T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Ellery Queen: »Das Geheimnis des Lippenstifts«, 1932
von Mirko Schädel



Ellery Queen, das sind Frederick Danney, 1905–1982, und Manfred Bennington Lee, 1905–1971: Das Geheimnis des Lippenstifts, Berlin: Rot-Blau-Verlag 1932, 279 Seiten, Schutzumschlag mit der Signatur »Wa«


Das Geheimnis des Lippenstifts, 1932, ist ein sehr routinierter und spannender Kriminalroman, der durch die ausufernden Befragungen der Zeugen an einen Gerichtskrimi erinnert. Über die beiden Cousins Frederic Dannay, 1905–1982, und Manfred Bennington Lee, 1905–1971, die unter dem Pseudonym Ellery Queen gemeinsam Krimis verfaßten, braucht man kaum Worte machen.

Der Roman ist in Episoden eingeteilt, die die verschiedenen Handlungsorte bezeichnen. Die erste Episode spielt beinah ausschließlich in dem Raum eines Schaufensters in einem Kaufhaus in der 5th Avenue Ecke 39. Straße in Manhattan. Das Buch ist zurecht in der Goldenen Ära des Kriminalromans zu verorten – in einer Zeit, als die prächtigen Warenhäuser New Yorks und deren Schaufenster noch von internationalen Künstlern gestaltet und ausgestattet wurden und in der eine Flut von hochwertigen Kriminalromanen das Publikum erfreuten. Es war damals durchaus üblich die Schaufenster der Luxuskaufhäuser von Künstlern wie Dali oder Picasso gegen entsprechendes Honorar gestalten zu lassen. So bekommt der Beruf des Schauwerbegestalters eine ganz neue Dimension.

In einem dieser Schaufenster des Kaufhauses wurde gegen 12 Uhr täglich ein Vorhang beiseite geschoben und eine schwarze Frau beschrieb gestisch die Funktionsweise eines modernen Klappbettes, das mit allem erdenklichen technischen Schnickschnack ausgestattet ist. Nach dieser Demonstration und dem Hinweis, daß der Designer dieses Möbels gegen 16 Uhr einen Vortrag in diesem Warenhaus halten wird, schließt sich der Vorhang wieder. Nur diesmal gerät diese Werbemaßnahme zu einer Farce, denn als das Klappbett mit einem Knopfdruck sich von der Wand herabsenkt, wird die Leiche einer Dame sichtbar. Und diese Dame ist die Gattin des Warenhausbesitzers Cyrus Frank, der gerade im sechsten Stock in seinem dortigen Privatappartment mit seinen Direktoren über eine Firmenfusion verhandelt. Darüberhinaus scheint seine Stieftochter Bernice verschwunden zu sein,  die, wie im weiteren Verlauf deutlich wird,  kokainabhängig ist.

Die Kriminalpolizei wird verständigt, und Inspektor Queen, ein älterer, routinierter, aber nicht allzu kreativer Geist übernimmt diesen Mordfall, im Kielwasser von seinem Sohn Ellery Queen begleitet, der über die nötige Beobachtungsgabe und Phantasie verfügt um auch die verwickelsten Verbrechen aufzuklären, dessen offizielle Funktion aber der Autor völlig offen läßt. 

Die erste Episode des Romans wird sich neben einem kurzen Vorgeplänkel fast ausschließlich den Befragungen der vielen Zeugen widmen. Cyrus Frank, Inhaber des Kaufhauses, ist durch den Mord an seiner Frau völlig gebrochen und nicht fähig die Fragen zu beantworten. Nach einiger Zeit absentiert sich Ellery Queen von den Befragungen mit seinem alten Schulfreund Mr. Webb, der ein persönlicher Assistent von Cyrus Frank ist und der in Franks erste Tochter Marion verliebt ist. Webb und Ellery Queen fahren in den sechsten Stock in die Privatwohnung von Cyrus Frank und untersuchen die Räume systematisch, wobei verschiedene interessante Spuren zutage treten.

Es geht um fünf fragwürdige Bücher und zwei Bücherstützen, ein Lippenstift, Kippen in einem Aschenbecher und dergleichen mehr. Die Vorgänge in der Privatwohnung sind der zweiten Episode zuzuordnen und enden kurz nach dem Eintreffen des Polizeipräsidenten im Warenhaus. In der Privatwohnung sichert Ellery Queen zahlreiche Spuren und beginnt langsam mit der Rekonstuktion des Verbrechens. Auch die Frage, wie der Mörder in das Kaufhaus hinein- und wieder hinausgekommen ist, beschäftigt den jungen Mann.

Die dritte Episode findet im Brownstones der Queens statt, die dort allerlei Zeugen empfangen und befragen. Die Verwicklung mit einem Rauschgiftring hüllt den Mordfall in ein noch mysteriöseres Dunkel. Die zahlreichen Aussagen und Alibis werden von Ellery Queen in ein zerschlissenes, ledergebundenes Büchlein notiert. Der Lippenstift, den die Ermordete bei sich trug, ist jedoch nicht mit ihrem aufgetragenen Lippenrot identisch. Aber in der Privatwohnung ihres Mannes findet sich Mrs. Franks Lippenstift, und in diesem findet Ellery eine Kapsel mit Kokain. Mrs. Frank war jedoch keine Kokainkonsumentin, im Gegensatz zu ihrer Tochter, die immer noch unauffindbar ist.

Ellery entdeckt, daß der Rauschgifthandel aus dem Warenhaus heraus kontrolliert wurde – und das die Buchabteilung des Warenhauses über ein Kodierungssystem verfügte, das die schnell den Ort wechselnden Umschlagplätze der Drogen bestimmt hatte. Die letzte Episode findet wieder in der Privatwohnung von Cyrus Frank im sechsten Stock des Warenhauses statt, wo die Queens eine Unzahl von Zeugen und Verdächtigen im Konferenzraum versammeln. Dort rekonstruiert Ellery akribisch den gesamten Tathergang und enthüllt am Ende den Täter durch ein Ausschlußverfahren.

Der Roman ist glücklicherweise wohl nur wenig oder gar nicht gekürzt worden und lag in den Händen eines versierten Übersetzers, nämlich Paul Baudisch, der ein Meister seines Fachs war. Das Geheimnis des Lippenstifts ist ein wirklich versierter, extrem spannender Detektivroman mit einer treffend gezeichneten Atmosphäre jenes längst erloschenen New Yorks um 1930. Ellery Queen ist ein intellektueller Einzelkämpfer, kein Teamplayer, und sein Vater ein zwar routinierter, aber völlig überforderter Inspektor, der ohne die Hilfe seines Sohnes wohl scheitern würde. Doch der Leser erfährt nicht, warum der Sohn von Inspektor Queen ermittelt und in welcher Funktion er auftritt. Der Polizeipräsident ist ein nichtsnutziger, fetter, aufgeblasener Kerl, stetig von seinen Vasallen umgeben, der von den Queens trickreich aus den Ermittlungen herausgehalten wird, da er offenbar auf die Arbeit eher einen hemmenden Einfluß hat.

Die Konstruktion des Romans ist  gelungen und plausibel, die Autoren überlassen nichts dem Zufall – und kurz vor Ende des Romans wird auch dem Leser endgültig klar, wer der Täter dieses rätselhaften Mordes gewesen ist.