T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Ludwig Gothe, William Stephens Hayward, oder: Drei Engel für Charlie
von Mirko Schädel



L. Gothe: Denkwürdigkeiten einer Londoner Geheimpolizistin, Dresden: Berthold Sturm um 1900;
L. Gothe: Denkwürdigkeiten einer Londoner Geheimpolizistin, Dresden: Meteor-Verlag um 1905, Meteor-Romane Band 16; L. Gothe: Im dunkelsten London, Berlin: Norddeutsche Verlags-Anstalt um 1905, Moderne Kriminal-Romane;
alle drei Titel sind textidentisch…


Der geheimnisvolle Reichtum [The Mysterious Countess]
Diese Geschichte dient der Einführung unserer Detektivin Mrs. P., deren Gatten vor kurzem starb, und die sich nun verwaist um ihren jüngeren Bruder zu kümmern hat, der noch nicht volljährig ist. Einem Wunsch ihres verstorbenen Vaters gemäß hat sie mit ihrem Ehemann gemeinsam sich um das Wohlergehen ihres Bruders gekümmert, als jedoch ihr Gatte nach dem Verlust seiner langjährigen Arbeitsstelle kränkelnd darniederliegt und stirbt, ist Mrs. Paschal, in der deutschen Übersetzung konsequent Mrs. P., mit ihrem Bruder auf sich allein gestellt.

Da sie über kein Einkommen verfügt, denkt sie über eine berufliche Karriere als Erzieherin nach, doch ehe sie konkrete Pläne faßt, läßt sich ein alter Freund ihres Vaters melden, Mr. Warren, der Beamter in leitender Position bei der Londoner Polizeibehörde ist. Dieser fragt mitfühlend nach ihren Zukunftsplänen und bietet ihr den einträglichen Job als Polizeiagentin an. Nachdem Mrs. P. eine Nacht darüber schläft, entschließt sie sich dieses Angebot anzunehmen, und nach einem weiteren Gespräch mit Mr. Warren wird Mrs. P. die Polizeimarke ausgehändigt. Desweiteren erhält sie eine Scheinadresse, die nur ihrer beruflichen Tarnung dient, sowie ihren ersten Auftrag.

Mr. Warren erklärt ihr, daß eine Gräfin in London, vormals Stubenmädchen in einem herrschaftlichen Hause, einen alten Adeligen geheiratet habe, einen Lebemann, der vor zwei Jahren starb und seiner jungen Witwe nicht viel mehr als sein Haus in London hinterließ, da er sein gesamtes Vermögen durchgebracht hatte.

Nun weiß die Polizei, daß die Gräfin über unerschöpfliche Geldmittel verfügt, sie lebt auf großem Fuß und zahlt pünktlich alle ihre Rechnungen. Das sei natürlich verdächtig, und niemand könne sich diesen Reichtum erklären. Mrs. P. hört sich dieses Rätsel an und geht unumwunden an deren Aufklärung. Sie beschließt sich bei der Gräfin als Kammerfrau zu bewerben und nachdem sie einige Prüfungen überstanden hat und auch die gefälschten Zeugnisse das ihrige tun, wird sie angenommen.

Ihre Aufgabe versteht Mrs. P. vor allem in der Observation der Gräfin, und nach einiger Zeit entdeckt Mrs. P. im Zimmer ihrer Herrin ein Geheimfach in dem Pistolen und auch ein seltsamer Plan eines Gebäudes versteckt sind. Als ihre Herrin eines Tages beschließt ihr Urlaub zu geben, ahnt Mrs. P., daß sie nur aus dem Hauses geschafft werden solle, um irgendein geheimes Tun zu verbergen, das geräuschlos und ohne Zeugen durchgeführt werden soll.

Mrs. P. gelingt es den Anschein zu  erwecken, sie habe das Haus verlassen, während sie stattdessen in ihrem eigenen Zimmer durchs Schlüsselloch in das Zimmer ihrer Herrin schaut und dort Zeuge einer Verwandlung wird. Die Gräfin zieht sich die Kleidung eines jungen Mannes an und steckt den rätselhaften Plan und die Pistolen in eine kleine Tasche, die sie sich umschnürt. Darauf verläßt sie das Haus und betritt einen Keller auf ihrem Grundstück, wo sie in einem Labyrinth von Gängen und schmalen, versteckten Luken einem geheimnisvollen Ziel zueilt. Mrs. P. bleibt der Gräfin immer auf den Fersen. 

