T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Alice Campbell: »Abenteuer und Herzeleid um Claire«, 1940

von Mirko Schädel


Alice Campbell: Abenteuer und Herzeleid um Claire, Erlenbach-Zürich: Eugen Rentsch 1940, 418 Seiten, Schutzumschlag und Einband von G. Böhmer


Alice Ormond Campbell, 1887–1955, war eine in den USA geborene britische Kriminalautorin. Ursprünglich stammte sie aus Atlanta, Georgia, wo sie zu der gesellschaftlich prominenten Familie Ormond gehörte. Alice zog im Alter von neunzehn Jahren nach New York City und entwickelte sich zur Sozialistin und Frauenrechtlerin. Später zog sie nach Paris. Dort heiratete sie den in Amerika geborenen Künstler und Schriftsteller James Lawrence Campbell. Sie hatte drei Kinder. Nach dem Ersten Weltkrieg verließ die Familie Frankreich und ging nach England, wo Campbell bis 1950 weiterhin Krimis schrieb. Campbell veröffentlichte ihren ersten Kriminalroman, The Juggernaut, im Jahr 1929, den ich hier an anderer Stelle vorgestellt habe. Sie schrieb während ihrer Karriere mindestens neunzehn Detektivromane. Einige ihrer Krimis aus der Goldenen Ära spielen in Paris, dabei porträtierte sie offenbar auch Figuren wie Gertrude Stein und Aleister Crowley. Ihre Romane sind alles andere als prüde, sie beschrieb Sexualität für ihre Zeit außergewöhnlich modern und ihre Frauenfiguren stecken häufig in einem Prozeß der Emanzipation und Selbstbestimmung.

Man lasse sich von dem blumigen Titel nicht irreleiten, auch der Klappentext ist erschreckend naiv, doch hinter der ungeschickten Verlagspräsentation von Abenteuer und Herzleid um Claire steckt ein fesselnder und extrem spannender Psychothriller einer Autorin, die schreiben kann.

Der Roman beginnt mit einem heimlichen Stelldichein zwischen dem Engländer Charnwood und der verheirateten, aber getrennt lebenden Iris de Bertincourt. Das Liebespaar plant die Ehe, doch vorerst muß Charnwood zurück zu seinem Arbeitsplatz nach Ostafrika reisen. Iris hingegen muß gegen den Willen ihrer einzigen Verwandten die Scheidung von Marcel de Bertincourt vollziehen, ihren Cousin, den sie als blutjunge Frau geheiratet hatte und der sie über all die Jahre schmählich betrogen und vernachlässigt hatte. Die einzige Verwandte ist die Tante des Ehepaars, die Comtesse de Castelmaurou, kurz Tante Victoire, eine erzkonversative und sehr machtbesessene alte Dame, die ihren Willen mit allen Finessen der Intrige durchzusetzen weiß.

An jenem Abend klingelt es an der Tür und ein Strauß Rosen wird geliefert – von Marcel Bertincourt an seine Frau, letztere kann sich diese Aufmerksamkeit nicht recht erklären. Dann meldet sich telefonisch Tante Victoire und erklärt Iris noch einen Besuch abstatten zu wollen, so daß das amouröse Treffen sich in panischem Schrecken in Auflösung befindet. Claire, die 15jährige Tochter von Iris, befindet sich bei Freunden und wird erst am späten Abend zurückerwartet. Charwood muß das Feld räumen, da Iris der Dominanz ihrer Tante nicht gewachsen ist und mit Folgen rechnen muß, wenn Tante Victoire einen fremden Mann bei ihr vorfindet. Also entfernt sich Charwood und begibt sich in sein Hotel, am nächsten Tag soll er ein Schiff nach Ostafrika nehmen.

Tante Victoire trifft bei Iris ein und erkundigt sich bei dieser über ihren Gesundheitszustand, denn Iris benutzte eine Notlüge, eine angebliche Erkältung, um mit ihrem Geliebten ungestört sein zu können. Nachdem Tante Victoire sich verabschiedet hatte, hört Iris das Gartentor klicken, sie hört wie ihre Tochter sich von den Freunden verabschiedet. Sie eilt an die Haustür, da ihr Mädchen an diesem Abend frei hat. Doch als Iris vor der Tür steht und nach ihrer Tochter Ausschau hält, ist niemand zu sehen. Iris schaut sich auf der Straße um und wundert sich, wo ihre Tochter abgeblieben sei, deren Stimme sie unlängst vernommen hatte. Nach einigen Minuten wird ihr klar, daß Claire spurlos verschwunden ist. Sie ruft in ihrer Panik Charwood in seinem Hotelzimmer an, der sofort zu seiner Freundin zurückkehrt und ihr beisteht.

Claire bleibt spurlos verschwunden, die Polizei geht von einem Verbrechen aus, und Marcel de Bertincourt, der sich all die Jahre weder um seine Gattin noch um seine Tochter Claire gekümmert hatte, eilt zu Iris um ihr beizustehen. Charwood, aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird, gerät aus begreiflichen Gründen zunehmend in Abseits. Charwood verschiebt seine Rückkehr nach Ostafrika und bemüht sich redlich den Dingen auf den Grund zu kommen, doch Iris wird von ihrer Tante Victoire gezwungen zu ihr zu ziehen. Iris ist nach wenigen Stunden der Abwesenheit ihrer Tochter ein Nervenbündel und völlig unfähig sich den Wünschen ihrer Tante zu widersetzen.

