Will Scott: »Mein Kollege von Scotland Yard«, 1931
von Mirko Schädel
Will Scott: Mein Kollege von Scotland Yard, Leipzig, Wien: Amonesta-Verlag 1931, Die versiegelten Bücher, 255 Seiten, Schutzumschlag von Ferdinand Kóra
Der Will Scott, 1894–1964, war ein britischer Karikaturist, Kritiker und Schriftsteller mit einem Faible für die Kurzgeschichte.
Mein Herr Kollege von Scotland Yard, 1929, ist ein ebenso spannender wie amüsanter Kriminalroman im Stil der ausgehenden 1920er Jahre und spielt rund 90 Meilen von London entfernt auf dem Landsitz des Sir Oliver Dawn und seiner näheren Umgebung.
Sir Oliver lebt dort mit seiner etwas farblos geratenen Gattin und seiner Tochter Mawis, darüberhinaus befinden sind dort noch ein Butler namens Charles und eine junge Dame namens June, die beinah als Familienmitglied zu betrachten ist, aber im Grunde genommen die Stelle einer Sekretärin einnimmt. Auch einige Gäste sind häufig dort anzutreffen, vor allem nämlich Freddy Mace, der sich bereits als künftiger Gatte von Mawis versteht, sowie Billy Hesse, der in die Sekretärin June verliebt ist.
Auch der Schriftsteller Peter Marlin ist ein häufiger Gast in dem Hause, denn er wohnt nur ein paar Schritte vom Garten der Dawns entfernt und pflegt intensiven Umgang mit der Familie. Als letztes befindet sich noch ein unliebsamer Gast in dem Hause, ein gewisser Simeon Cash, eine halbseidene Nervensäge aus London, die der Hausherr aus geschäftlichen Gründen eingeladen hatte und der es aufgrund seines Verhaltens durchaus versteht sich Feinde zu machen. Nicht nur bändelt er mit June an und stellt den schüchternen Billy Hesse in den Schatten, er macht sich sogar Peter Marlin zum Feind, der mit seinen Antipathien gegenüber Simeon Cash auch nicht hinterm Berg hält. Am Abend des Verbrechens findet ein Kostümfest statt, Simeon Cash wollte June zu diesem Ball begleiten, sagt aber im letzten Augenblick ab, da er geschäftlich zu tun habe.
Tatsächlich aber fährt Simeon Cash nach dem Erhalt eines Briefes zu einem nahegelegenen Gasthof und trifft sich dort in konspirativer Weise mit einer mittelalten Frau namens Mrs. Mars in einem Nebenzimmer, um letztere mit einem Foto zu erpressen. Auf diesem Foto ist Mrs. Mars alias Mrs. Robinson mit ihrem Sohn abgelichtet, nämlich jenem jungen Billy Hesse, der mit June verlobt zu sein scheint. Billy Hesse weiß jedoch nicht, daß seine Mutter noch lebt und noch weniger ahnt er, daß diese eine Kriminelle ist, die mehrfach im Gefängnis gesessen hatte.
Als Cash noch inmitten der Verhandlungen zu dieser Erpressung steckt, stürmt ein maskierter Mann in den Raum, Cash reißt seinen Revolver aus der Tasche, es kommt zu einem Handgemenge und ein Schuß löst sich. Cash bricht zusammen und ist augenblicklich tot. Der Wirt sieht den Maskierten noch fliehen und auch Mrs. Mars sucht das Weite. Zufälligerweise befindet sich ein Inspektor Groat von Scotland Yard als einziger Gast in dem Gasthof. Groat ist häufiger in der Gegend um auszuspannen und zu angeln.
Als er kurz nach den Geschehnissen den Tatort besichtigt, findet er ein Fragment eines Manschettenknopfes auf dem Teppich und erhält die vollkommen nichtssagende Personenbeschreibung einer mittelalten Frau und eines maskierten Mannes. Groat ruft seine Dienststelle an und wird mit dem Mordfall betraut. Sofort stürzt er sich in eine haltlose Mordtheorie, denn er beschuldigt vor allem Peter Marlin des Mordes, da dieser seinen Haß auf Cash unverhohlen zur Schau gestellt hatte.
