T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

W. Harrison Ainsworth, das ist vermutlich Fr. Dietrich: »Die Familie Sawney«, 1850
von Mirko Schädel



W. Harrison Ainsworth, das ist vermutlich Fr. Dietrich: Die Familie Sawney, Leipzig: Theodor Thomas 1850, 3 Bde.


William Harrison Ainsworth ist in diesem Fall ein Allonym, der unbekannte Fr. Dietrich bediente sich offenbar des Namens dieses berühmten Schriftstellers. Das hat es insbesondere im 19. Jahrhundert häufiger gegeben. So ist Ainsworths Roman Die Geheimnisse von London [33 Bändchen] in der Übersetzung von Aloys Kosegarten offenbar ein allonym erschienener Roman aus dem Umfeld von Ainsworth publizistischer Tätigkeit – womöglich ein Roman aus Ainsworths Magazine oder einer anderen Zeitschrift jener Zeit. Leider konnte ich bislang den tatsächlichen Urheber dieses Romans nicht identifizieren. 

Man denke auch an A. Radcliffs Roman Die Todes-Wette, der von Ludwig von Alvensleben, das ist Gustav Sellen, übersetzt wurde, doch wahrscheinlicher ist es das Alvensleben nicht der Übersetzer, sondern der Autor des Werkes gewesen ist. Ebenso die Criminalgeschichten voller Abentheuer und Wunder doch streng der Wahrheit getreu von Christian Heinrich Spieß, die offenbar von Carl Josef August Hofheim herrühren, der sich ebenfalls des Namens eines berühmten Zeitgenossen bedient hatte.

So wird es sich auch mit dem Roman Die Familie Sawney verhalten, der vermutlich von Fr. Dietrich verfaßt wurde, einem Schreiber von Ritterromanen und einigen abenteuerlichen Jugendschriften. Im ersten Theil dieses echten Kolportageromans wird die Geschichte des Alexander »Sawney« Bean erzählt, der mit seiner Frau »Käthe« ein ärmliches Gelaß bewohnt, das ihm nach seinem Gefängnisaufenthalt dankenswerterweise ein Adliger namens Sir Charles zur Verfügung gestellt hatte.
Doch das Ehepaar hat kaum genug zu essen, und Sir Charles, Sawneys Protege, ist gerade dabei sich mit einer eitlen jungen Dame zu verheiraten. Diese junge Dame ist Sawney jedoch ein Dorn im Auge, er glaubt, die junge Braut sei eine bösartige und kaltherzige Natter, denn sie habe vor einiger Zeit Sawney die Peitsche zu schmecken gegeben, als er auf der Straße um Almosen bettelte. Als sich dieser Vorgang während der Hochzeitsprozession wiederholt, Sawney sich dem Zug demütig bettelnd in den Weg stellt und er abermals mit Gewalt entfernt wird, schwört er der jungen Braut Rache.

Noch in der Hochzeitsnacht bricht Sawney in das Schlafzimmer der frisch Vermählten ein, tötet die Braut, raubt Edelsteine und Gold aus der Schatulle des Bräutigams. Sawney und seiner Frau gelingt die Flucht aus Glasgow, doch im weiteren Verlauf wird Sawney gefaßt und in eine Mördergrube gesteckt, wo er auch mit der Folter in Berührung kommt. Sawneys Frau entkommt samt den geraubten Schätzen. Sie setzt sich mit dem Abschaum von Glasgows Unterwelt in Verbindung, wo sie den Befreiern ihres Mannes große Teile der Beute verspricht. Tatsächlich lassen sich etliche auf den Handel ein, sie befreien Sawney aus der Folterkammer, werden großzügig entlohnt, so daß dem Ehepaar Sawney selbst nichts bleibt. Doch gelingt es dem Paar in eine einsam gelegene Gegend zu fliehen, wo sie sich in einer Höhle häuslich einrichten. Damit endet der erste Theil des Romans.