Am Ende öffnet die Gräfin wieder einen engen, geheimen Zugang, und Mrs. P. beobachtet, wie die Gräfin sich an einem fabelhaften Goldschatz weidet und sich ihre Taschen mit Goldmünzen füllt. Mrs. P. versucht zu entschwinden, doch verirrt sie sich, aber die Gräfin kommt unbeschadet aus dem Labyrinth hervor, nichtsahnend, daß ihr jemand auf die Spur gekommen ist. Die verzweifelte, weil eingeschlossene Mrs. P. sitzt derweil resigniert auf einer Kiste und glaubt bald schon dem Hungertod ausgeliefert zu sein, doch im rechten Augenblick kommen zwei finstere Gesellen und nehmen sie in Haft. Mrs. P. erklärt, daß sie nur mit Mr. Warren von der Polizei sprechen wolle, ansonsten aber schweigen werde, auch vergaß sie ihre Polizeimarke mitzunehmen. 

Aus den Gesprächen dieser beiden Kerle wird ihr deutlich, daß es sich um das Sicherheitspersonal einer Bank handelt, die von einem bereits stattgefundenen, rätselhaften Bankdiebstahl erzählen und nun glauben, die Diebin auf frischer Tat erwischt zu haben.

Mrs. P., die von den beiden Männern äußerst brutal behandelt wird, und auch die Polizei geht mit ihr nicht allzu zimperlich um, ist froh endlich Mr. Warren die Angelegenheit erzählen zu können, der sie nach der erfolgreichen Durchführung des Auftrags nach Hause schickt um sich auszuruhen und ihr noch mitteilt, daß die fragliche Bank 1000 Pfund Belohnung für die Ergreifung des Täters ausgelobt habe.

Am folgenden Tag soll die Verhaftung der Gräfin vorgenommen werden, doch gelingt es dieser noch sich mit Hilfe eines indischen Giftes selbst zu richten. Wie banal die ganze Geschichte auch klingen mag, die realistische Erzählweise, der klare Stil und die sprachlichen Mittel sind gelungen. Die Geschichte hat Charme und erinnert an die klassischen Kriminalgeschichten von Waters beziehungsweise William Russell.

Der Blo–y-nor [The lost Diamonds]
Hier geht es natürlich um einen Diamantendiebstahl. Der exzentrische Herzog von R. liebt nichts mehr als seine Diamanten. Sein ganzes Vermögen steckt in diesen Steinen, und auch alle hinzugekommenen Erbschaften, auch die seiner Frau, werden für den Erwerb von Edelsteinen verwendet. Selbst der berühmte Blo-y-nor aus Delhi, der in Paris auf den Markt gebracht wurde, mußte der Herzog in seinen Besitz bringen.

Und wie jeder ausgesprochen spleenige Sammler entwickelt sich auch bei dem Herzog eine Sammlereitelkeit, die dazu führt, daß er seine Diamanten immer mit sich herumträgt und sich nach einer alten Mode kleidet, die es erlaubt diamantenbesetzte Schnallenschuhe zu tragen. Oder er reist herum um mit seinen Steinen bei Insidern anzugeben. Lediglich seine Frau, wie bei fast allen Sammlern, kann diese Euphorie angesichts kalter Mineralien nicht nachvollziehen. Im Gegenteil, sie verachtet alles was damit zusammenhängt und fühlt sich recht ungeliebt und vernachlässigt.

Aus diesem Grunde beginnt die Herzogin mit dem Glücksspiel, das, wie zu erwarten ist, nicht vorteilhaft für ihre finanzielle Situation ist. Doch ihr Mann scheint sich darum nicht viel zu kümmern und verdrängt diese Realität. Aber eines Tages werden die Diamanten gestohlen und die Welt des Herzogs bricht zusammen. Mrs. P. wird von Mr. Warren von der Polizei gebeten den Diebstahl der Diamanten aufzuklären, 1000 Pfund Belohnung wurden bereits ausgelobt, und Mrs. P.s jüngerer Bruder braucht dringend Geld, da er sein Studium beendet hat und nun in die Welt einzutreten gedenkt.

