T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

anonym, das ist Laurids Kruse: »Der Mörder bey kaltem Blute und mit Ueberlegung, und doch ein Mann, welcher Achtung verdient. Ein psychologischer Versuch aus den nachgelassenen Papieren eines Verstorbenen«, 1806
von Mirko Schädel



anonym, das ist Laurids Kruse: Der Mörder bey kaltem Blute und mit Ueberlegung, und doch ein Mann, welcher Achtung verdient. Ein psychologischer Versuch aus den nachgelassenen Papieren eines Verstorbenen, Kiel: Neue Akademische Buchhandlung 1806, 254 Seiten


Laurids Kruse, 1787–1840, war ein dänischer Schriftsteller, der später auch in deutscher Sprache zahlreiche Kriminalromane und -erzählungen veröffentlichte. Kruse war ein Treiber der frühen Kriminalliteratur in Deutschland und hatte sicherlich großen Einfluß auf die ersten Dekaden dieses frühen Genres, das sich noch im Entwicklungsstadium befand.

Der Mörder bey kalten Blute, 1806, ist ein frühes Meisterwerk dieser Gattung. Das Buch ist ebenso spannend wie interessant – und birgt auch philosophische und moralische Fragen, die sehr geschickt in diesen Spannungsroman eingewoben sind.

Zu Anfang des Romans lernen wir den Advokaten R. kennen, der mit verschiedenen Leuten in Kopenhagen in Kontakt gerät und auch einige wenige Freundschaften schließt, denn der Advokat ist ein feinsinniger, aber auch witziger Zeitgenosse, der viele charakterliche Vorzüge besitzt. Einer seiner Freunde, der jedoch namenlos bleibt, erzählt nun die Geschichte des Advokaten, der in der letzten Zeit seinen Freunden gegenüber unruhig und nervös erscheint. Besonders die flatterhafte Launenhaftigkeit der letzten Wochen gibt Rätsel auf, der Advokat ist mal zu Tode betrübt und sehr nachdenklich, dann aber wiederum unbeschwert und gesellig. Eines Tages lädt dieser Mann seine engsten Freunde zu einem Abendessen, bei dem auch zwei den Freunden unbekannte Herren, ein junger und ein alter Mann, zu dem Festschmaus erscheinen. Das Mahl zieht sich bis in die Nacht hin, auch zieht sich der Advokat mit einem der fremden Herrn für einige Zeit in einen abgeschlossenen Raum zurück. Doch sehr spät kommt es zu einem unerwarteten Ereignis, denn der alte Herr, ein reicher Geizkragen, stirbt urplötzlich auf seinem Stuhl an der Festtafel, alle Widerbelebungsversuche scheitern.

Zwei der Gäste, darunter der Erzähler, unterhalten sich später auf dem Heimweg über ihren Freund den Advokaten und den seltsamen Todesfall. Der Gesprächspartner, der den Advokaten sehr gut kennt und schon lange mit diesem befreundet ist, läßt durchblicken, daß er überzeugt sei, daß der Advokat den Alten ermordet habe. Er wolle der Sache auf den Grund gehen, doch wird er seine Absicht nicht verfolgen können, denn der Mann stirbt kurze Zeit darauf eines natürlichen Todes.

Auch die Leiche des alten Herrn, immer als der Alte beschrieben, wird nicht näher untersucht, und man hält sein Ableben für naturgegeben. Einen Tag nach dem Ableben des Alten reist der Advokat nach Deutschland und kehrt nie wieder in sein Heimatland Dänemark zurück.

Unser Erzähler, der die Umstände selbst miterlebt hat, wird viele Jahre über diesen Mord nachdenken, doch kann er die Zusammenhänge nicht begreifen. So vergehen zwanzig Jahre bis unser Erzähler sich zur Erholung nach Pyrmont begibt, wo er zufällig hört, daß sein alter Freund der Advokat dort in seiner Wohnung bettlägerig geworden ist und wohl bald sterben wird.

Der Erzähler begibt sich sofort zu seinem Freund und wird dort herzlich empfangen. Der Advokat liegt fortwährend im Bett und erzählt langsam episodisch seine Lebensgeschichte, zumindest die Passagen, die ihm erwähnenswert erscheinen und die ein deutliches Licht auf seinen gutmütigen Charakter werfen, aber auch einige läßliche Sünden seiner Jugend verschweigt der Totgeweihte nicht. Der Advokat hat sich auch verschiedener Verfehlungen schuldig gemacht, doch vorerst wird die Mordgeschichte nicht erwähnt, und der Erzähler ist ausgesprochen neugierig und hofft, daß der Freund die rätselhafte Geschichte anspricht.

