»Rolf Karsten, der Schrecken der Berliner Unterwelt« versus Zyan Kali
von Mirko Schädel
li.: [anonymer Verfasser]: »Rolf Karsten, der Schrecken der Berliner Unterwelt«, Heft 1: Die todbringende Vase, Berlin: Richard Dietze 1930 [5 Nummern]; re.: Zyan Kali [ungelöstes Pseudonym]: Hornbrillen, Mörder und?, Hamburg: Verlag roter Späher um 1926 [wohl nur eine Nummer der vier Ankündigungen erschienen – später erschienen noch zwei Hefte im Neuen Buchverlag Dresden unter ähnlicher Reihenbezeichnung]
Die todbringende Vase ist ein vollkommen konventionell gemachter Kriminalroman, dessen Held Rolf Karsten – Der Schrecken der Berliner Unterwelt – so ziemlich der papierne Höhepunkt einer Reihe von gesichts- und eigenschaftslosen Groschenhefthelden ist. Der anonym gebliebene Autor macht sich nicht einmal die Mühe, seiner Romanfigur den Abklatsch eines Sherlock Holmes oder ähnlicher Detektive zu verpassen. Mit anderen Worten: Der Leser erfährt so gut wie nichts über den »Meister«, wie er zuweilen genannt wird – nur daß der mit dem Geschwisterpaar Harry und Hella in einem äußerlich abgewrackten Haus nahe des Tempelhofer Flugfeldes lebt. Der »Meister« wohnt im ersten Stock, umgeben von einer Reihe komplizierter, technischer Geräte, aus denen Drähte geheimnisvoll hervorlugen. Hella und Harry leben im Erdgeschoß.
Die ganze Geschichte ist eine äußerst banale, wohl geschmacklich auf die Lektüre Heranwachsender abzielende Posse, die, obwohl nur 48 Seiten lang, langatmig und vorhersehbar ist. Eine Reihe von Morden an Pfandleihern hat sich in der Stadt zugetragen. Beim fünften oder sechsten Mord liest Rolf Karsten davon in der Zeitung und denkt nach. Er beschließt, diesen Vampyr zu entlarven. Sein Weg führt zur Polizei und der Mordkommission, wo er seine Dienste anbietet, um die Belohnung zu kassieren. Die Polizei bietet Karsten ihre Hilfe an, und letzterer bittet darum, sich die Tatorte näher ansehen zu dürfen. An den Tatorten untersucht Rolf Karsten Spuren, die er zwar wahrnimmt, die aber in der Handlung nicht weiter erwähnt werden. Auch weiß er, daß die Mordopfer, allesamt Pfandleiher, auf rätselhafte Weise an Herzversagen starben. Durch eine Zeugenaussage erfährt Karsten, daß der Täter wohl in einer Verkleidung mit einer Vase unter dem Arm vom Tatort floh, was ihn nebst anderen obskuren Beobachtungen auf die Idee bringt, daß die Vase ein todbringendes Gift exotischen Ursprungs enthält und also die Mordwaffe darstellt.
Der Verdacht liegt nahe, daß die Pfandleiher ausgeraubt wurden. Der Autor erzählt uns dann von den Zusammenkünften eines »schwarzen Bundes«, einer Verbrecherorganisation, die aus 13 Mitgliedern besteht. Eine Spelunke ist der Treffpunkt einiger dieser Bandenmitglieder, und Hella und Harry, Rolf Karstens Sidekicks, buhlen in großer Maskerade um das Vertrauen der Gangster. Die Räuberpistole entwickelt sich genauso, wie man erwartet, am Ende wird die Gangsterbrut durch Rolf Brand und der Polizei bei einer ihrer Zusammenkünfte verhaftet, nur einer konnte entkommen. Der »Meister« des schwarzen Bundes aber, der nur maskiert auftritt, ist identisch mit dem Wirt jener erwähnten Spelunke und wird im Nachhinein verhaftet und zu langer Zuchthausstrafe verurteilt.
In der Literatur gibt es den Begriff der Charakterzeichnung, der fehlt in diesem Text aber vollständig, die Figuren sind allesamt mit einer Lochstanze ins Papier gehackt und unterscheiden sich nicht im mindesten voneinander. Der Autor bezeichnet treffenderweise sogar Rolf Karsten als »Meister«, ganz genauso wie den doch eher unbedarften Anführer dieser Gangsterbande.
