Albert Lestoque: »Menschen in Aktendeckeln«, 1939 – keine Spannungsliteratur
von Mirko Schädel
Albert Lestoque: Menschen in Aktendeckeln, Zürich, New York: Saturn-Verlag Dr. Ungar 1939, 344 Seiten
Was haben Wolfgang Borchert und Albert Lestoque gemeinsam? Wolfgang Borcherts Drama Draußen vor der Tür und seine anderen belletristischen Werke sind eine antimilitaristische, antichauvinistische Anklage und eine Analyse der unmittelbaren Nachkriegszeit gleichermaßen. Seine pathetischen, expressiven und doch nüchternen Sprachbilder sind die fleischgewordenen aquarellierten Zeichnungen und Gemälde eines Otto Dix oder eines George Grosz. Borchert ist es gelungen mit seinem schmalen Werk eine ganz eigene Bildsprache und einen ganz eigenen Stil zu entwickeln, der von einer großen suggestiven Kraft Zeugnis gibt. Sein Thema war der Zweite Weltkrieg, der Nationalsozialismus und die unmittelbaren Folgen dieser Katastrophen.
Die Verlogenheit und Heuchelei legt Borchert frei, dabei bedient er sich karikaturhafter und grotesker Bilder, die seiner emotionalen und politischen Haltung und Hilflosigkeit entsprechen. Der Schrecken, dieser lähmende Horror der Absurdität von Krieg und Faschismus, hat Borchert eine Stimme und eine Form gegeben, die ihresgleichen sucht. Borcherts Analyse des gesellschaftspolitischen und psychischen Zustands der Nachkriegsgesellschaft ist zutreffend und realistisch. Es gelingt Wolfgang Borchert eine hyperreale Beschreibung seiner eigenen inneren Zerrissenheit und seiner inneren Haltung zu spiegeln. Die Sogkraft dieser künstlerischen und bildstarken Analyse und Anklage ist enorm dank seiner dichterischen Mittel.
Albert Lestoques Menschen in Aktendeckeln kreist um ganz ähnliche Themen, ist jedoch unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg geschrieben worden und verfügt nicht über die stilistischen und sprachlichen Mittel, die ein literarisches Kunstwerk ausmachen, doch kompensiert Lestoque sein literarisches Unvermögen mit dem Umfang und den sich wiederholenden und aneinandergereihten Episoden seines Romans.
Der Fleiß, die Empörung, die Anklage dieses Autors, der in einem sprachlich reduzierten Duktus von abgehackten Sätzen und realistischen Dialogen ein ausuferndes Gesellschaftsporträt der Weimarer Republik und des sich nähernden Faschismus skizziert, ist einzigartig – und leider einzigartig unbekannt geblieben.
In Menschen in Aktendeckeln wird die Geschichte zweier Proletarierfamilien in Frankfurt am Main erzählt, die im selben Mietshaus ihr kümmerliches Dasein fristen. Diese skizzenhafte, umfassende und analytische Dokumentation des Proletariats und seines Umfeldes, nämlich den Ämtern, Behörden, Mitmenschen ist eine berechtigte, empörte Anklage gegen die Zustände dieser Zeit. Die beiden Familien werden zum Spielball von Behördenwillkür, von Mißbrauch und Vergewaltigung, von Schmähung, Rechtlosigkeit, Gewalt und des Ausgeliefertseins.
In immer neuen Episoden demonstriert Lestoque die Ohnmacht und brutale Zerstörung dieser Familien, die aus einer Position totaler Machtlosigkeit alles über sich ergehen lassen müssen und noch glauben, daß ihnen das Schicksal übel mitspielt – dabei ist es nicht das Schicksal, das ihnen das alles antut, sondern eine Maschinerie der Verachtung und des Selbsthasses, der mangelnden Empathie und der brutalen Polizeigewalt, der Menschenfeindlichkeit, der Korruption und des Elends und Hungers.
Lestoque beschreibt eine Riege von Beamten und Bürokraten, deren grausame Gleichgültigkeit und Verachtung sie zu Monstern werden läßt. Und der Autor hat durchaus recht, auch heute funktioniert dieser Staatsapparat nach dem immer gleichen Muster, wenngleich mit allerlei kosmetischen Maßnahmen geschönt.
Welcher Menschenschlag ergreift einen verbeamteten Beruf? Das sind Menschen, die schon in jungen Jahren erloschen sind. Junge Menschen, die einen Beruf ergreifen und nach der Beamtenschaft streben, sind lächerlich unsichere, ängstliche Charaktere. Sie streben nach einer zweifelhaften Sicherheit, einer mehr als anpassungsbereiten Mittelmäßigkeit – sie sind von der Angst vor einer imaginierten Unsicherheit getrieben. Und Angst führt zu Aggressionen, wer Angst hat, schlägt um sich. Eine derart zweifelhaft erworbene Sicherheit äußert sich auch in der Lust Macht auszuüben. Beamte schlagen nun nicht wahllos um sich. um ihre elendig langweilige Existenz zu kaschieren, sie schlagen nicht nach ihren Vorgesetzten, sie halten sich an ihre Untergebenen und an die Klientel der unteren Klassen, wo sie sich auf eine beinah sadistische Weise für ihr verpfuschtes Leben revanchieren.
