Walter S. Masterman: »Der falsche Brief«, 1926
von Mirko Schädel
Walter S. Masterman: Der falsche Brief, Dresden und Leipzig: Moewig & Höffner 1926, Kriminalromane aller Nationen Band 103, 192 Seiten, Schutzumschlag von Kurt Schuster
Walter S. Masterman, 1876–1946, war ein britischer Kriminalschriftsteller und Fußballspieler. Er nahm am Buren-Krieg und am Ersten Weltkrieg teil.
Der falsche Brief, 1926, ist ein spannender, sauber konstruierter und ungewöhnlicher whodunit mit einem überraschenden Ende, der ganz nach Agatha Christies Geschmack gewesen wäre.
Der britische Innenminister Watson ist verwitwet und lebt mit seiner erwachsenen Tochter in einem englischen Landhaus. Innerhalb der Woche lebt er in seinem Londoner Haus, wo auch seine Leiche aufgefunden wird. Kurz vor seinem Tod hat der Innenminister noch zwei Menschen empfangen, doch die Hausdame kann zu keinem Besucher ihres Gebieters nähere Auskünfte geben. Die Leiche des Innenministers weist die Spuren eines Kopfschusses auf und ist in einem abgeschlossenen Raum aufgefunden worden.
Inspector Sinclair bearbeitet den Fall, sein Vorgesetzer jedoch ist ein ausgesprochen dummer und eitler Mensch namens Boyce. Glücklicherweise gibt es aber noch den Detektiv Collins, ein heller Kopf, der mit Sinclair befreundet ist und sich für diesen Mordfall zu interessieren scheint, der aber nicht Teil der Londoner Polizei ist.
Es gibt einige ungewöhnliche Details dieses Verbrechens, denn der Mörder hat unmittelbar vor seiner Mordtat noch einen anonymen Brief an Scotland Yard geschickt, in dem der Täter sein Verbrechen gesteht. Darüberhinaus hat der Täter ebenfalls Scotland Yard nach der Tat anonym und telefonisch von dem Mord berichtet. Nun machen sich die beiden Detektive mit dem Tatort und mit den Familienangelegenheiten des Mordopfers vertraut.
Innenminister Watson hatte nicht nur eine Tochter, sondern auch einen etwas älteren Sohn, den er wegen einer Jugendsünde verstoßen hatte – und der nach Montevideo geschickt wurde, wo sich seine Spur verlor. Außerdem hat seine Tochter einen Verlobten namens Sanders, der auch der Privatsekretär von Watson war, aber von seinem Dienstherrn nicht ermuntert wurde dessen Tochter auch zu heiraten. Daneben gibt es noch ein paar Dienstboten, die nicht immer die Wahrheit sagen, und den Anwalt, der die Familie Watson in allen rechtlichen Belangen vertrat.
Außerdem existiert ein Kriminalbeamter namens Lewis, der angesichts des Mordfalls sein Unwohlsein erklärt und anschließend spurlos verschwindet. Natürlich macht dieses Verhalten seines Untergebenen Sinclair recht nervös, war Lewis doch seine rechte Hand und ein brauchbarer Kriminalbeamter.
Das Verwirrspiel beginnt in einem ruhigen Erzählton voll von wohldosierter Atmosphäre, die man beinah einatmen kann. Die zwei Detektive Sinclair und Collins tauschen sich nicht wirklich über ihre Spuren und Theorien aus, teilweise verschweigen sie sich gegenseitig wichtige Indizien. Sinclair arbeitet in London an seiner Untersuchung, während Collins sich nach dem Familiensitz der Watsons auf dem Land begibt und dort herumschnüffelt.
Nur Boyce, der dämliche Vorgesetzte Sinclairs tappt völlig im Dunkeln. Als ein offenbar Geisteskranker sich als Mörder zu erkennen gibt, greift Boyce ungeniert zu – um einen schnellen Erfolg zu generieren und sich selbst ins rechte Licht zu rücken.
Collins hält sich einige Zeit auf dem Landsitz der Familie auf und seine höfliche und hilfreiche Art imponiert Miß Watson, so daß ihr Verlobter Sanders in Eifersucht gerät. Irgendwann wird dort auch das Gespenst des Verstorbenen sichtbar, ein alter Dienstbote glaubt den Toten gesehen zu haben – doch wird schnell klar, daß dieses Gespenst nur der verlorene Sohn des Ermordeten sein kann, der allerdings angeblich in Südamerika weilt, und der von einem Versteck seines Vaters weiß, wo letzterer wichtige Papiere und sein Testament verwahrte.
Als Sinclair und Collins sich gemeinsam in die Provinz begeben, ganz in der Nähe des Landsitzes der Familie Watson, und den abgetauchten Kriminalbeamten Lewis ausfindig machen, wird klar, daß Lewis mit dem verlorenen Sohn des alten Watson identisch ist. Diese drei Herren fahren zum Familiensitz und führen ein umfassendes und klärendes Gespräch, das jedoch darin gipfelt, daß sich unser Detektiv Collins und der junge Watson mit dem Automobil absetzen.
Sinclair geht ein Licht auf und er begreift, daß sein Freund Collins der Mörder ist, der den Innenminister umgebracht hatte um einen Zeugen zu eliminieren. Nun scheint Collins auf der Suche nach dem Versteck jener Papiere zu sein, die seine Verbrechen dokumentieren. Und nur der Sohn des alten Watson kennt das Versteck dieser Papiere. Collins irrt jedoch darin, daß er die Papiere in dem Stadthaus in London vermutet, denn tatsächlich sind sie im Landhaus verborgen, hinter einem Porträt des alten Watson.
Detektiv Collins spielte ein doppeltes Spiel, einerseits den Detektiv im Kampf gegen das Verbrechen, andererseits den Verbrecher reinsten Wasser mit dem Spezialgebiet der Erpressung. Als er dem Innenminister vor einiger Zeit brieflich seine Dienste anbot, erpreßte er parallel einen Lord ebenfalls in schriftlicher Form. Beim Versiegeln seiner Briefe vertauschte Collins die Adressaten. Durch diese Verwechslung des Verbrechers wurde seine Doppelexistenz bekannt und der Innenminister stellte Collins zur Rede, erklärte ihm, daß er die Erpressungsversuche unterlassen, die fraglichen Papiere übergeben und das Land zu verlassen habe – wenn er diesen Wünschen nicht nachkäme, würde er sein Wissen mit Scotland Yard teilen und dafür sorgen, daß Collins in Haft genommen wird.
Collins entschied sich jedoch dafür den Innenminister zu töten und sich des Beweismaterials zu bemächtigen. Auf seiner Flucht mit dem Automobil verunfallt der Täter und damit endet der Roman. Nur Sinclair wird im Nachhinein klar, wie stark sein Freund Collins den Tatort manipuliert hatte und alles tat, um den wahren Sachverhalt zu verschleiern.
Ich erinnere mich nur an Agatha Christies Roman Roger Ackroyd und sein Mörder, 1928, in dem ebenfalls der Detektiv und der Täter identisch ist. Somit wird Der falsche Brief wohl der erste in Deutschland erschienene Kriminalroman sein, in dem der Detektiv und der Mörder ein und dieselbe Person sind.