T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Traugott Lehmann, das ist Hermynia Zur Mühlen: »Die weisse Pest«, 1926

von Mirko Schädel


Traugott Lehmann: Die weiße Pest, Berlin: Vereinigung Internationaler Verlags-Anstalten 1926, 195 Seiten


Traugott Lehmann, das ist Hermynia Zur Mühlen, hat mit Die weiße Pest, 1926, einen überaus spannenden und gut konstruierten Kriminal- und Sensationsroman geschrieben, der gleichzeitig prokommunistische und antifaschistische Propaganda betreibt.

Zur Mühlen erzählt von den undurchsichtigen Machenschaften einer Gruppe von völkischen Verschwörern in deren Mittelpunkt die ungarische Baronin Ilona von Szentiványi steht, die für Gustav von Sanden, den Kopf einer faschistischen Mörderbande, Agenten- und Kurierdienste übernimmt. Ilona beschafft Papiere für flüchtige Mörder und steht selbst den nationalen, faschistischen Kreisen nah – doch ihre wahren Absichten bestehen in Abenteuerlust und grenzenloser Gier nach Luxus, denn sie läßt sich ihre Dienste gut bezahlen.

Als Gegner dieser Schurken agiert der jüdische Rechtsanwalt und Kommunist Dr. Birnbaum, der sich teilweise auch als eine Art Detektiv betätigt. Birnbaum und seine Genossen lehnen Mord und Totschlag ab, und bemühen sich redlich die Verbrechen der konservativen Verschwörer aufzudecken.

Auch ein ehemaliges Mitglied dieser faschistoiden Kreise, nämlich der Landwirt Georg Dresde, steht auf einer Todesliste der Nazis, denn nachdem er zuvor einige Zeit mit letzteren sympathisiert hatte, regte sich sein Gewissen ob der vielen Fememorde, die da im Namen des Vaterlandes begangen wurden. Dresde sagt sich von den Schurken los, doch begreifen die ehemaligen Freunde dies als Verrat – und auf Verrat steht die Todesstrafe. Dresde lebt völlig zurückgezogen auf seinem Hof, ängstlich und sich bewußt, daß man ihn nicht schonen wird. Ein Brandanschlag wurde bereits auf sein Haus verübt. Und Dresde weiß zuviel über die Morde dieser Bande, und wer diese durchgeführt hatte. Er hat bereits Vorsorge getroffen und sein Wissen zu Papier gebracht. Dresde hat diese Papiere, die auch eine Art Lebensversicherung darstellen, gut in seinem Haus versteckt.

Dr. Birnbaum, der einen jungen Genossen vor Gericht wegen Mordes vertritt, erfährt von diesem Herrn Dresde und dessen Problematik, er vermutet zurecht, daß Dresde einiges wissen könnte, was seinen Klienten entlasten würde. Dr. Birnbaum sucht das Gespräch mit dem ehemaligen Nazi Dresde, doch dieser wird derart von der Angst beherrscht, daß es ihm nicht möglich ist Aussagen zu machen.

Tatsächlich wird Dresde noch in der Nacht von seinen ehemaligen Kumpanen entführt, seine Spur verliert sich vorläufig.

Auch in Ilona tritt eine Veränderung ein, ihre politische Überzeugung bleibt zwar unverändert, doch ihr Sinn nach Rache wird geweckt, denn sie erfährt, daß man den Mann, den sie liebte, ebenfalls des Verrats bezichtigt wurde – und man diesen Herrn liquidierte. Gustav von Sanden spielt derwell vor Ilona eine Komödie, denn er tut so, als lebe der Geliebte Ilonas noch – doch ihr Mißtrauen wurde geweckt als ein Mitglied der Verschwörergruppe sich verplappert hatte. Ilona beginnt Nachforschungen anzustellen, sie verläßt in der Nacht ihr Hotel in der Maskierung eines jungen Herrn, denn sie befürchtet überwacht zu werden. Es gelingt ihr auch Dresdes unfreiwilligen Aufenthalt in einer Irrenanstalt festzustellen. Durch einen Trick verschafft sie sich Zutritt zu diesem und erfährt, wo dieser seine Aufzeichnungen versteckt hält. Denn die Papiere könnten Gustav von Sanden und seiner mächtigen Mörderorganisation sehr gefährlich werden.