Jeder, der sich in dürftigen, ärmlichen Verhältnissen befindet und mit Ämtern und Behörden in Kontakt gerät, weiß wovon ich spreche. Während die Beamten in vorauseilendem Gehorsam Geschäftsleuten und Investoren speichelleckend den Hof machen und großzügige Geldgeschenke als Subventionshilfen offerieren, wird der kleine Arbeiter oder Arbeitslose mit Hohn und offensichtlicher Verachtung behandelt. In Hamburg werden die Behörden und Ämter mit entsprechendem Kundenverkehr mittlerweile allesamt mit hirnlosen, privatwirtschaftlich agierenden Sicherheitsdiensten geschützt, die auch nötig sind, wenn man sich die hanebüchene Behandlung der Bittsteller genauer ansieht. Daß in Hamburg nicht wöchtlich ein Beamter abgestochen wird, ist schon ein Wunder.
Der Polizeiapparat der Stadt Hamburg ist in Teilen ein nichtswürdiger Haufen von inkompetenten und vermutlich ebenso korrupten Beamten, die mit einer Justiz kungeln, die von der Gestalt des Ronald Schill hinreichend illustriert wird. Dazu darf man sicher sein, daß ein erheblicher Teil der Hamburger Polizei, ganz so wie die Hamburger Zuhälterschaft, eine rassistische Einstellung haben und mit Nazimethoden sympathisieren.
So wie ich das sehe, hat sich diese Stadt schon lange von seiner Weltoffenheit verabschiedet, denn letztere hat mit der Realität rein gar nichts zu tun. Meine Kritik klingt harsch, und wird immer auf große Widerstände stoßen, aber das ändert nichts an meiner persönlichen Wahrnehmung. Ähnlich wird es dem Autor Lestoque mit seinem Roman ergangen sein, er hat in seinem Buch ein paar bedenkliche Wahrheiten geäußert, die keiner hören will. Denn die Auseinandersetzung mit dieser Anklageschrift hätte verheerende Folgen für einen Staat, der absolut unfähig ist sich selbst zu reformieren.
Ebenso ist die Gesellschaft nicht in der Lage ihre kleinkrämerischen, kleingeistigen und inhumanen Ansichten zu überdenken. So wird alles bleiben, wie es ist. Wenn in einem Betrieb, einer Firma, ein bestimmter Geist herrscht, der sich über Jahre eingebürgert hat und einen sehr schädlichen Einfluß nimmt, dann ist es schwer diesen Geist zu vertreiben und eine neue Zeit zu deklamieren. Am besten man macht die Firma zu, und gründet einen neuen Betrieb, doch das kann eine Gesellschaft und ein Staat nicht leisten. Die Unfähigkeit sich dieser Kritik zu stellen, führt zu völliger Stagnation – und auch deshalb ist der Wiedererkennungseffekt in diesem Roman mit der heutigen Realität so erschreckend groß.
Man kann Lestoque eine gewisse Schwarzweiß-Malerei und eine pessimistische Auffassung vorwerfen, das ändert jedoch nichts an dem Geist, der Essenz, dieses Romans, der eine Realität beschreibt, die gar nicht so weit von der gegenwärtigen Situation entfernt zu sein scheint.
Die Schicksale der beiden Familien werden so schockierend und grausam dargestellt, daß dem Leser zeitweise schlecht wird. Lestoque war in Frankfurt vor seinem Exil in die USA als Staatsanwalt tätig, diese Tätigkeit hat seine Perspektive geprägt, er hatte Einblick in die realen Lebensentwürfe und Entwicklungen in den proletarischen Familien, ebenso gewann er Einblick in die Handlungen von Behörden und Ämtern, seinen eigenen Kollegen, die diese Schicksale maßgeblich und mitverantwortlich beschädigten, wenn nicht gar auslöschten.
Übrigens, ich muß keine Studien zu Polizeigewalt, Beamtenwillkür, nazistischer und rassistischer Unterwanderung der Exekutive lesen, die wenigen Berührungen mit der Hamburger Polizei reichen völlig aus um ein Urteil über die Machenschaften dieser Behörde zu fällen. Die Diskrepanz zwischen den öffentlich-rechtlichen Vorabendserien wie »Das Großstadt-Revier« oder »Notruf Hafenkante« und der polizeibehördlichen Realität könnte nicht größer sein. Während im Fernsehen Beamte mit menschelndem Augenmaß und Empathie gezeigt werden, ist die Realität wohl das krasseste Gegenteil. Soll uns Bürgern dieser irrationale Irrsinn von menschenfreundlichen Polizeibeamten einlullen? Oder sollte man diese Art Darstellung in den Bereich der Realsatire rücken? Was bezweckt man mit dieser Art Abendunterhaltung? Dienen diese Alltagsmärchen einer marketinggerechten Aufwertung des Polizeiberufes und ist das also staatlich subventionierte Eigenwerbung? Es wäre schön, wenn man die Realität wenigstens in Ansätzen in solche Unterhaltungsformate einflechten würde.