Der zweite Theil beschreibt dann die fast ausweglose Situation von Sawney und seiner Frau, die beinah an Hunger sterben. Dabei räsoniert der Autor, daß aus Sawney durchaus hätte ein großer Staatsmann oder ein ranghoher Militär werden können, wenn seine Erziehung eine andere Richtung genommen hätte. Aus Hunger, und während Sawneys Frau schon fast dem Irrsinn verfallen ist und das grelle weiße Licht der Ewigkeit zu erkennen glaubt, überfällt unser schurkischer Held einen einsamen Kutscher des Nachts auf der Landstraße. Da das Opfer auch nichts zu essen bei sich hat, beschließt er diesen zu töten, zu schlachten, zu braten und anschließend zu verzehren. Gedacht, getan! Man findet unseren Helden daheim in der Höhle beim Drehen eines Fleischspießes wieder, wo seine Frau langsam aus ihrem Dämmerzustand erwacht und gierig einige dieser vorzüglichen Fleischspieße verspeist. Als das Mahl beendet ist, gesteht ihr Sawney, daß er einen Landfahrer überfallen und gegrillt habe – was Käthe zwar mit Ekel erfüllt, aber dennoch satt und zufrieden sein läßt.

Parallel wird uns dabei die Geschichte um den Bandenchef William aufgetischt, der für die Befreiung Sawneys mitverantwortlich und also gedungen war, und der sich in eine junge Witwe verliebt hatte, die er selbst zur Witwe gemacht, denn William hatte deren Gatten, einen Polizisten, bei Sawneys Befreiung erstochen. Er entführt die junge Witwe, doch wird sein Vorhaben vereitelt und er kann nur mit größter Not den Verfolgern entkommen.

Offenbar setzte William sich in die Hauptstadt Irlands ab, wo er von seinen alten Raubgesellen nach vielen Jahren aufgestöbert wird – doch William ist nicht mehr der alte Sünder, sondern geläutert und nur von dem Wunsch beseelt seine einstige Liebe wiederzusehen und seine Sünden vergessen zu machen mit guten Taten, und so läßt er sich zur Heimfahrt nach Glasgow überreden. Aber das Schiff gerät kurz vor Schottland in einen tosenden Sturm, und auch da gelingt es William nur mit knapper Not dem Tode zu entgehen.

Während das Leben Sawneys und seiner Familie, denn er hat nunmehr vier Kinder, die er alle auf kannibalische Weise zu ernähren weiß, seinen faden Gang nimmt. Außer Lauern, Morden, Blut trinken und Menschenfleisch essen gibt es in Sawneys Alltag kaum erwähnenswerte Ereignisse – mit Ausnahme der Konkurrenz zu seiner Frau und seinen Kindern, die irgendwann ebenfalls Ansprüche auf die besten Stücke des Menschenfleisches geltend machen – und so kommt es zu grotesken Gewalttaten des Ehepaars, wobei die Kinder ihrer Mutter zu Hilfe eilen.

Der dritte Theil des Romans widmet sich dann der Verwandlung und Läuterung von William, des Räuberhauptmanns und Bandenführers von Glasgow, der von einem Mitglied seiner ehemaligen Bande zur Überfahrt nach Schottland überredet worden ist. Das Schiff wird im Sturm auf eine Sandbank getrieben, William und sein alter Freund und Mordgeselle schaffen es an Land, wo sie in einem Gasthaus einkehren und eine alte Bekannte treffen. In diesem Gasthaus steigt ein paar Stunden später, ein durch einen Unfall derangierter Herzog mit seiner Nichte ab. Die beiden Adligen speisen und wollen sich etwas ausruhen von den Strapazen, doch Williams alter Bekannter und die Wirtin des Gasthauses beschließen den Herzog, die Nichte und die wenigen Dienstboten zu ermorden und sich Geld und Geschmeide der Reisenden anzueignen. Auch William soll an dem Überfall teilnehmen, doch er hadert mit seiner alten kriminellen Existenz und hat sich zunehmend von seinen alten Kumpanen entfremdet. Stattdessen rettet William dem Herzog das Leben. Seinen ehemaligen Genossen treibt er zur Flucht. So wird William vom Herzog protegiert und vom schottischen König in den Adelsstand gehoben. Desweiteren wird er zu seiner großen Liebe geführt, die ihn nach einiger Zeit auch zu heiraten bereit ist – und er wird mit der Aufgabe betraut, Glasgow und Schottland von der Plage der Diebe, Räuber und Mörder zu befreien, man bietet ihm den Posten des Polizeichefs von Schottland an, und da er selbst mit dem Denken und den Schlichen der Kriminellen bestens vertraut ist, gelingt es ihm die Spitzbuben reihenweise in den Kerker werfen zu lassen.