Tatsächlich wird der Leser nun Zeuge einer tiefgreifenden Erzählung, die zu jenem Mord von vor zwanzig Jahren geführt hatte – diese Erzählung ist eine Mischung aus früher Kriminalgeschichte und einer Verbrechensdichtung in der Art von Dostojewskis Roman Rodion Raskolnikoff bzw. Schuld und Sühne.

Der Advokat berichtet rückblickend wie er eines Tages den Besuch des Alten erhält, der ihn bittet eine Rechtstreitigkeit für ihn vor Gericht zu führen. Es geht um das Erbe des Bruders und die Vollmacht über dessen Geschäfte, die von der Witwe angefochten werden. Die Witwe sieht sich von dem Alten betrogen, doch letzterer ist in der Lage lückenlose, schriftliche Beweise für seinen Prozeß beizubringen. Der Advokat steht in sehr gutem Rufe und gilt als rechtschaffener Mann, der seinen Beruf mit Bravour ausübt. Die Sache gelangt vor Gericht, und die Witwe verliert, sie verliert aber nicht nur den Prozeß, sondern in Folge dessen ihr gesamtes Vermögen.

Doch dem Advokaten ist nicht ganz wohl bei der Sache, denn kurz vor dem Prozeßtag erhielt er noch ein Schreiben der Gegenseite, daß offenherzig zu erkennen gibt, daß die Witwe und ihre beiden Kindern betrogen werden und wie es sein könne, daß ein so rechtschaffener Mann wie der Advokat die Sache des Alten vor Gericht vertrete.

Auch Freunde scheinen sich von ihm abzuwenden. Und einige Zeit darauf bei einem Besuch auf dem Lande, lernt der Advokat eine ältere Dame und deren Kinder kennen, nämlich Pauline und Gustaf. Ein alter Freund führt den Advokaten bei der Familie ein, dabei sorgt ersterer dafür, daß sich die Beteiligten vorerst nicht mit Namen kennen. Die Sympathien sind gegenseitig und als der Besuch beendet ist, erklärt der Freund des Advokaten diesem, daß die Familie den Namen trage, den er, der Advokat, in den Schmutz gezogen habe – denn es handelt sich hier um die betrogene Witwe und ihre zwei Kinder, die den Prozeß auch aufgrund der Tätigkeit des Advokaten verloren hatten.

Erst nach und nach begreift der Advokat, daß er von dem Alten, seinem Mandanten, getäuscht wurde. Er ahnt vorerst, daß sein Mandant Monate dazu verwandt hatte, sämtliche Papiere zu fälschen oder zu manipulieren, und ihm wird klar, daß sein Mandant einen großangelegten Betrug auf Kosten dieser Familie begangen hatte, die nunmehr lediglich von dem kleinen Vermögen der Stieftochter Pauline zehrt. Der Advokat beginnt sich in Pauline zu verlieben und darüberhinaus schwört er sich den Betrug an der kleinen Familie aufzudecken und wenn irgend möglich das geraubte Vermögen rückzuerstatten.

Der Advokat gibt sich gegenüber der Witwe und ihren Kindern zu erkennen und erklärt, daß er alles in seiner Macht stehende tun werde, damit das Recht wiederhergestellt werde. Er selbst sei ebenso wie die Familie von seinem Mandanten betrogen worden. Er beginnt die alten Papiere, die im Prozeß eine Rolle spielten, noch einmal durchzusehen, doch sein Mandant hatte allzu viel Zeit um seine Verbrechen geschickt zu verbergen. Alle rechtlichen Mittel führen jedoch zu nichts, denn dem Mandanten ist vorerst nichts nachzuweisen. Auch ist der Alte überaus geschickt und weiß sich trickreich den Anfechtungen zu erwehren.

Gustav, der den Betrug an sich und seiner Mutter durchschaut, der aber auch begreift, daß seinem Onkel wohl nicht beizukommen ist, erwähnt in seinem jugendlichen Eifer, daß er den Alten ermorden wolle. Der Advokat bremst dieses Ansinnen. Doch alle weiteren Gegenmaßnahmen, die der Advokat ergreift, scheitern.