Mrs. P. ist demzufolge dankbar für diesen Auftrag und informiert sich über die Verhältnisse des Herzogs und seiner Frau. Alle Welt glaubt nun, daß ein Deutscher namens Gustav Walter den Diebstahl begangen habe. Dieser Sekretär und Kammerdiener des Herzogs sei nämlich gleichzeitig mit den Diamanten spurlos verschwunden. Doch Mrs. P. ist die einzige, die aufgrund der Einsichtnahme in die Korrespondenz des Herrn Walter nicht so recht an die kriminelle Energie des Deutschen glauben mag und vermutet eher, daß man diesen getötet oder entführt habe um einen Zeugen loszuwerden.

Stattdessen ahnt Mrs. P., daß die Herzogin durch ihr unseliges Glücksspiel vermutlich allen Grund habe um sich irgendwie Geld zu verschaffen, und sie beschließt diese zu observieren. Darüberhinaus erfährt der Leser, daß Mrs. P. sich einen Handlanger zugelegt hat, einen zehnjährigen Taschendieb namens William Doyle. Diese Vollwaise hat sie bei sich aufgenommen um ihn zu einem Detektiv auszbilden – mit Unterstützung Mr. Warrens, der versprochen hat den Jungen mit seiner Volljährigkeit in den Polizeidienst zu nehmen. In den Zeiten, während Mrs. P. keine Aufträge zu bearbeiten habe, dient ihre Haushälterin dem jungen William als Lehrerin.

William erhält den Auftrag die Herzogin zu observieren und Mrs. P. zu benachrichtigen, falls diese das Haus verläßt. Mrs. P. gelingt es bei einer der ersten Gelegenheiten die Herzogin bei einer Fahrt nach Bloomsbury zu verfolgen. Die Dame verschwindet für zwei Stunden in einem Haus, das von einem vermögenden Wucherer namens Mr. Fox bewohnt wird.

Anschließend besucht Mrs. P. ihren Auftraggeber Mr. Warren und erbittet sich vier geschickte Beamte. Zwei postiert sie an der Haustür des Mr. Fox, zwei in Zivil gekleidete Beamte nimmt sie mit hinein in das Haus von Mr. Fox und trägt ihnen auf, das Haus zu durchsuchen um den jungen Mann namens Gustav Walter zu finden.

Während Mrs. P. bei Mr. Fox ins Arbeitszimmer tritt und ein großartig täuschendes Schauspiel in Szene setzt, in dem Mrs. P. behauptet sie sei eine Vertraute der Herzogin und letztere habe sie gebeten weiteres Geld zu holen – natürlich im Tausch gegen weitere Diamanten. Nach anfänglichem Mißtrauen begeht Mr. Fox den Fehler seinem Gegenüber zu trauen und verrät sich damit. Als er einen Stapel Banknoten übergibt und Mrs. P. diese nachzählt, stürmt die Haushälterin in Mr. Fox Arbeitszimmer und kreischt, daß Einbrecher oder die Polizei im Hause seien. Mr. Fox eilt aus dem Zimmer, Mrs. P. folgt ihm auf dem Fuße, sie gehen  hinunter in den Keller, wo auf einem Strohlager ein erschreckend bleicher, junger Mann lagert, der offensichtlich hier gefangen gehalten wird. Die beiden Beamte waren mit ihrer Suche erfolgreich, denn es handelt sich um Gustav Walter, der Sekretär des Herzogs und vermeintliche Juwelendieb.

Mr. Fox wird von den zwei Polizisten verhaftet, man führt ihn in sein Arbeitszimmer und inspiziert seinen Tresor, wo auch die fraglichen Edelsteine zum Vorschein kommen. Um dieser Tragödie jedoch keine Öffentlichkeit zu bieten, beschließt Mrs. P. den Wucherer in das Haus des Herzogs zu führen, wo man die gestohlenen Diamanten zu erstatten beabsichtigt. Denn mit dieser Affäre würde auch die Herzogin als eigentliche Drahtzieherin des Diebstahls kompromitiert.