Ich werde nie vergessen, wie ich in der Hamburger Ausländerbehörde vor vielen Jahren mit den Worten begrüßt wurde: »Du sprechen deutsch?« Ich entgegnete: »Sie auch?« Diese Behörde war wohl die einzige ihrer Art im Hamburger Stadtgebiet, die ganz offensichtlich in den Wartebereichen nie gereinigt wurde, ein echtes Drecksloch, das wohl der Abschreckung dienen sollte.
Lestoque beschreibt auch die Emporgekommenen, die ehemaligen Proletarier, denen es gelungen ist, sich aus ihrer Klasse herauszuarbeiten – die mit noch mehr Abgrenzung, Mißgunst und blankem Haß auf ihre ehemaligen Standesgenossen herabblicken. Die Angst vor dem Abstieg läßt jegliche Art der Empathie ersticken.
So ist Lestoques Roman eine bittere Anklage, eine interessante Analyse und eine beklemmende Dokumentation von entrechteten, mißhandelten Menschen, denen offenbar alles zuzumuten ist. Willige Beamte und Bürokraten kümmern sich um die systematische Unterdrückung der unteren Schichten – ganz wie heute, dabei gebührt den Hamburger Behörden und Ämtern ein großes Lob für solch anhaltende Ignoranz und Reformunfähigkeit. Nur in Verwaltungsbereichen in denen die Bürger geschröpft werden, wird der Kontakt zu den Bürgern von wahrnehmbarer Freundlichkeit begleitet.
Wenn ich jemals in die bedrohliche Situation kommen sollte und um Almosen bitten müßte, werde ich mich vorsorglich am nächsten Baum aufknüpfen. Ich bin ein freundlicher, höflicher Mensch … und verharre in einer lächerlichen, altertümelnden Position auch von anderen mit Respekt behandelt zu werden. Als staatlicher Almosenempfänger muß man sich jedoch selbst verleugnen und auf jeden Respekt verzichten.
Eines der großen Kapitel von Menschen in Aktendeckeln ist Die Behörde, ein Roman im Roman, der die Beschaffenheit und Wirkungsweise einer Staatsanwaltschaft exakt doumentiert. Der junge Staatsanwalt Langen hat noch einige Flausen im Kopf, seine humanistische Sichtweise auf die ganze Juristerei muß ihm von den Kollegen und vor allem vom Oberstaatsanwalt noch gehörig ausgetrieben werden.
Zahllose Fallbeispiele in Aktenform kreuzen seinen Schreibtisch, Langen beharrt darauf sich diese Fälle genauer anzusehen, dabei gerät er zunehmend in Konflikt mit seinen Vorgesetzten, die das Aktenlesen auf ein oberflächliches von hinten durchblättern und überfliegen reduziert haben und so im Akkord über die verwaltungstechnischen Abläufe entscheiden. Doch Langen liest diese Akten und interessiert sich für diese Schicksale, die dahinter zum Vorschein kommen.
Gegen Ende dieses umfassenden und spannenden Kapitels wird auch ein Teil der Protagonisten der zwei Proletarierfamilien thematisiert, denn ein paar wenige Familienmitglieder sind bereits verstorben, zwei Töchter gehen auf den Strich und mindestens drei Familienmitglieder sind wegen Nichtigkeiten in Untersuchungshaft.
So verwebt der Autor das Schicksal der beiden Familien mit den inhumanen und ungerechten Verwaltungsabläufen einer Staatsanwaltschaft, die sich systematisch zu einer bürokratischen und monströsen Maschine erniedrigt.
Im letzten Kapitel mit dem Titel Termine führt uns der Autor verschiedene Gerichtsprozesse vor Augen und die sich entwickelnden Schicksale der zwei Familien Baumann und Hauser, deren Mitglieder am Ende verzweifelt im Gefängnis oder in Fürsorgeanstalten sitzen, oder wie Mutter Baumann am Ende in den Selbstmord getrieben wird.
Lestoque hat, trotz seiner unzureichenden literarischen Fähigkeiten, ein Kunstwerk eigener Art geschaffen, ein subversives, zutiefst wahres Buch. Leider und wohl auch nicht ohne Grund so gut wie nicht mehr auffindbar. Dieser fragmentarische Stil, die kurzen Episoden, die Materialfülle würden in der heutigen Zeit durchaus Zuspruch bei einem modernen Publikum finden, das diese Art des Schreibens viel eher zu schätzen wüßte als die damalige Leserschaft. Die 344 Seiten in Großoktav entsprechen eher einem 700seitigen Roman in klassischem Oktavformat.