Im Hintergrund agieren einige wackere Kommunisten, die mit Dr. Birnbaum gemeinsam das Ziel verfolgen, die Verschwörer der Justiz zu überantworten. Dr. Birnbaum und Ilona gehen sogar zeitweise eine Art Pakt ein, wenngleich die politischen Überzeugungen völlig konträr sind und Ilona nur als Racheengel zu gebrauchen ist. Doch ihr Doppelagententum droht früher oder später öffentlich zu werden, und dann ist ihr Leben nicht mehr viel wert. Den zwei ungleichen Partnern gelingt es den Schurken erheblichen Schaden zuzufügen.

Dresde, der ehemalige Nazi, erkennt, daß seine ehemaligen Freunde nur Lügen verbreitat haben, er ist desillusioniert. Genossen haben ihn aus der Irrenanstalt befreien können. Die Gefahr, daß er als Mitwisser der Mörderbande ebenfalls juristisch belangt werden könnte, läßt in ihm die Erkenntnis reifen, daß er Gustav von Sanden aus der Welt schaffen muß. Dresde begeht einen erweiterten Suizid in dem er mit seinem Widersacher von Sanden auf der Rückbank eines Automobils mitten in den Abgrund eines Steinbruchs hineinjagt.

Der Roman endet mit der Verabschiedung Ilonas von ihrem kurzzeitigen Bundesgenossen Dr. Birnbaum auf einem Berliner Bahnhof, anschließend hält Dr. Birnbaum noch eine Rede wider die weiße Pest in Deutschland, gegen die Hetze und den Antisemitismus.

Natürlich läßt Zur Mühlen auch nicht unerwähnt, daß Polizei und Justiz, Kapital und Politik grundsätzlich voreingenommen sind und sich viel lieber mit dem Schutz des Nazideppentums beschäftigen, als mit dem Schutz des Bürgers und der Demokratie. Das war schon damals so, und wird wohl auch immer so bleiben.

Wie hellsichtig in manchen Punkten Zur Mühlen auch gewesen sein mag, denn sie durchschaute die Machenschaften der Völkischen Kräfte offenbar sehr genau, so läßt sie den Dr. Birnbaum sinngemöß an einer Stelle sagen, daß die Nazis nie den Sieg davontragen werden – und damit hatte sie leider Unrecht. Zur Mühlen veröffentlichte ihre Übersetzungsarbeiten oder ihre Kinderbücher unter ihrem bürgerlichen Namen, doch ihre politischen Kriminalromane, die meist antinazistisch und antirassistisch sind, wurden unter ihren Pseudonymen Traugott Lehmann und vor allem Lawrence L. Desberry veröffentlicht. Sie wird begriffen haben, wie gewaltbereit und mörderisch die Kreise sind, die sie dort angreift und gegen die sie eifrig agitiert. Dummheit hatte niemals andere Argumente als Gewalt und Grausamkeit. Sie schätzte die Gefahr, die ihr aufgrund ihres Schreibens drohte, durchaus realistisch ein und schützte sich mit ihren Tarnnamen. Ich hege den leisen Verdacht, daß ihr Gatte, der baltische Gutsbesitzer Zur Mühlen, ähnlichen Kreisen angehörte, die sie später so verachtete.

Die Autorin stößt den Leser gleich zu Anfang des Romans ins kalte Wasser, denn der Leser braucht einige Zeit bis er die berichteten Ereignisse einordnen kann. Doch gerade dieses Verfahren sorgt dafür, daß das Interesse des Lesers konstant wach bleibt. Die Erstausgabe von Die weiße Pest ist nahezu unauffindbar, was nicht zuletzt an der qualitativ minderwertigen Verleimung der Broschur liegen mag.