Petrus Borel der Lykanthrop
von Robert N. Bloch
Petrus Borel, der Lykanthrop, wie er sich selbst titulierte, ist der erste und krasseste Vertreter der frenetischen Literatur. Er beeinflußte maßgeblich die französischen Dekadenzschriftsteller des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Zu seinen Bewunderern zählt Baudelaire, der über ihn sagte: »Ich jedenfalls gestehe aufrichtig - auch auf die Gefahr hin, mich lächerlich zu machen, – daß ich stets Sympathie für diesen unglücklichen Schriftsteller empfunden habe, wenngleich sein irregeleitetes Genie, das ebenso ehrgeizig wie ungeschickt verfuhr, nur minutiös ausgeführte Skizzen imd flammende Blitze sowie Gestalten hervorzubringen vermochte, deren allzu bizarres Auftreten und deren seltsame Redeweise die angeborenen Größe herabsetzt. Kurz, er hat seine eigene Prägung, einen Geschmack sui generis.«
Petrus Borel wurde im Jahre 1809 als zwölftes von vierzehn Kindern eines Eisenwarenhändlers in Lyon geboren. Der Vater verkaufte sein Geschäft in Lyon und zog nach Paris, um von seinen Ersparnissen zu leben und sich um die Erziehung seiner jungen Söhne zu kümmern. Petrus besuchte zuerst das Petit Seminaire Sainte Elizabeth und danach das Petit Seminaire Saint Roch. Der Besuch dieser religiösen Einrichtungen führte bei ihm zu einem heftigen Atheismus und Antiklerikalismus. Die erzwungene Gemeinsamkeit an der Internatsschule, die er ertragen mußte, nährte seinen Hang zur Einsamkeit. Er versank in Stimmungen tiefster Melancholie und konnte stundenlang weinen. Auch im späteren Leben war er unfähig, sich auf seine Lebensumstände einzustellen. 1824 gab ihn sein Vater in die Lehre bei dem Architekten Garnaud, und Borel glaubte sich in die Sklaverei verkauft. Er hielt nichts von den Belehrungen seines Meisters, den er als phantasielos einschätzte. Er wechselte zu dem Architekten Boulard und eröffnete 1829 mit 20 Jahren sein eigenes Architektenbüro. Natürlich erhielt der junge und unbekannte Mann nur wenig Aufträge, so daß er in großer Armut lebte und auf die Barmherzigkeit seiner Freunde angewiesen war. Einige Häuser, die er für eine Baugesellschaft entwarf und bauen ließ, mißfielen den Bauherren. In seinem Ärger zerriß Borel den Vertrag und entschloß sich, Schriftsteller zu werden.
Er schloß sich einer Künstlergruppe an, die sich gegen den Klassizismus verschworen hatte und wurde zu ihrem Führer. Zu den exzentrischen Mitgliedern der Gruppe zählten unter anderem Theophile Gautier und Gerard de Nerval. Sie pflegten sich nackt im Garten ihres Hauses zu treffen, bis die Polizei einschritt. Zum Ärger ihrer Nachbarn warfen sie eine Schneiderpuppe im Totenhemd auf die Straße und behaupteten, es sei eine Leiche, die sie auf dem Friedhof ausgegraben hätten. Die Gruppe nannte sich schließlich "Les Bouzingos" und zwischen 1831 und 1832 überschlug sich die Presse in der Beschreibung ihrer unmoralischen Exzesse. Gautier sagte über Borel: »Man fühlt, daß er kein Zeitgenosse ist, nichts an ihm erinnert an den Menschen von heute, er muß aus längst vergangenen Zeiten stammen.«
Im Dezember 1831 erschien sein erstes Buch, der Gedichtband Rhapsodies. Stolz und arrogant erklärt er, daß er nie der Schüler von jemandem war, und dies erkläre, warum er arm und unbekannt sei. Im Vorwort heißt es: »Die mich nach diesem Buch beurteilen und an mir verzweifeln, werden sich täuschen, die mir ein großes Talent zuschreiben, täuschen sich auch. Ich übe mich nicht in Bescheidenheit, denn für die, die mich nur leeres Stroh zu dreschen bezichtigen, habe ich meine poetische Überzeugung, ich lache darüber.«
Obwohl ihm das Buch weder Ruhm noch Reichtum einbrachte, glaubte der Autor an einen Achtungserfolg und hielt sich für bekannt genug, eine eigene Zeitschrift zu gründen, die seinen Idealen Ausdruck geben sollte. 1832 erschien die erste Nummer von »La Liberte, Journal des Arts«. Das Ziel war, die Universität, die Schulen und die Akademie sowie alle klassischen Kunstformen anzugreifen. Borel war auf dem Höhepunkt seiner Popularität und hegte große Hoffnungen für die Zukunft. »La Liberte« fand keinen Absatz und wurde nach sechs Monaten im Februar 1833 wieder eingestellt.
