Hans Hyan: »Der Hellseher« um 1911
von Mirko Schädel
Hans Hyan: Der Hellseher, Berlin: Steinitz um 1911, 109 Seiten
Der Hellseher ist ein in Berlin spielender Kriminalroman mit phantastischem Einschlag. John Deventer, der sein Glück in Südamerika gemacht hatte, ist auf dem Weg zu seiner Braut in Berlin, der jungen Else von Wusterwitz.
Doch nach dem er die elterliche Wohnung seiner Else betritt, wird er vom Hausherrn, dem Geheimen Regierungsrat von Wusterwitz abgefaßt [alter preußischer Adel], und zu einem offensichtlich ernsten Gespräch gebeten. In diesem Gespräch eröffnet der künftige Schwiegervater, daß ihm einige Dinge aus dem Vorleben Deventers zu Ohren gekommen seien, die es ihm unmöglich machten Deventer die Hand seiner Tochter zu reichen.
Auf die Frage, worum es nun genau gehe, äußert der alte, konservative von Wusterwitz, ob es stimme, daß Deventer eigentlich ein Deutscher namens Hans von Ostergarten sei, was Deventer bzw. von Ostergarten bestätigt. Danach eröffnet von Wusterwitz, daß es wohl auch richtig sei, daß Ostergarten in seinen jugendlichen Jahren zwölf Monate in Untersuchungshaft zugebracht habe und als Mörder verdächtigt wurde, aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde – und er damit zwar auf freien Fuß geriet, aber seine Unschuld nicht bewiesen wurde.
Auch das bejaht von Ostergarten und ahnt, was ihm nun blüht. Seine Braut wird ihm entrissen, seine Ehre steht auf dem Spiel. Von Ostergarten fragt noch nach den Quellen, aus denen diese Informationen stammen, und ihm wird mitgeteilt, daß der Bruder seiner Braut, ein junger Offizier, dies alles von einem Rechtsanwalt gehört habe. Von Ostergarten verläßt die Wohnung und eilt in sein Hotel. Nachdem er einige Nachforschungen angestellt hat, gibt er klein bei und beschließt nach Südamerika zurückzukehren, da seine Heimat ihn zunehmend anwidert und er auch keine Möglichkeit sieht, seine Unschuld zu beweisen.
Er kauft eine Schiffspassage nach Buenos Aires und eine Bahnfahrkarte nach Hamburg um sich auf dem schnellsten Wege zu entfernen. Doch nach den Aufregungen, die ihm die ganze Sache bereitet hat, kehrt langsam die bittere Erkenntnis wieder, daß er seiner Else nun auf immer Lebewohl sagen muß, was ihm zunehmend an die Nieren geht. Vor allem sieht er keine Möglichkeit sich von seiner Braut zu verabschieden.
Noch im Wartesaal auf dem Bahnhof begegnet er einem unbekannten Herrn, der eine etwas seltsame Aura hat. Dieser Herr namens Mr. Weyler, ein Amerikaner, der ebenfalls auf dem Weg nach Südamerika ist, scheint in von Ostergartens Gesicht lesen zu können. Tatsächlich erzählt dieser rätselhafte Mann ihm, daß er gerade seine Liebste verloren habe, und dies mit einem traurigen Ereignis aus von Ostergartens Vergangenheit zu tun habe.
Auch teilt ihm Mr. Weyler mit, daß er ein gebürtiger Holsteiner sei, und dritte von ihm behaupten, er habe das zweite Gesicht, sei eine Art Hellseher und könne auch in den Physiognomien der Menschen lesen. Von Ostergarten, dem die ganze Sache etwas unheimlich wird, verabschiedet sich von dem Fremden, als sein Zug angesagt wird.
Doch in dem Zug begegnet er dem Fremden erneut, da letzterer offenbar keinen freien Platz finden konnte und widerstrebend das Abteil von Ostergarten aufsucht und sich dort niederläßt. Bis zu dem Zeitpunkt an dem die mitfahrenden Passagiere das Abteil verlassen, schweigen die beiden Herren, doch dann kommt ein längeres Gespräch in Gang, in deren Verlauf Mr. Wyler die Hälfte von Ostergartens Geschichte vorhersagt, und die fehlende Hälfte der Geschichte erzählt nun Herr von Ostergarten.