Stepney, der einzige greifbare Zeuge und Gastwirt, soll am nächsten Tag nochmal eingehend befragt werden. Doch am nächsten Abend scheint es, als ob Stepney stiften gegangen sei. Bei Groats dramatischer Verfolgung des Gastwirts in der Dunkelheit stößt er jedoch auf den berühmten Detektiv Will Disher, ein fettleibiger, scharfzüngiger Gourmet, der zu Exzessen neigt. Einerseits ist der dicke Mann recht schnell ermüdet und erschöpft, andererseits setzt er bei jeder Gelegenheit zu manischen Sprachkaskaden an, die sich unaufhörlich über Inspektor Groats Ermittlungen lustig machen und schon nach wenigen Stunden Groat gegenüber zu erkennen geben, daß er bereits den vermeintlichen Mörder kenne – jenen maskierten Mann, der den tödlichen Schuß auf Cash abgegeben habe – ohne je die Leute von dem Landsitz Sir Olivers gesehen bzw. gekannt zu haben. Denn das dort der Maskierte zu finden sei, scheinen Groat und Disher zu wissen.
Während Inspektor Groat immer neue Beschuldigte aus dem Hut zaubert und von Disher fortwährend wegen seiner Dummheiten gewarnt wird, ermittelt Disher langsam, unaufgeregt, fast statisch möchte man meinen, was angesichts seiner Körperfülle auch durchaus nachvollziehbar ist. Disher ist es, der beispielsweise entdeckt, daß Freddy Mace, der Bräutigam von Miß Dawn, ein doppeltes Spiel treibt, denn Mace ist bereits verheiratet und sucht diesen Zustand zu verbergen. Mace hat es nur auf das Vermögen von Mawis Dawn abgesehen und verbündet sich mit seiner Gattin um diesen Betrug zu vollenden.
Auch gelingt es Disher eines Tages Mrs. Mars, jene Dame, die bei dem vermeintlichen Mord anwesend war, zu ermitteln und zu einem gemeinsamen Dinner zu überreden. Während Groats immer neuen Spuren nachgeht, die wenig bis nichts mit der Mordsache zu tun haben. Disher verfügt über eine sehr dominante, fast könnte man sagen, sadistische Neigung gegenüber Inspektor Groat, denn er macht sich in aller Öffentlichkeit über ihn lustig, er witzelt gern über Groats Intelligenz, ob nun vor den Bewohnern des Landhauses oder aber in direktem Gespräch mit Groat, der über eine sehr dicke Haut verfügen muß, denn unsereiner hätte dem dicken Herrn Disher mehrfach einige Salven preußischer Backpfeifen verabreicht.
Am Ende kommt es in dem Landhaus zu einem typischen Showdown mit fast allen Beteiligten dieser Geschichte. Disher läßt den wahren Täter durch einen Trick unerkannt fliehen, denn mehr als ein Akt der Notwehr war dieses Verbrechen nicht. Disher inszeniert dies so geschickt, daß selbst Inspektor Groat die wahre Identität des Täters nicht entdeckt. Nur die Leser, Disher und der Bräutigam des Täters wissen, wer der Maskierte gewesen ist.
Der Roman ist gut konstruiert und legt mehrere falsche Fährten, die sich als eine Art Beschäftigungstherapie für den untalentierten Inspektor Groat erweisen. Disher ist ein sarkastischer, teils von größenwahnsinniger Arroganz durchdrungener Fettsack, dessen Ermittlungen häufig bei Gesprächen während des Essens stattfinden. Jetzt muß man natürlich wissen, daß die englische Küche möglicherweise mehr Schneid hat als die der Koreaner, dennoch halte ich das Dasein eines englischen Gourmets für nahezu paradox. Das Buch ist recht witzig und intelligent und erinnert gelegentlich an die Dialoge der Filme um den Dünnen Mann mit Myrna Loy und William Powell.