Die Herzogin ist nervös. Mr. Fox entschuldigt sich beim Herzog, der überglücklich ist, und erhält sein Geld in Raten und ohne Zinsen zurück. 15 Jahre später wird der fragwürdige Mr. Fox wegen Wechselbetrugs angeklagt und verurteilt, er erhängt sich in seiner Zelle. Mrs. P.s jüngerer Bruder erhält die 1000 Pfund Belohnung und ist seiner Schwester ewig dankbar, Mr. Warren ist über den Verlauf der Affäre entzückt, und der sonderliche Herzog verkauft nach und nach seine Diamanten und behandelt seine Gattin künftig mit besonderer Achtung und Fürsorge.


Wer von den Beiden? [Found Drowned]
Eine sehr knappe, atmosphärisch dichte Erzählung über eine junge Frau namens Laura Hartwell, die ihren Lebensunterhalt in einer Bäckerei als Verkäuferin verdient. Die junge Dame ist eine auffallende Schönheit, wie sie die Jugend manchmal hervorbringt. Die Geschäfte der Bäckerei heben sich ständig,
weil viele Lebemänner der schönen Laura wegen in das Geschäft gehen und dort ihre Backwaren kaufen.

In der Bäckerei arbeitet aber auch noch ein weiterer junger Mensch, Stephan Bardsley, der neben dem Meister als Geselle in der Backstube tätig ist und sich in die schöne Laura verliebt hat. Laura, die den Avancen Bartleys auch nicht abgeneigt ist und diesem Zugeständnisse macht, gilt schon fast als Bartleys Verlobte.

Doch eines Tages wird eine junge Frau aus dem Wasser der Themse gezogen und die Polizei rätselt, ob es sich um einen Selbstmord handeln könnte. Bei der Leiche handelt es sich um die schöne Laura Hartley. Mrs. P. wird hinzugezogen, und untersucht die Leiche, sie findet an den Handgelenken Blutergüsse, die auf einen vorsätzlichen Mord hindeuten.

Mrs. P. macht sich mit den Verhältnissen in der Bäckerei vertraut, und ihr erster Verdacht fällt auf Lord Castel Brewer, der als ein hartnäckiger Verehrer der Verstorbenen gegolten hat. Brewer, der sich in Laura verliebt hatte und den festen Vorsatz traf, die junge Dame zu verführen, galt als ebenso ehrgeizig wie cholerisch, wenn er nicht zu seinem Ziel kommt.

Nachdem Brewer von Mrs. P.s Vorgesetzten Mr. Warren verhört wurde, lenkt sich ihr Verdacht aber nach und nach auf den Verlobten Lauras, denn Bartley ist am gleichen Tag verschwunden, wie der Mord an seiner Freundin öffentlich wurde. Mrs. P. beschließt den verlorenen Sohn zu suchen, sie weiß, daß er sein gesamtes Geld bei seinem Brotherrn gelassen habe, so daß er sich vollkommen mittellos irgendwo in dem Moloch London versteckt hält. 

Tagelang zieht Mrs. P. ihre Runden, ehe sie eines Nachts den Gesuchten identifiziert und ihn observiert. Nach einer abenteuerlichen Flucht auf einem nächtlichen Friedhof, stürzt Bartley jedoch in ein frisch ausgegrabenes Loch, das ausgehoben wurde um den Grundwasserspiegel zu messen. Noch in diesem Loch, stark verletzt und vollkommen durchnäßt gesteht Bartley seine Tat, die er bereut und aus Eifersucht begangen habe.

Mrs. P.s Mitleid für den Täter ist ebenso groß, wie das Mitleid für das Opfer Laura Hartley. Bartley wird ins Polizeispital geschafft, anschließend wird ihm der Prozeß gemacht, doch vor Antritt seiner Strafe, verstirbt der Mörder an seiner Verletzung, die er sich auf dem Friedhof zugezogen hatte.