In seinem jugendlichen Eifer begeht Gustaf einen fatalen Fehler. Durch einen Zufall erhält er den Schlüssel zu der Wohnung seines Onkels. Er schleicht sich des Nachts in die Wohnung, erbricht die Laden des Sekretärs und stiehlt eine rote Brieftasche, denn er glaubt, daß darin Beweise für den Betrug zu finden sind. Doch als er später bemerkt, daß in der Brieftasche nur bares Geld steckt, kehrt er zurück in die Wohnung des Onkels um die Beute zu erstatten – und wird von diesem auf frischer Tat ertappt. Als Dieb und Einbrecher gebrandmarkt wird Gustaf langsam klar, was er damit angerichtet hat. Der Alte läßt den Advokaten rufen und ein schriftliches Geständnis seines Neffen unterschreiben. Nun hat der Alte ein Papier in Händen, daß ihm die Familie völlig untertan macht, einer Familie, die er durch seinen Betrug fast zu Bettlern machte.

Bis zu diesem Zeitpunkt hofft der Advokat immer noch auf eine gerichtliche Auseinandersetzung, doch der Alte läßt durchblicken, daß er zum äußersten geht und den Neffen vor Gericht bringt, wenn die Familie sich seinen Wünschen widersetzt oder versuchen sollte sich das gestohlene Vermögen zurückzuholen. Mit der Inhaftierung Gustavs wäre die bürgerliche Existenz der Familie mit einem Schlag vernichtet, sie wären allesamt Aussätzige und Geächtete.

Als jedoch der Alte seiner Nichte Pauline, die mit dem Advokaten so gut wie verlobt ist, einen Brief sendet in dem er um deren Hand bittet, da wird die neue erpresserische Absicht des Alten klar. Wenn Pauline sich ihm verweigern sollte, dann würde er Gustav aufgrund seines schriftlichen Geständnisses über die Klinge springen lassen.

Nun befinden sich alle Figuren in einer Art kollektiven Tobsuchtsanfalls. Für jeden einzelnen von ihnen bedeutet die neueste Wendung ein Tragödie. Gustaf ist sich im klaren darüber, daß sein vermaledeiter Einbruch das Schicksal seiner Schwester besiegelt hat. Er will sich suizidieren, doch der Advokat hindert ihn. Pauline wird den Alten heiraten und dem Geliebten entsagen müssen.

Pauline ist verstummt und völlig verzweifelt, doch bemüht sie sich redlich das nicht sehen zu lassen. Die Witwe sieht sich für alle Zeiten ihres Eigentums beraubt und ihre Kinder in einer mehr als quälenden Abhängigkeit zu einem Mann, der teuflische Absichten verfolgt. Der Advokat sieht sich betrogen, erniedrigt, und seiner Liebsten beraubt. 

Der Alte erkrankt jedoch heftig, es kommt für die Beteiligten zu einer Atempause, doch die Erleichterung hält nicht lange vor. Der Alte erholt sich schneller, als der Familie lieb sein kann und er besteht auf die Umsetzung seiner Pläne.

Dem Advokaten wird klar, daß er, der den Betrug durch sein Geschick erst möglich gemacht hatte, mitverantwortlich ist für die verzweifelte Lage der Familie. Er begreift, daß Gustafs Idee vom Mord an dem Onkel doch nicht so abwegig ist. Er erkundigt sich bei seinen Freunden über ungewöhnliche moralische Fragen, die er den Freunden als Parabeln darbietet, um ihnen verschlüsselt das Geschick seiner Freunde zu illustrieren, und bittet seine Zuhörer danach um ihre Meinung. Seine Entscheidung reift, und als der Alte wieder hergestellt ist, lädt er diesen zu einem Abendessen ein, wo er ihn gut getarnt im Kreise seiner Freunde vergiftet. Der Nachlaßverwalter des Alten entdeckt entsprechende Papiere, die den Betrug an seinen Verwandten aufdeckt.

Doch einen Tag nach dem Mord schickt der Advokat einen Abschiedsbrief an Pauline, und kündigt ihr seine sofortige Abreise an. Er entsagt ihr in Liebe und hofft, daß sie glücklich werden würde. Er werde nie nach Dänemark zurückkehren. Dieser Verzicht, der ihm sehr schwer fiel, war eine bewußte Entscheidung, denn er wollte von dem Mord, den er begangen hatte, keinerlei Vorteil ziehen, denn das hätte sein Gewissen nicht Frieden finden lassen. Pauline versteht zwischen den Zeilen zu lesen, sie begreift welches Opfer er gebracht habe und wünscht ihm Glück.

