkommen seiner Kameraden, denn Mr. Brooker hat versprochen Victors Freunden eine ihnen gemäße Beschäftigung zu verschaffen. Maria wird Mannequin in San Francisco und wird dort im Verlauf von Filmleuten entdeckt, Jelena arbeitet als Personalchefin in dem Warenhaus Mr. Brookers und ist somit in unmittelbarer Nähe zu Victor, John ist als Chemiker beim Militär untergekommen und nur Boris schlägt aus Eifersucht alle Angebote aus, denn er ist unglücklich in Jelena verliebt. Boris verläßt in New York umgehend seine Kumpane und führt eine fragwürdige Existenz als illegaler Ausländer ohne feste Arbeit, er geht Gelegenheitsjobs nach, lebt teilweise auf der Straße und lernt eine Mulattin kennen, die ihn unter ihre Fittiche nimmt. Boris lernt das andere Amerika kennen, das Amerika der Armut und Kriminallität, des Rausches und der Vielfarbigkeit.

Manfred Georg macht den Leser mit der amerikanischen Lebenswirklichkeit vertraut. Als jedoch Mr. Brooker, der kaltherzige Tycoon, sich mit Victor auf einer Eisenbahnfahrt befindet und sich gedankenlos beim Rauchen gegen eine Tür lehnt, öffnet diese sich unvermittelt und Mr. Brooker war einmal. Victor hatte diesen Unfall kommen sehen, tat aber nichts um das Unglück zu verhindern. Denn Victor, dessen Gewissen sich zunehmend gegen die Profit- und Machtgier auflehnt und dessen alte, revolutionäre Gedanken wieder aufkeimen, ergreift die Gunst der Stunde und lebt fortan als Mr. Brooker fort. Ihm, dem Doppelgänger, fällt dies nicht schwer.

Auch seine alten Kampfgenossen sind zunehmend desillusioniert vom amerikanischen Traum. Boris lebt mit seiner Freundin in Haarlem und ist gerade aus dem Gefängnis entlassen worden, weil er sich als Alkoholschmuggler betätigte und geschnappt wurde, nun prostituiert sich seine Freundin und deren kleine Schwester um den nötigen Lebensunterhalt zu verdienen. Maria hat ihren Job als Schauspielerin geschmissen, denn ganz gleich wohin sie sich wendet, überall lauern Männer, die sie unter Druck setzen wollen um sie gefügig zu machen. Doch Maria ist nun mit ihrer neuen, lesbischen Freundin unterwegs.

Jelena ist am Boden zerstört, da sie noch in dem Glauben ist, Victor sei aus dem Zug gestürzt – denn in den Zeitungen wurde lediglich berichtet, der Sekretär des Mr. Brooker sei auf der Fahrt aus dem Zug gestürzt – den wahren Sachverhalt ahnt sie nicht. Außerdem ist sie ebenso unglücklich in Victor verliebt, wie Boris in Jelena. Zurück in New York erklärt Victor Jelena, wie es zu dem Unfall seines Brotherrn gekommen sei, und daß er nun als Mr. Brooker fortbestehen wolle. Die beiden beschließen das riesige Unternehmen nach ihrer revolutionären Fasson umzubauen. Naturgemäß gibt es bedeutenden Widerstand gegen die neuen sozialen Reformen des Unternehmens. Ausgehend von den Konkurrenten des Konzerns werden zahlreiche Versuche unternommen die beschlossenen Reformen zu unterlaufen oder zu sabotieren.

Victor geht es dabei keineswegs um die Einführung des Sozialismus, sondern um Teilhabe, Mitbestimmung, Demokratie, eine humanere Behandlung der Mitarbeiter und eine Abkehr vom Gedanken der Gewinnmaximierung. Doch setzt dies die konkurrierenden Konzerne unter Druck, und einige Industriekapitäne befürchten, Mr. Brooker sei verrückt geworden, denn noch kurz zuvor war Mr. Brooker noch ein entschiedener Befürworter des ausbeuterischen Systems und des institutionellen Rassismus.