Lord Brewer erhält von Mrs. P. eine Standpauke, die darin gipfelt, daß ersterer seinen Lebenswandel künftig komplett verändert, sich eine Frau nimmt und ein unauffälliges, moralisch gesundes Eheleben führt. Ungewöhnlich ist diese Geschichte schon allein deswegen, weil das beschriebene Milieu einen Teil der Mittelklasse beschreibt, so alltäglich wie unser aller Umgebung – und weit entfernt von hochstehenden Persönlichkeiten, denen man die Juwelen oder andere sensationelle Kostbarkeiten stiehlt – oder sie ermordet.


Als Sammler und Leser von historischer Kriminalliteratur wird man unweigerlich selbst zu einer Art Detektiv, oder zu einem Archäologen, der mit einem kleinen Hämmerchen Schicht für Schicht  die Gesteine älterer Zeiten abträgt um ein Objekt freizulegen, das uns Einblick in eine vergangene Welt verschafft. Denn, wie bei der Trivialliteratur üblich, scherte sich in der Vergangenheit kein Mensch um die Verfasstheit und das Herkommen dieser Texte. Die Altvorderen hätten sich auch nicht vorstellen können, das man sich in der Zukunft für diese Texte über Gebühr interessieren  könnte oder gar pseudowissenschaftlich erforschen würde.

Manchmal, in seltenen Fällen, wird man belohnt und enthüllt spektakuläre Erkenntnisse, die doch auch heute nur von einem knappen halben Dutzend Lesern goutiert wird. Die Zahl derer, die sich für eines der vielfältigsten und erfolgreichsten literarischen Genres interessieren, sind tatsächlich knapp bemessen – vor allem, wenn es sich um die Entwicklung und Geschichte dieses Genres handelt, scheint es eine ausgemachte Apathie zu geben.

So verhält es sich auch mit den heutigen deutschen Buchverlagen, die meine opulente »Illustrierte Geschichte der Kriminalliteratur« regelmäßig ablehnen. Aber wie soll man eine Nachfrage wecken, wenn es keinerlei Angebot gibt. Ich entdecke gewisse Parallelen zu mir und einer Figur aus diesem Buch, nämlich jenen spleenigen Herzog von R., der verrückt nach seinen Edelsteinen ist und ein Buch verfaßt hat mit dem vielsagenden Titel »›Die Geschichte kostbarer Steine‹ […] geschrieben, mehr zu seinem eigenen Vergnügen, als für andere; indes war das Buch vom Publikum mit Interesse aufgenommen worden, und die Stilfehler und grammatikalischen Schnitzer, an denen dasselbe reich war, hatten dem Rufe des Verfassers als Autorität in seinem Fache nicht schaden können.«

So geht es mir auch, nur mit dem Unterschied, daß ich mich keineswegs für Diamanten interessiere, stattdessen aber für die Kriminalliteratur vergangener Tage.

Dieses Buch besteht aus drei Erzählungen, die allesamt in London spielen und in einem typisch britischen, nüchternen Stil verfaßt sind. Die knappe, realistische Berichterstattung der Mrs. P. gerät immer mehr auf eine hyperrealistische Ebene, denn der Leser weiß, daß diese Erzählungen aus einem Lügengewebe bestehen, die vollkommen fiktional und also erfunden sind, gleichzeitig aber so treuherzig und realistisch erzählt werden, daß sich eine magische Dimension auftut. Dieses Phänomen findet sich auch bei jenem William Russel alias Waters, 1807–1877, der mit seinem Buch Recollections of a Policeman, 1852, eine ganz ähnliche Atmosphäre geschaffen hat und als der Urheber der englischen Kriminalerzählung gilt.

Schon bei der Lektüre der ersten Geschichte fiel mir die Qualität des Textes auf. Ludwig Gothe war ein Berliner Autor, der vor allem Mitte der 1860er Jahre mit dem Verfertigen von Kolportageromanen beschäftigt war. Der Stil und die sprachlichen Mittel dieser Erzählungen passen allerdings so gar nicht zu einem deutschen Autor dieser Gattung. Ich ahnte bereits, was das bedeuten könnte. Bei einem Telefonat mit Robert N. Bloch wurde mir klar, daß es sich womöglich mal wieder um eine deutsche Übersetzung eines englischen Textes handelt, und das der Autor entweder fingiert ist, oder der Übersetzer die Rolle des Autors übernommen hat.

