Jozua Marius Willem van der Poorten Schwartz: »Der schwarze Koffer. Geschichte eines Mordes erzählt von dem, der den Mörder ausfindig machte«, 1892
von Mirko Schädel
anonym, das ist Jozua Marius Willem van der Poorten Schwartz: Der schwarze Koffer. Geschichte eines Mordes erzählt von dem, der den Mörder ausfindig machte, Stuttgart: J. Engelhorn Verlag 1892, Engelhorns Romanbibliothek Band 8/23, 160 Seiten, Umschlag von Bungert
Der schwarze Koffer, 1892, ist ein spannender whodunit, der mit überraschenden Wendungen aufwartet und sich auch weiterer geschickter Kunstgriffe bedient. Ein gewisser Privatermittler namens Spence aus London erzählt hier seine Erinnerungen bezüglich eines Mordfalls, der vor etlichen Jahren stattgefunden und den er trotz aller Widrigkeiten gelöst hatte.
Spence war damals gerade in der Zollkontrolle des Gare du Nord, Paris, wo er mit der Überwachung eines jungen Liebespaares beschäftigt war, das stiften gegangen war und von der Familie gesucht wurde um diese törichte Romanze zu unterbinden.
Als sich gerade die Reisenden in einer langen Schlange der Zollkontrolle unterzogen, beobachtete Spence zufällig eine junge Dame mit einer älteren Matrone, die offenbar gerade aus England herübergekommen waren und deren Gepäck nun der Untersuchung zugeführt werden sollte. Als ein großer, schwarzer Koffer ins Blickfeld gerät, beschwört die junge Dame den Zollbeamten auf die Untersuchung dieses Koffers zu verzichten, da er soviel Mühe bereitet hatte ihn zu packen und zu verschließen.
Um den Koffer herum ist zudem ein Strick verknotet, und die junge Dame scheint äußerst reizbar, denn der Beamte besteht auf seinen Wunsch einen Blick in den Koffer zu tun. Die Dame reicht dem Beamten resigniert einen Kofferschlüssel, der aber wohl nicht zu passen scheint, auch ein zweiter Schlüssel erweist sich als Fehlgriff. Der Beamte läßt das Schloß aufbrechen und unter einem großen Tuch kommt die Leiche einer alten Dame zum Vorschein, die in den Koffer gequetscht wurde.
Die Matrone fällt in Ohnmacht und wird anschließend in ein Krankenhaus verbracht, die junge Dame wird verhaftet und verstrickt sich offenbar in Widersprüche. Spence, der die ganze Sache interessiert beobachtet hatte, will sich diesem Fall widmen, da er von der Unschuld der jungen Dame überzeugt ist. Er nimmt Kontakt auf zur Pariser Polizei und beginnt mit den Nachforschungen. Auch besucht er die junge Dame namens Simpkinson, die vorerst neben dem Gefängnis in einer Art Pension für Arrestierte untergebracht ist und wo unser Ermittler auch mit dem Bräutigam von Miß Simpkinson namens Vicar Austin Harwey bekannt wird. So wie unserem Detektiv Miß Simpkinson bereits gefallen hat, ist unser Ermittler geradezu angetan von ihrem Bräutigam, dem Vicar Harwey, der als ein Ausbund der Rechtschaffenheit, Geradlinigkeit und Güte gelten darf.
Vikar Austin Harwey ist es auch, der sich dafür einsetzt, daß Spence ganz offiziell als Detektiv engagiert wird um diesen gräßlichen Mord aufzuklären. Zudem scheint das junge Paar viel mehr zu wissen, als es zu sagen bereit ist, was wiederum Spence erheblich irritiert. Spence läßt sich bei der Polizei die Beweisstücke vorführen und untersucht auch den Koffer und die anderen Habseligkeiten des Mordopfers. Er entdeckt die Initialen P. H. auf dem Koffer, die er sich sorgfältig auf einem Blatt Papier kopiert. Unser Ermittler ahnt bereits, daß Miß Simpkinson und ihr Bräutigam, Vikar Harwey, einen Verdacht hegen, diesen Verdacht aber nicht äußern können oder wollen um jemanden Nahestehenden zu schützen.
Unser Detektiv reist nach England, Southend, an den Ort, von dem das Liebespaar vor kurzem aufgebrochen ist und wo der Vikar seinen Kirchendienst versieht. Dort ermittelt Spence, daß eine alte Tante des Pastors nicht weit von der Kirche entfernt ein Zimmer genommen hat, außerdem erfährt er, daß der Bruder des Pastors namens Phillip Harwey in der gleichen Pension eine Unterkunft gefunden hat. Die Tante soll, laut Vermieterin, vor kurzem nach London abgereist sein, doch werde sie in den nächsten Tagen zurückerwartet. Auch Phillip Harwey ist zur Zeit abwesend.
Um die verwickelte Handlung auf den Punkt zu bringen, nur soviel: Der Verdacht fällt auf Phillip Harwey, dessen Initialen P. H. auf dem Koffer prangen. Der raubeinige, ständig fluchende und dem Alkohol zusprechende Bruder des edlen Vikars läßt ja auch jede Charakterlosigkeit vermuten. So verkommen, wie Phillip Harwey seiner Umwelt erscheint, so tadellos und jedem Zweifel erhaben gilt der Ruf seines Bruders, des Vikars.