Sawneys Familie ist bereits durch Blutschande, der traditionellen christlichen Inzucht, auf 28 Personen angewachsen, sie haben ihre kannibalischen Raubzüge verfeinert, und während sich die Landstriche Schottlands erheblich entvölkern, fragen sich die abergläubischen Schotten wo die vielen verschwundenen Mitmenschen abgeblieben seien. Als William die Stadt Glasgow von der kriminellen Bagage gereinigt hat, weitet er sein Interesse der Verbrechensbekämpfung auch auf die Regionen des Hinterlandes aus. Als erstmals ein Opfer eines Überfalls der Sawneys fliehen kann und in Edinburgh dieses Verbrechen zur Anzeige bringt, beschließt William im Einklang mit König Jacob und etlichen militärisch gerüsteten Männern dieser Bande das Handwerk zu legen.

Am Ort des Überfalls lassen sie eine Meute von großen, kräftigen Spürhunden ihre Arbeit tun, sie durchkämmen die Gegend und werden in der besagten Höhle fündig, wo sie Sawney und seine gesamte Sippschaft nach heftiger Gegenwehr binden, verhaften und nach Edinburgh schaffen. Natürlich kannte William das Ehepaar Sawney noch aus alten Zeiten, doch als er die Vorratskammern der Familie betritt und dort auf eine umfangreiche Sammlung von menschlichen Extremitäten und gepökeltem Menschenfleisch stößt, ist auch er betroffen von der Unmenschlichkeit dieser schrecklich netten Familie.

In Edinburgh kommt es zu einer kurzen Gerichtsverhandlung und dem Urteil, daß den männlichen Sawneys bei lebendigem Leib das Herz herausgerissen wird, anschließend werden ihnen die Extremitäten abgeschnitten und ihre Leichenteile ins Feuer geworfen. Die weiblichen Sawneys müssen sich dieses Verfahren ansehen und werden anschließend lebendig ins Feuer gestoßen.

Der Roman ist blutrünstig, stellt Gewalt und Sexualität über weite Strecken drastisch dar und steht in der Tradition der Ritter- und Räuberromane. Sprachlich beginnt der Autor in einem kitschigen Ton, der sich dann aber langsam auf wohltuende Weise normalisiert. Die Erzählung wird zunehmend routinierter und bedient sich eines historisierenden Tonfalls. Das Konstrukt des Romans ist zwar gelungen und schlüssig, aber über weite Strecken vorhersehbar, wenn man die Legende des Alexander »Sawney« Bean einigermaßen vor Augen hat.

Wie auch Elisabeth Bathory, die Blutgräfin, ist Sawney mehr mit dem Gewebe alter Legenden verhaftet, als daß diese Art der Figuren auf einer realistischen und möglicherweise objektiven, wissenschaftlichen Einschätzung fußen, denn in beiden Fällen ist die Quellenlage äußerst dürftig, und, wie auch bei Jack the Ripper, dienen diese mythischen Figuren historischer Massenmörder mehr der Steigerung blutrünstiger Phantasien und sollen die Voyeure des Horrors erfreuen.

Der unbekannte Autor ist mit Sawneys Legende durchaus vertraut, er gibt mehr oder weniger alle bedeutenden Punkte dieser Geschichte wieder, ich glaube aber nicht, daß er den Vorsatz hatte eine authentische Nacherzählung der Geschehnisse zu liefern, sondern er nutzt die Sawney-Legende für seine eigenen Zwecke und zwängt diese in ein Romankonstrukt, das ihm geläufig ist, nämlich dem drastischen Ritter- und Räuberroman. So stellt sich auch nicht zufällig der wohl fingierte Übersetzer und vermutliche Autor des Romans mit dem Namen Fr. Dietrich dar, der sich als Verfasser des »deutschen Rinaldo« zu erkennen gibt – und damit ein wichtiges Indiz für seine Autorschaft liefert.