Charwood, dem sein Konkurrent Marcel de Bertincourt äußerst unsympathisch ist, fühlt sich allein und verlassen, er findet aus nachvollziehbaren Gründen keinen Zugang mehr zu seiner Geliebten und hat niemanden, mit dem er über den Fall und seine Situation sprechen kann. Er ist ein stiller Beobachter der Ereignisse und sieht sein Lebensglück bedroht, vor allem erfährt er, daß Marcel de Bertincourt ebenfalls bei Tante Victoire zu wohnen scheint, und Tante Victoire nimmt ihren Verwandten, dem Ehepaar de Bertincourt, den Schwur ab, daß sie ihre Ehe nicht leichtfertig aufgeben, sondern es nochmal miteinander versuchen sollen falls Claire unbeschadet wieder zurückkehrt. Derweil glaubt man allgemein, daß Claire entführt wurde, wundert sich aber über die ausbleibende Lösegeldforderung.

Charwood wendet sich an die beste Freundin von Iris, nebenbei bemerkt ist diese Frau auch die Geschäftspartnerin von seiner Freundin, doch auch dort stößt er bald an die Grenzen des Vertrauens, denn Charwood erfährt, daß diese Freundin ebenfalls Marcel de Bertincourt kennt und schätzt. Darüberhinaus rekonstruiert Charwood eine Begegnung mit Marcel de Bertincourt, die ihm und dem Leser zu denken gibt, denn er hatte den Mann bereits vor Monaten in einem Seebad gesehen, wo er dem Glücksspiel frönte und sich mit dubiosen Leuten umgab. Marcel de Bertincourt unterhielt zu der Zeit noch eine Beziehung zu einer Schauspielerin, die ihn wohl ausgiebig geschröpft hatte.

Charwoods einziger Freund Tommy Rostetter, ein britischer Journalist, befindet sich zur Zeit in Portugal, doch als Charwood gar nicht mehr mit der Rückkehr seines Freundes rechnet, trifft er diesen zufällig auf der Straße. Mit Tommy erörtert Charwood seine Probleme und den Fall um Claire, und Rostetter ist es, der einige interessante Details zur Familie de Bertincourt und deren Umfeld kennt. Rostetter beginnt nun mit der moralischen Unterstützung seines Freundes, die nach und nach auch handfeste Konturen annimmt. Denn Charwood verändert sein Verhältnis zu Marcel de Bertincourt und irrt auch sonst etwas naiv durch diesen Kriminalfall. Rostetter warnt Charwood eindringlich – und prompt am nächsten Abend wird ein Mordanschlag auf Charwood verübt. Nun wird auch Charwood klar, daß die Verbrecher ihn aus dem Weg räumen wollen, kann sich aber nicht vorstellen, warum gerade er ein Hindernis darstellt für die kriminellen Machenschaften der Entführer.

Um es kurz zu machen und ohne das Ende des Romans vorwegzunehmen, sei nur bemerkt, daß die herrlich verwickelte Handlung durchaus sinnreich und nachvollziehbar ist, die Figuren sind lebendig und stellen interessante und gut unterscheidbare Charaktere dar. Die psychologische Abhängigkeit der Figuren untereinander wird überzeugend dargestellt. Iris de Bertincourt, die durch die ehemaligen Wohltaten ihrer Tante vollkommen abhängig von dieser ist und unfähig ist, sich den Wünschen der Tante zu widersetzen; ebenso die Abhängigkeit Charwoods von Iris de Bertincourt, der einfach nur über beide Ohren verliebt ist und den Verlust seiner künftigen Gattin fürchtet.

Der Leser ahnt von Anfang an, wer hinter den Machenschaften um Claires Verschwinden stecken muß. Charwood und Rostetter übernehmen die mühsame und gefährliche Aufgabe den Fall zu lösen, während die Polizei eher ihrem Ruf als eine staatliche Behörde gerecht wird und nicht viel zur Klärung des Falls beiträgt. Auch wird der Leser Zeuge, wie die Lethargie, die Depression und die Furcht langsam von Charwood abfällt, denn die Freundschaft zu Rostetter dient diesem als Ventil, als ein Helfer in der Not.

Der Roman greift auf viele melodramatische Motive zurück, vor allem in den Passagen in denen sich Charwood und Iris heimlich treffen, denn Iris wird von ihrem Gatten und ihrer Tante rund um die Uhr bewacht und mehr oder weniger isoliert. Der einzige, der die Zusammenhänge ahnt ist Rostetter, und dieser hilft seinem Freund Charwood so gut es geht.

Der Roman ist unglaublich mitreißend, intelligent, spannend und in jeder Hinsicht unterhaltend, auch die Frauenfiguren sind ungewöhnlich, stellen sie doch einen neuen Frauentyp dar, nämlich die für sich selbst sorgende, berufstätige Frau, die selbstbestimmt ihr Leben gestaltet. Ich habe lange nicht einen derartig spannenden und intelligenten Kriminalroman gelesen, für mich stellt die weitgehend vergessene Autorin Alice Campbell eine Neuentdeckung dar.