Der Detektiv erfährt, daß es zwei gleiche Koffer gegeben hat, die offenbar zufällig auf der Reise vertauscht wurden, der eine jener baugleichen Koffer gehört Miß Simpkinson, der andere Koffer ist Eigentum Phillip Harweys. Die beiden Brüder lieben beide Miß Simpkinson, doch die ermordete Erbtante wollte ihr Testament zugunsten Phillips, des Raubeins, ändern, sodaß Miß Simpkinson aufgund des Vermögens wohl eher Phillip als den liebenswerten Vikar zu ihrem Bräutigam erwählt hätte. Der untadelige Vikar legte alle erdenklichen Spuren in Richtung seines Bruder und manipulierte Spence, den Detektiv, auch psychologisch derart geschickt, daß nur Phillip als Täter in Frage kam.
Spence ist anfangs überzeugt, daß Phillip im Rausch seine Tante ermordet hatte, doch als er diesen Phillip Harwey näher kennenlernt und auf einige seltsame Indizien stößt, beginnt sich sein Verdacht in Richtung des Vikars zu drehen. Am Ende wird Phillip auf der Flucht nach Argentinien von der Polizei gefaßt. Phillip droht die Verurteilung und somit der Galgen.
Miß Simpkinson jedoch wendet sich von dem Vikar, ihrem Bräutgam, ab und beschließt Phillip beizustehen, ganz gleich ob er den Mord an der Tante begangen hat oder nicht, denn im Grunde genommen liebt Miß Simpkinson von Anfang an Phillip. Als der Vikar dies erfährt, begibt er sich zu Spence und schlägt diesen nieder, fesselt ihn, legt ein umfassendes Geständnis ab und richtet sich am Ende selbst. Er erschießt sich vor Spences Augen, seine Leiche stürzt über den Körper des gefesselten Detektivs.
Der Vikar hatte aus Leidenschaft für Miß Simpkinson, die mehr seinem Bruder zugeneigt war, den Mord an seiner Tante begangen, die ernstlich ihr Testament zugunsten Phillips ändern wollte um die Ehe zwischen Phillip und Miß Simpkinson zu befördern, da sie ahnte, daß dieses Liebespaar besser zueinander paßte.
Von diesem Mord versprach sich der Vikar außerdem, daß Phillip England für den Rest seines Lebens meiden würde – doch seinen Bruder an den Galgen zu bringen, wollte er natürlich nicht. Er hatte alle Spuren manipuliert, sodaß sie auf seinen Bruder Phillip deuteten, er hatte seinem Bruder selbst suggeriert, daß dieser den Mord im Vollrausch begangen habe – sodaß Phillip am Ende selbst an seine Schuld glaubte – gleichzeitig aber sorgte der Vikar dafür, daß sein verzweifelter Bruder die Flucht als letzten Ausweg wählte – in der Hoffnung, diese möge ihm gelingen und Phillips Leben retten.
Trotz der überaus verwickelten Handlung und eines farblosen Detektivs ist dieser Roman von einer ebenso komplexen wie genialen Konstruktion, denn die Geschichte ist abgesehen von einem eklatanten Zufall, des unabsichtlichen Vertauschens der Koffer, frei von Zufällen und durchaus schlüssig. Man muß dieses Buch schon recht konzentriert lesen um die kleinen, unscheinbaren Details deuten zu können. Der Leser wird wie eine Marionette an unsichtbaren Fäden durch die Handlung gezogen, die Wirkung des Textes ist durch weitere Kunstgriffe des Autors überzeugend und authentisch, nicht zuletzt durch die Einführung des Autors, der diese Episode seines Lebens mit dem Hinweis kennzeichnet, daß er kein Schriftsteller und somit auch kein Kunstwerk zu erwarten sei. Der ganze Roman wirkt wie ein Bericht von einem tatsächlich stattgefundenen Verbrechen, das von einem durchschnittlichen Menschen, einem Detektiv namens Spence, ausermittelt wurde, denn Spence erhebt keinerlei Anspruch auf seine Genialität.
Überhaupt ist Spence zwar stolz dieses Verbrechen als den Höhepunkt seiner kurzen beruflichen Karriere als Detektiv aufgeklärt zu haben, doch erfährt der Leser eigentlich nichts über diesen Ermittler, lediglich daß er logisch denken kann und einen gesunden Menschenverstand hat. Selbst eine oberflächtliche Beschreibung des eigenschaftslosen Detektivs bleibt uns der Autor schuldig. Wir wissen nur, daß er etliche Berufe ausgeübt hat, und daß er sich für einen recht guten Detektiv hielt, obwohl er nur kurze Zeit in diesem Beruf gearbeitet hatte.
Der holländische Autor Jozua Marius Willem van der Poorten Schwartz, 1858–1915, der mehr unter seinem Pseudonym Maarten Maartens bekannt war, veröffentlichte diesen Roman als seinen Erstling. Das Buch war recht erfolgreich, George Bernhard Shaw lobte das Buch und teilte mit Schwartz dessen pazifistische Gesinnung.