Auf dem Gut, auf dem von Ostergarten vor Jahren als junger Mann arbeitete, war ein Mann erschossen worden. Da die Schusswaffe mit dem der Mann getötet wurde von Ostergarten gehört hatte, wird letzterer als Mordverdächtiger verhaftet und später in der Gerichtsverhandlung wegen mangelnden Beweisen freigesprochen.
Mr. Weyler bittet von Ostergarten nicht nur die genauen Verhältnisse auf dem Gut zu erinnern, sondern auch die beteiligten Personen und deren Gesichter zu beschreiben, da Mr. Weyler die Fähigkeit hat in Gesichtern wie in einem offenen Buch zu lesen und die Charaktere und deren Geschichte einzuordnen.
Als von Ostergarten am Ende der Geschichte ist und seiner Verzweiflung Raum läßt über den Verlust seiner Braut, taucht letztere unvermittelt in dem Abteil auf und begrüßt leidenschaftlich ihren ehemaligen Bräutigam. Mr. Weyler zieht sich kurz zurück und läßt die Liebenden turteln, bis auch die ehemalige Schwiegermutter auftaucht und freundlich aber bestimmt das Zusammentreffen unterbricht.
Als Weyler wieder das Abteil betritt und die beiden sich weiter über den Fall unterhalten, erklärt Weyler, er werde zusammen mit von Ostergarten in Hamburg den nächsten Zug zurück nehmen und sich gemeinsam mit ihm zu dem Gut begeben. Mr. Weyler fragt von Ostergarten, ob er sich äußerlich sehr verändert habe seit jener Zeit, und letzterer erklärt, man werde ihn auf dem Gut sicher nicht mehr wiedererkennen.
Mr. Weyler mutiert langsam zu einem zielstrebigen Detektiv, doch sein zweites Gesicht ist auch nicht zu verachten, denn bei Ankunft der beiden nunmehr befreundeten Herren, die sich als zahlende Jagdgäste auf dem Gutshof einquartieren, zieht er bereits Schlüsse über die ihnen begegnenden Protagonisten von einst – doch hält sich Mr. Weyler gegenüber von Ostergarten vorerst bedeckt.
Aber Mr. Weyler macht viele weitere interessante Beobachtungen und sammelt Indizien, die langsam den Ablauf der Mordgeschichte veranschaulichen. Das ganze war ein aus dem Ufer geratenes Eifersuchtsdrama, das Mr. Weyler der alleinstehenden und unsteten Gutsbesitzerin schon von Anfang an im Gesicht abgelesen hatte – doch erst als er auch die nötigen handfesten Beweise für das Verbrechen findet, tritt er bewaffnet und gemeinsam mit von Ostergarten in das Eßzimmer, in dem sich die Beteiligten [und Nutznießer] des Verbrechens gerade versammelt haben.
Dort legt er seine Indizien und Beweise offen und zwingt die Beteiligten die Wahrheit zu sagen. Mr. Weyler nimmt auch die Verhaftung vor und informiert die Polizei. Heimlich telegraphiert der Hellseher an die Familie von Wusteren und berichtet von der endlich bewiesenen Unschuld des Herrn von Ostergarten, der bereits auf dem Weg zu seiner Braut ist und dort freudig von der Familie erwartet wird. Aus dem ferneren Schicksal Mr. Weylers ist uns nicht bekannt.
Der Roman ist in einem typisch konservativen, wilhelminisch-preußischen Ton verfaßt. Man wird mit einem Ehrenkodex vertraut, der einem Tränen der Belustigung in die Augen treibt. So berichtet Hyan auch von einem Offizier, der geohrfeigt seinen Dienst quittieren muß, falls der Übeltäter nicht satisfaktionsfähig – und also ehrlos ist. Ist der Übeltäter satisfaktionsfähig muß der Gedemütigte zum Duell fordern.