Ganz anders ist Zyan Kalis Hornbrillen, Mörder und?, der mit Witz und viel Ironie den Polizeispitzel beschreibt, das Subjekt genannt, das den ganzen Tag am Hauptbahnhof die Ankommenden nach Verdachtsmomenten selektiert. Dem Subjekt scheinen Hornbrillenträger am verdächtigsten zu sein, und als drei Hornbrillenträger sein Interesse wecken, entscheidet sich das Subjekt den Hornbrillenträger mit der ärmlichsten Bekleidung zu observieren. Der Verdächtige geht in ein Bahnhofslokal und bestellt Scheinebraten mit Rotkohl, was den Verdacht des Spitzels derart verstärkt, daß dieser zum Polizeipräsidium eilt und dort dem Vorgesetzen von diesem Hornbrillenträger berichtet. Der Vorgesetze läßt den Hornbrillenträger noch in dem Lokal verhaften, und letzterer wird ins Polizeipräsidium verbracht. Als die Polizisten feststellen, daß die Hornbrille mit Fensterglas bestückt ist, und der Verdächtige über den Beweggrund dieser Fensterglas-Hornbrille befragt wird, holt der Mann namens Harry Bugdan, ein Buchdruckergehilfe, aus – und erzählt eine ellenlange Lügengeschichte. Die Geschichte ist so weitschweifig, daß alle Beteiligten des Verhörs nebst Polizeihund einschlafen und Harry Bugdan seelenruhig das Präsidium verläßt.
Einer jener verdächtigen Hornbrillenträger vom Hauptbahnhof begibt sich zielstrebig zur Villa Blanchetta, einem Freudenhaus, das von Madame Blanchetta geführt wird. Diese Dame achtet sorgfältig darauf, daß nur Gäste von Adel oder hoher Politik dort eingelassen werden. Ihre strenge nationalistische Haltung, verknüpft mit den intimen Kenntnissen, die sie über ihre Gäste gewonnen hat, führt dazu, daß sie erfolgreich politische Intrigen knüpft, faschistische Geheimorganisationen unterstützt und zu einem Feind der Arbeiterzeitung avanciert. Der Mann mit der schwarzen Hornbrille wurde jedoch verfolgt von einem Jüngling mit einer grünen Hornbrille, dem 3. Brillenträger vom Hauptbahnhof, dem jedoch das Verschwinden des ersteren in der Villa Blanchetta entgangen ist und der resigniert weiterzieht.
Nachts öffnet sich die Tür der Villa Blanchetta, und der Mann mit der schwarzen Hornbrille wird von zwei weiblichen Wadenbeißern in den Vorgarten geschafft, der Kunde hatte sich sexuell übernommen und war einem Infarkt erlegen [ein beneidenswerter Abgang]. Harry Bugdan, von seinem Abenteuer auf dem Polizeirevier unbeeindruckt, läuft in der Nacht durch die Straßen und entdeckt die Leiche des Hornbrillenträgers, die vor dem Bordell abgelegt wurde. Bugdan untersucht den Leichnam und stellt fest, daß die Leiche eine blonde Perücke trägt, er nimmt die Papiere des Toten, dessen Perücke und Mantel zu sich und sucht sich nun in dieser Maskerade ein kleines Hotel. Dort untersucht Bugdan die Papiere des Toten und beschließt, dessen Identität anzunehmen. Darüberhinaus erfährt der Leser, daß Bugdan ein Genosse der Kommunistischen Partei ist, der als Agent fungiert und beauftragt wurde das spurlose Verschwinden eines Dr. Krohn aufzuklären.
Dr. Krohn, der vormals mit faschistischen Kreisen sympathisierte, später aber die Seiten wechselte und Mitglied der Partei wurde, ist nicht auffindbar, und die Genossen vermuten ein Verbrechen an Dr. Krohn aus Rache für seine Illoyalität. Bugdan nimmt aufgrund der Papiere des Toten am, daß es sich um einen gedungenen Auftragsmörder aus den Vereinigten Staaten handeln könnte. Er ahnt nicht, daß im Nebenzimmer sich ein neuer Gast einquartiert hat, der ihm offenbar nach dem Leben trachtet – nämlich der dritte Hornbrillenträger, der den Toten vormals beschattet hatte, dem aber jener durch die Lappen ging. Durch die Verkleidung Bugdans getäuscht, hat dieser die Spur wieder aufgenommen, ist Bugdan ins Hotel gefolgt und hat sich das Nebenzimmer geben lassen.