Mit dem Wink Robert N. Blochs wurde die Erkenntnis beschleunigt, daß es sich um eine Übersetzung handeln muß – und mein Ehrgeiz wurde geweckt herauszufinden, wer der Urheber dieser Erzählungen ist. Ich brauchte immerhin mehr als einen halben Tag und wollte die Suche schon fast aufgeben, doch dann stieß ich tatsächlich auf eine sensationelle Entdeckung – zumindest für Nerds meines Schlages.

Ich vermutete also, daß Ludwig Gothe der Übersetzer dieser drei Erzählungen war, die er wahrscheinlich für eine Zeitschrift in den 1860er Jahren übersetzt und unter seinem eigenen Namen veröffentlicht hatte. Weniger der Spekulation verpflichtet und der nüchternen Erkenntnis geschuldet ist aber, daß diese Erzählungen dem Autor William Stephens Hayward, 1835–1870, zugeschrieben werden müssen, die dieser übrigens anonym veröffentlicht hatte. 

Ursprünglich hatte der Autor zehn dieser Geschichten um die Detektivin Mrs. Paschal geschrieben, die unter dem Titel Relevations of a Lady Detective, 1864, zusammengefaßt wurden. Aus der oberflächlichen Recherche im Internet wird klar, daß es sich wohl um die zweite Detektivin der Literaturgeschichte handelt, denn ein gewisser James Redding Ware habe unter dem Pseudonym Andrew Forrester ein halbes Jahr vor Hayward The Female Detective, 1863/1864, veröffentlicht, in der der Welt erstmals eine Detektivin vorgestellt wurde.

Hubin, der berühmte Bibliograph, behauptet aber, das Haywards Buch Relevations of a Lady Detective, 1864, bereits 1861 unter dem Titel The Lady Detective bei Vickers erschienen ist. Damit wäre Haywards weiblicher Ermittler doch die erste Detektivin in der Literatur. Es gab natürlich bereits vorher weibliche Detektive, nur waren diese Privatpersonen weder als Polizistinnen noch als Privatdetektivinnen tätig, sondern agierten aus eigenem Interesse an der Aufklärung von Geheimnissen. Zu Hayward schreibe ich am Ende dieses Textes noch einige Details, vorerst möchte ich mich aber der Titelheldin Mrs. P. widmen, die nämlich trotz einer etwas reduzierten Figurenzeichnung einige Eigenschaften enthüllt, die von Interesse sind.

In der deutschen Übersetzung wurde die Heldin konsequent als Mrs. P. benannt, was die Identifizierung der Autorenschaft erheblich erschwert hat. Dennoch erfährt der Leser, daß Mrs. P. eine überaus sensible, mitfühlende Person ist. In heutiger Zeit würde man die Dame als hoffnungslosen Gutmenschen mit Helfersyndrom verhöhnen, denn ihre persönliche Empathie beschränkt sich nicht nur auf die Menschen ihres unmittelbaren Umfeldes, sondern sie zeigt auch menschliches Interesse und Empathie für die Schurken, die sie überführt. Vor allem aber kümmert sie sich um die Befürfnisse ihrer Mitmenschen. Ihr jüngerer Bruder wächst bei ihr auf und sie finanziert ihm sein Studium und seinen Eintritt ins Berufsleben. Auch die Bedürfnisse ihres Vorgesetzen Mr. Warren sind ihr heilig, sie löst die kniffligsten Fälle für die Polizei und setzt sich dabei den größten Gefahren aus.

Ihr Mut wird dabei immer belohnt, obwohl sie weiß, daß sie sich lächerlich machen würde, wenn sie scheitert – oder sogar ihr Leben verliert. Auch den zehnjährigen Taschendieb William Doyle, den sie auf der Straße in flagranti bei Ausübung seines Berufs beobachtet, nimmt sie zuhause auf, macht ihn zu ihrem Komplizen, sorgt sich um seine Erziehung und kümmert sich um seine Aufnahme bei der Londoner Polizei, die ihn mit seiner Volljährigkeit aufzunehmen bereit ist.