Der Roman streift natürlicherweise einige philosophische Fragen, die auch Dostojewski viel später ausführlich erörtert hat – und deren Beantwortung beträchtliche Schwierigkeit bereiten. Dieser Mord ist jedoch im Gegensatz von Raskolniffs Verbrechen ein völlig uneigennütziges, denn der Mörder profitiert in keinster Weise, im Gegenteil, er büßt seine Geliebte stattdessen ein. Das einzige, was ihm zustatten kommt, ist möglicherweise die Genugtuung ein echtes Arschloch ins Jenseits befördert zu haben. Er beging diesen Mord um seine Freunde, jene kleine Familie, von dem tragischen Schmerz und der Drangsal und Verzweiflung zu befreien. 

Solange die Figuren literarische Fiktionen sind, dürfte niemand etwas gegen das Verfahren des Advokaten einzuwenden haben, aber lebendige Menschen sind ambivalent, wer möchte sich da zum Vollstrecker und Richter in einer Person aufspielen?

Neben den philosophischen Fragen dieses Romans darf man das Buch aber auch als reinen Spannungsroman betrachten, und obwohl er bereits 215 Jahre alt ist, hat die Spannkraft der Erzählung nichts verloren. Ich habe es nachmittags begonnen und war bis um ein Uhr in der Nacht mit einer längeren Unterbrechung damit beschäftigt, mit anderen Worten, das Buch ist sehr spannend und unterhaltsam. Auch setzt der Autor lobenswerter Weise die Religion an mancher Stelle mit Aberglauben gleich, was meine persönliche Wertschätzung dieses Autoren ungemein steigert. Manche Passagen dürften dem Pfaffentum einiges Unbehagen bereitet haben, so ist es auch nicht verwunderlich, daß man das Buch in den meisten großen Bibliotheken kaum findet.

Sprachlich ist es in einem nahezu modernen Stil verfaßt, natürlich gibt es einige Umständlichkeiten, die der Zeit geschuldet sind, auch einige Schreibweisen wirken naturgemäß antiquiert, dennoch kommt der Text ohne sentimentalen Kitsch aus. Die Liebesbeziehung zwischen dem Advokaten und Pauline gäben einen fruchtbaren Acker für diesen Kitsch ab, doch Kruse scheint glücklicherweise einen Widerwillen zu haben diesen fragwürdigen Publikumsgeschmack zu bedienen. Die Liebesbeziehung ist recht realistisch gezeichnet. Am Ende der Tragödie, als der Advokat auf dem Sterbebett nach seiner Erzählung den letzten Atemzug getan hat, gibt es noch einen kurzen Epilog, denn unser namenloser Erzähler erhielt noch den Auftrag jene Familie in Dänemark zu besuchen und einen Brief für Pauline zu übergeben – und die gesamte Familie zu grüßen – auch den Ehemann Paulinens.

Dieser Part ist nicht sentimental oder kitschig, dennoch gibt es einige starke, rührende Szenen, die die Liebe in ihrer stärksten Form beleuchtet, die Liebe nämlich, die das Opfer des Verzichts beschreibt – und die uneigennützig dem geliebten Gegenüber eine glückliche und erfüllte Partnerschaft wünscht.

Eine Detektion findet man in diesem Roman vergeblich, dennoch rechne ich es der Kriminalliteratur zu, denn die ganz alten Spuren dieser Gattung sind meist zwittrige Wesen, die noch schemenhaft nach einer Form suchen, die sich erst langsam entwickeln wird. Wir wissen, wer der Mörder ist und kennen sein Motiv, wir ahnen, daß er keine Sühne zu befürchten hat. Sein Verbrechen beging er kalten Herzens und er ist ein ehrenwerter Mann – die Mafia wird einen ähnlichen Kodex verinnerlicht haben.

Aber die Mystifikation dieses Mordes, die Absichten des Mörders bleiben über weite Teile des Romans unbekannt, und unser namenloser Erzähler drängt es aus eigenem Interesse Licht ins Dunkle dringen zu lassen. Insofern ist er eine Art Detektiv, dessen Interesse auch nach zwanzig Jahren nicht nachläßt und der durch einen Zufall ans Sterbebett seines Freundes des Mörders gerät, der ihm dann die ganze Geschichte verrät. Der bösartige Betrüger und Erpresser, jener Alte, wird zu seinem Opfer erkoren. Der Advokat wird zum Richter und zum Henker in einer Person, und angesichts der aussichtslosen Situation der Witwe und ihrer Kinder, kann man diese Tat – zumindest in literarischer Hinsicht – entschuldigen. Man möchte dem Mörder die Schulter klopfen und ihm gratulieren: Glück auf! Es hat den richtigen getroffen!