Freeman Wills Crofts: »Die Tragödie von Starvel«, 1930
von Mirko Schädel
Freeman Wills Crofts: Die Tragödie von Starvel, Leipzig: Ernst Oldenburg 1930, Meister des Kriminalromans Band 17, 256 Seiten, Schutzumschlag von Kurt Wernicke
Freeman Wills Crofts, 1879–1957, war ein in Dublin geborener Brite, der aufgrund einer Erkrankung im Jahre 1919 begann einen Kriminalroman zu schreiben um sich selbst damit zu unterhalten. 1929 gab er seinen Beruf als Chefingenieur bei der Belfaster Eisenbahngesellschaft auf um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Seine Figur des Inspektor French ist die konsequente Weiterentwicklung von Gaboriaus Figur des Ermittlers Lecoq.
Die Tragödie von Starvel, 1930, behandelt auf den ersten 50 Seiten eine Art Einführung, die von der Waise Ruth Averill handelt, ein junges Mädchen, das bei ihrem geizigen und verschrobenen Onkel in einem Landhaus in einer abgelegenen Gegend lebt. Der Onkel ist seit langem krank und wird von zwei Dienstboten, nämlich dem Ehepaar Roper, gepflegt. Ruth besitzt nur einen Freund in der Nachbarschaft, den Kriegsversehrten Mr. Gilles, der sich der Entomologie widmet. Darüberhinaus hat sie sich in den jungen Kirchenbaumeister Mr. Whymper verliebt, der in der nächsten Kreisstadt die Kirche restauriert.
Ruths Mutter war bei Ihrer Geburt verstorben, ihr Vater starb, als sie vier Jahre alt war. Eines Tages erhält Ruth die Einladung einer weitläufigen Bekannten und nimmt diese dankbar an, denn sie ist von der Abgeschiedenheit ihres Wohnorts mehr als gelangweilt. Merkwürdigerweise drückt ihr Mr. Roper, der Krankenpfleger ihres Onkels, im Auftrag desselben eine Zehn-Pfund-Note in die Hand, was so gar nicht zu dem Charakter ihres Onkels passt. Dieses Geld soll ihr den Aufenthalt und die Reise zu jenen Gastgebern finanzieren.
Ruth verabschiedet sich noch von ihrem Verlobten und reist zu den Bekannten, die sie sehr wohlwollend aufnehmen. Doch schon nach zwei Tagen ihres Aufenthalts erhält sie eine Mitteilung, die sie umgehend zu ihrer Rückkehr auffordert. In der Kreisstadt, nächstliegend zu ihrem Wohnort Starvel, wird sie von dem Anwalt ihres Onkels abgefangen und in dessen Haus geschafft, wo ihr eröffnet wird, daß das Haus ihres Onkels bis auf die Grundmauern abgebrannt sei. Man habe drei Leichen in der Ruine gefunden, ihren Onkel und die zwei Ropers, die bis zur Unkenntlichkeit verbrannt seien.
In diesem Augenblick wird Inspektor French auf den Fall aufmerksam gemacht, denn obwohl die Verhandlung des Coroners von einem unglückseligen Unfall ausgeht und somit weitere Ermittlungen unnötig sind, wenden sich der Rechtsanwalt und der Bankier des toten Onkels an Scotland Yard. Denn das vermutete Vermögen des Mr. Averill beläuft sich auf etwa 40.000 Pfund, das der alte Mann in seinem feuerfesten Safe in seinem Schlafzimmer aufbewahrte. Die Nummern der 20 Pfund-Noten, die Mr. Averill hortete, sind dem Bankier bekannt. Nun ist jedoch das gesamte Papiergeld in dem Safe zu Asche verbrannt, obwohl es sich doch unbedingt um einen feuerfesten Safe gehandelt habe. Nur die Goldmünzen im Wert von rund 2000 Pfund sind natürlich unversehrt und machen das Erbe Ruth Averills aus.
Darüberhinaus ist eine jener 20 Pfund-Noten in London aufgetaucht, so daß sich bei dem Rechtsanwalt und dem Bankier der leise Verdacht regt, daß irgendetwas nicht ganz koscher an dem Fall sei. Inspektor French mietet sich in der Kreisstadt nahe Starvel in einem Hotel ein und gibt sich vor Ort als Detektiv der Versicherung aus, der die Brandursache zu ermitteln habe – damit in dem kleinen Ort nicht unnötige Gerüchte über den wahren Grund seiner Ermittlungen aufscheinen.