Da die Regierung der Vereinigten Staaten sich nicht durchringen kann, nicht zuletzt auch aus Angst vor Mr. Brookers neuer Anhängerschaft – den Underdogs der amerikanischen Gesellschaft, meist Einwanderer, Chinesen, Juden aus Osteuropa, Italiener, Deutsche, aber auch Teile der schwarzen Bevölkerung – mit Macht und Gewalt gegen Brooker vorzugehen, beschließen die politischen Entscheidungsträger Mr. Brooker für verrückt zu erklären – und schicken ihm ein paar Psychiater auf den Hals. Doch Brooker hat bereits sein Kaufhaus in New York zu einer Festung ausgebaut und seine Mitstreiter bewaffnet. In den Wirren dieses Chaos taucht auch Boris kurz auf der Bildfläche auf, doch gesteht er Jelena in einem Gespräch, daß er die Ursache für das Scheitern jenes Attentats in Bukarest gewesen sei, jener unmerkliche Stoß, den er dem irritierten Victor versetzt hatte, der die Flugbahn der Bombe beeinträchtigte. Jelena, die vor Wut schäumt, begreift in diesem Augenblick, daß Boris schicksalhaft zum Verräter bestimmt sei, sie eilt dem fortgehenden Boris nach und erschießt ihn noch im Treppenhaus.

Danach geht alles recht schnell, die Polizei und das Militär beginnen mit der Räumung des Vorplatzes, anschließend mit der Belagerung des Warenhauses. Es gibt noch ein Telefonat zwischen Victor und dem Gouverneur New Yorks, doch die Fronten sind verhärtet und Victor denkt nicht daran aufzugeben. Nachdem Victor die rote Fahne aus dem Dach des Hauses hissen ließ, gibt es keinerlei Zurückhaltung mehr und das Kaufhaus wird gestürmt. Mit einer Unterbrechung geht dieser Vorgang bis zum frühen Morgen vor sich. Kurz vor der Einnahme von Victors Büro läßt ein kreisendes Flugzeug eine Bombe auf den über 60 Geschosse hohen Wolkenkratzer fallen – der Anblick der roten Fahne hatte den Piloten derart irritiert und in einen kriegerischen Blutrausch versetzt, daß ihm der Finger auf dem Abzug zitterte. Der Pilot war niemand geringeres als John, der damals an dem gescheiterten  Attentat in Bukarest mit Victor und seinen Mitverschwörern beteiligt war. Das Schlußbild des Romans zeigt uns Maria und ihre Freundin auf einem Dampfer Richtung Europa schippern.

Der Roman beginnt sprachlich etwas holprig und maniriert, nimmt aber stetig an Fahrt auf und ist durchaus spannend und unterhaltsam. Die verschiedenen amourösen Beziehungen sind nach Wiener Art an Schnitzlers Reigen angelehnt, jeder liebt irgendeine Person, die jedoch bedauerlicherweise eine andere Person liebt – nur Maria und ihre lesbische Freundin sind von diesem Schema ausgenommen, diese beiden sind das einzige glückliche Liebespaar in diesem Buch.

Im Grunde ist Aufruhr im Warenhaus ein weiterentwickelter Nihilistenroman, wie er während der Jahrhundertwende en vogue war. Somit kann man diesen etwas zwittrigen Roman als Untergattung des Kriminalromans begreifen, er ist aber ebenso ein Abenteuerroman und ein politischer Roman, wenn man so will. Das Buch erinnert stark an Lawrence Desberrys, das ist Hermynia Zur Mühlen, Kriminalromane, die allesamt ähnliche Intentionen verfolgen: Antirassismus, Antikapitalismus und eine faire Demokratie, die nicht von Korruption unterlaufen wird, aber auch eine liberale und enttabuisierte Sexualität sind die Triebfedern des Autors, der diese Themen ganz ähnlich wie Zur Mühlen in ein unterhaltsames Romankonstrukt gesetzt hat.

Manfred Georgs Sätze sind eigenwillig, gelegentlich avantgardistisch, und sind hin und wieder metaphorische Glanzleistungen, sie erinnern ganz entfernt an Raymond Chandlers berühmte Sätze. Georgs Sprache schwankt zwischen Expressionismus, Hyperventilation, Ekstase und einer modernen Nüchternheit. Sein Stil ist atypisch und assoziativ, zumindest aber immer interessant.