Mit anderen Worten Mrs. P. ist eine empathische, wohlwollende Frau, die sogar mitfühlend aufseufzt, als sie von dem Selbstmord der dubiosen Gräfin erführt, die sich im letzten Augenblick dem Zugriff der Behörden widersetzt. Ihr nüchterner Blick auf die Welt ist ohne Verbitterung, sie ist eine eifrige Beobachterin und hat sogar Empathie für die Schurken, die sie verfolgt, dabei bedient sie sich einfacher, polizeilicher Mittel wie Observation, Aufspüren von Geheimnissen, Kombination und anderen altertümlich wirkenden Methoden der Polizeiarbeit.

In Deutschland gab es gleich drei Ausgaben dieses Auswahlbandes unter der fingierten Autorenschaft von Ludwig Gothe – und so handelt es sich hier wohl um die ersten deutschen Ausgaben mit Texten zu der ersten Detektivin der Kriminalliteratur:
L. Gothe: Denkwürdigkeiten einer Londoner Geheimpolizistin,
Dresden: Berthold Sturms Verlag um 1900, 
Die interessantesten Kriminal-Romane aller Länder [unnumeriert], 94 Seiten;
L. Gothe: Denkwürdigkeiten einer Londoner Geheimpolizistin,
Dresden: Meteor um 1905, Meteor-Romane Band 16, 80 Seiten;
L. Gothe: Im dunkelsten London,
Berlin: Norddeutsche Verlags-Anstalt L. Hohenstein & Co. um 1905,
Moderne Kriminal-Romane [unnumeriert], 94 Seiten.
Alle drei Ausgaben sind textidentisch.

William Stephens Hayward, 1835–1870 wurde im gleichen Jahr wie sein Übersetzer Ludwig Gothe geboren, und war wohl der Schöpfer der ersten Detektivin der Literaturgeschichte. Über den Autor sind einige kleine Anekdoten bekannt, so soll er ein Lebemann gewesen sein, der häufig dem Alkohol zusprach und bedauerlicherwese einer Vergewaltigung an einem Dienstmädchen bezichtigt wurde, doch nach der Vertagung des Prozesses tauchte die Hauptbelastungszeugin nicht mehr auf – und so wurde das Verfahren gegen Hayward eingestellt.

Angeblich sei Hayward einige Jahre durch aller Herren Länder gereist, speziell Australien, um sich 1860 zuhause in England niederzulassen, wo er eine Reihe von Sensationsomanen veröffentlichte – und für Jugendliche und Heranwachsende Abenteuergeschichten verfaßte. Hayward war verheiratet. Er brachte es fertig innerhalb weniger Jahre ein Vermögen durchzubringen, Alkohol, Prostituierte und Glücksspiel scheinen seine beständigen Begleiter gewesen zu sein. Das Vermögen der Familie stammte aus einer Erbschaft seines Onkels, das aus einem Gutshaus und großen landwirtschaftlich genutzten Ländereien bestand. Hayward schrieb auch einen Lost Race-Roman mit dem Titel The Cloud King; or, Up in the Air and Down in the sea. Being a history of the wonderful adventures of Victor Volans, 1865, der ein unbekanntes Volk in Australien beschreibt, das umgeben von Vulkanen völlig abgeschlossen von der Zivilisation existiert.

Darüberhinaus war er bekannt für eine Reihe von serialisierten Romanen, die sich mit dem amerikanischen Bürgerkrieg auseinandersetzen, sowie für einige Adaptionen von Autoren wie Paul Feval und Paul du Plessis, die er wohl übersetzte und bearbeitete. Seine Popularität verdankte er jedoch seinen vielen Publikationen in den damaligen Zeitschriften für Jugendliche und Heranwachsende. Sein Werk umfaßt über 50 Romane, deshalb gab es auch den Verdacht, daß er sich Lohnschreiber hielt, die für ihn arbeiteten.

Der große Robert Louis Stevenson hat zu Haywards Bewunderern gezählt – in dem Essay Popular Authors, 1888, feiert Stevenson einige Unterhaltungsautoren, die nicht zur Hochliteratur gerechnet wurden, aber dennoch Beachtung finden sollten, darunter insbesondere William Stephens Hayward.