Der Leser erfährt, daß jener Tote sich Joe Swinburne nannte, tatsächlich aber den sprechenden Namen Patrick O’Kill trug – und wohl als gedungener Mörder in den Vereinigten Staaten Karriere machte. Der im Nebenzimmer hockende Hornbrillenträger namen Mario Nani glaubt, Bugdan sei mit jenem O’Kill identisch, er wird von Haß und Rache getrieben, denn O’Kill hat seine Tochter auf dem Gewissen. Anfangs holpert der Text ein wenig, vor allem weil der Autor die drei Hornbrillenträger derart schildert, daß der Leser Mühe hat die Personage zuzuordnen. Eine groteske Scharade entspinnt sich.
Wer ist wer und welche Absichten verfolgen die Protagonisten? Schnell wird klar, daß Mario Nani selbst ein Genosse eines syndikalistischen Arbeiterbundes der USA ist, der dem Patrick O’Kill auf den Fersen war, um diesen aus dem Weg zu räumen, leider aber nicht mitbekommen hat, daß O‘Kill Opfer seiner ausschweifenden Lebensfreude geworden ist.
Bugdan nimmt derweil die Fährte nach dem verschwundenen Dr. Krohn auf, verfolgt von seinem rachedürstenden Parteigenossen Mario Nani. Bugdan nimmt dabei außerdem die Identität des verstorbenen O’Kill an, so daß er Zugang zu den Strippenziehern der Intrige erhält und die nötigen Informationen, um den Faschisten das Leben schwer zu machen. Die Geschichte umreißt eine riesige Verschwörung, in denen die Polizei, die Lokalpolitiker der Rechten und das Bordell involviert sind.
Bald wird das seltsam anmutende Verhältnis zwischen Bugdan und Mario Nani geklärt, fortan arbeiten die beiden Genossen eifrig zusammen. Nach einigen Umwegen gelingt es den Freunden, den verschwundenen Dr. Krohn zu finden, der in einem Kellerloch gefangen gehalten wird. Mit Unterstützung der Parteigenossen wird die ganze Verschwörung und Mordmaschine der Faschisten enttarnt, es kommt zu einem Prozeß. Das Gericht ist sehr gnädig mit den Rechten, einige planen bereits ihre Flucht nach Ungarn, andere gehen freiwillig in die Psychiatrie.
Nur Bugdan und Mario Nani, die die ganze Verschwörung aufgedeckt haben, werden inhaftiert. »Gründe? Bei diesem Prozeß muß doch jemand eingesperrt werden. Seltsam werden Lohn und Strafe bei uns verteilt, meine Herrschaften. Wir leben in einer demokratischen Republik!«
Das Opfer der Intrige, Dr. Krohn, aber wird ständig von den Behörden belästigt und findet auch keine Arbeit mehr, da er auf einer schwarzen Liste geführt wird. Er flieht mit seiner jungen Frau nach Rußland. Dieser tendenziöse Kriminalroman ist überaus witzig und undogmatisch, die Geschichte ist so verwirrend, grotesk und ironisch, daß man manchmal Mühe hat, nicht den Faden zu verlieren. Der Text ist so unkonventionell und mit Einfällen überfrachtet, daß er sich von vielen geläufigen Groschenheftformaten wohltuend abhebt. Das Groteske und Skurrile, das den Text auszeichnet, wird mit einer Realität konstrastiert, die einem kulturhistorisch interessierten Leser aufmerken läßt.
Fazit: Der Kontrast zwischen diesen beiden Beispielen von Romanheften kann größer nicht sein. Während Rolf Karsten zwar routiniert, aber naiv, phantasie- und humorlos heruntererzählt wird, ist Zyan Kalis Hornbrillen, Mörder und? ein Ausbund von Phantasie, Ironie und der Groteske.
Eine vernünftige Figuren- und Charakterzeichnung benötigt Raum, könnte man meinen. Die Romane von Charles Dickens waren recht lange Wortungetüme, aber sie beweisen, daß die Charakterisierung einer Figur, die einen geradezu lebendigen Eindruck macht, nur ein paar Federstriche eines Dickens benötigt – schon sieht der Leser die Figur atmend vor seinem geistigen Auge. Es ist also nicht so sehr eine Frage des Raums, den der Text benötigt um literarischen Figuren Leben einzuhauchen, sondern eher die Frage des Talents des Autors – vielmehr die Fähigkeit eines Autors zu Sehen. Sowohl der anonyme Autor von der Rolf Karsten-Serie, noch Zyan Kali brachten dieses formale Talent mit. Ihre Figuren sind papiern, unlebendig – und bei Rolf Karsten sind die Figuren leider ununterscheidbar.