Anfangs vermutet French noch, daß es sich vermutlich bei dem Verdacht um Hirngespinste handelt, doch dann wittert er eine Spur, die er wie ein Bluthund ausermittelt, bis er die nächste Spur wittert und immer mal wieder Rückschläge erhält, die ihn aber nicht abhalten sich hartnäckig weiter vorwärts zu bewegen, denn eines wird French zur Gewißheit, nämlich daß es sich bei dem Brand von Starvel um ein wohl eingefädeltes Verbrechen handelt.
Einige seiner Hypothesen geraten French ermittlungstechnisch zu Sackgassen, aber seine Neugier und sein Wille den Gesamtzusammenhang des Verbrechens verstehen zu wollen, treiben ihn zu immer neuen Taten und daraus resultierende Einsichten. Schon bald gerät der Diener und Krankenpfleger Roper in den Fokus der Ermittlungen, nur wundert sich French zurecht, daß dieser ja bei dem Verbrechen selbst mitverbrannt sei – bis ihm schwant, daß die verkohlte Leiche ja durchaus auch jemand anderes sein könnte und Roper womöglich mit den gestohlenen Banknoten ein gutes Leben führt – denn die zu Asche verbrannten Noten aus dem Safe Averills erweisen sich bei näherer Betrachtung als verbranntes Zeitungspapier.
Inspektor French stellt Roper, den er für den Mörder und Brandstifter hält, eine Falle. Er manipuliert so geschickt die Öffentlichkeit, daß alle Welt glaubt, es gäbe nur wenige Banknoten aus dem Besitz Averills, deren Nummern aufgezeichnet wurden. Tatsächlich gab es aber ein Vielzahl von Banknoten, deren Nummern der Polizei bekannt sind. So in Sicherheit gewogen, glaubt French, traue sich der verschollene Roper das Geld unter die Leute zu bringen und somit erst in den Genuß seines Raubes zu kommen.
Tatsächlich gibt es zahlreiche Verwicklungen in diesem Fall, doch der Leser wird nicht müde den Ideen des Autors zu folgen. Als French glaubt, er habe seinen Verdächtigen in Edinburgh so weit ausgetrickst, daß dieser auf dem Bahnhof persönlich erscheint um seinen vermeintlichen Börsenmakler zu treffen, da entwickelt sich im Bruchteil weniger Augenblicke ein völlig neues Bild, denn French, der Roper nie lebend gesehen hatte und nur ein Lichtbild des Herrn besitzt, bat den Arzt Philpot aus Starvel diesem Zusammentreffen beizuwohnen, denn Dr. Philpot kannte Roper sehr genau.
Dr. Philpot sollte den Bahnsteig beobachten und bescheid geben, wenn der Verdächtige erscheint, doch der Verdächtige erscheint eben leider nicht. Nun wußte Inspektor French jedoch, daß Roper, der Mörder, sich eine kleine Verletzung am Finger zugezogen hatte, denn Zeugen hatten den maskierten Roper in London gesehen und wiesen auf diese kleine Besonderheit hin.
Als French enttäuscht seinen Verhaftungsversuch abbricht, entdeckt er plötzlich eine kleine Verletzung an Dr. Philpots Hand und weiß in diesem Augenblick, daß er einem Phantom auf der Spur war, daß nämlich Dr. Philpot jener gesuchte Mörder ist. Philpots wehrt sich mit Händen und Füßen, greift in seine Tasche und will eine Handgranate zünden, was French und ein Kollege mit knapper Not verhindern.
Die ganzen Umstände des Verbrechens sind äußerst verwickelt und zeugen von einer aufwendigen Planung, die über ein Jahr gedauert haben mag und in der Konsequenz durchaus schlüssig ist. Es ist ein Genuß Inspektor French hartnäckigen Bemühungen zu folgen, während man als Leser auf dem Sofa liegt und keinen Finger rühren muß.
Am Ende wird Dr. Philpot fünf Morde gestehen, ehe er zum Tode verurteilt wird. Die Opfer Dr. Philpots sind Mr. Averill, das Ehepaar Roper und Mr. Gilles, dessen Leiche er ausschließlich für eine Täuschung benötigte, sowie den Mord an seiner Gattin, der sich aber einige Jahre zuvor ereignet hatte, und den Dr. Philpots geschickt als Unfall tarnte. Das Mädchen Ruth Averill erhält ihr stattliches Erbe von knapp 40.000 Pfund und heiratet ihren Verlobten Mr. Whymper.