1833 erschien das Buch, auf dem bis heute Borels Ruhm beruht, Champavert, Contes Immoraux, ein Erzählungsband, in dem sich Horror, Sadismus, schwarzer Humor und Ironie verbinden. Champavert, der autobiographische Held nimmt sich unter grotesk-makabren Umständen das Leben; er wird in einem Pferdeschlachthof tot aufgefunden; ein Schlachtmesser ragt wie ein Pfahl aus seiner Brust hervor. Die Erzählung »Passereau l'Ecolier« konnte nur einem morbiden Geist entspringen. Der Student Passereau glaubte einst an Frauen und die Liebe, bis er herausfindet, daß seine Geliebte einen anderen Liebhaber hat. Er lockt sie in einen einsamen Garten und stürzt sie in einen Brunnen. Er beobachtet ihre Qualen des Ertrinkens und stößt schließlich einige Steine der Brunneneinfassung herunter, um das makabre Schauspiel zu beenden. Dann geht er zu ihrem Liebhaber und schlägt ein Dominospiel vor. Der Gewinner bekommt das Mädchen und darf den Verlierer erschießen. Passereau verliert, wie er es geplant hat, und als letzten Wunsch bittet er den Rivalen, zu dem Brunnen in dem Garten zu gehen und hineinzuschauen. Danach stirbt er glücklich, da er weiß, der Sieg seines Feindes ist vergebens, denn er wird nur den Körper der toten Geliebten im Brunnen finden. Zu den provokativen Szenen der Novelle, die gleichzeitig rührend und komisch ist, gehört die, in der er in seiner ersten Verzweiflung über den Betrug der Geliebten zum Henker geht und sagt: »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Ich möchte Sie untertänigst bitten und wäre Ihnen für diese Gefälligkeit sehr dankbar, wollten Sie sich dazu herablassen, mir gütigst die Ehre und die Liebe anzutun, mich zu guillotinieren.«
In »Monsieur de l'Argentière« verführt ein Staatsanwalt eine Frau, schwängert sie und läßt sie schließlich wegen Kindsmords hinrichten. Borels Zynismus wird deutlich, wenn er die Hinrichtung beschreibt. Es regnet, und die Menge kann das Schafott nicht sehen. Man ruft: »Runter mit den Schirmen, niemand kann etwas sehen!« »Als das Beil fiel, konnte man ein dumpfes Murmeln hören, und ein Engländer, der aus einem Fenster lehnte, für das er zwanzig Pfund bezahlt hatte, schrie befriedigt, während er Beifall klatschte: ›Sehr gut!‹«
»L’Anatomiste« beschreibt die Ehe zwischen einem alten Doktor der Anatomie und einem jungen Mädchen. Das Mädchen nimmt sich Liebhaber, da ihr Mann impotent ist. Doch ihr Gatte weiß von ihrer Untreue. Er führt ihr die Liebhaber zu, um sie hinterher zu töten und zu sezieren. Als er ihr die Skelette ihrer Liebhaber zeigt, wird sie ohnmächtig, und er seziert auch sie.
Borels Haß und Bitterkeit gegen das Leben, ohne Hoffnung auf irgendetwas, entlädt sich fulminant in »Testament de Champavert«: »Idioten seid Ihr alle! Ihr geht alle dahin, wo alles endet, ins Nichts! Und im Angesicht des Todes und mit den Füßen im Grab nenne ich Euch Feiglinge! Ich will kein anderes Leben! Ich habe genug vom Leben! Ich erstrebe das Nichts, die Selbstauflösung! Und nebenbei, Ihr Christen, Ihr habt Euren Gott aufgehängt, und Ihr tatet recht, denn wenn es Gott war, so hat er das Hängen verdient!«
Kurz nach der Publikation von Champavert, das ein finanzieller Fehlschlag wurde, brachen die »Bouzingos« auseinander. Der von seinen Anhängern verlassene Borel mußte aus Armut seinen geliebten Hund abschaffen und ging 1835 aufs Land, um der Armut und einer Gesellschaft, die er zu hassen begann, zu entkommen. Er lebte von selbstgezogenem Gemüse in völliger Einsamkeit in einer Holzhütte in der Champagne. Einsamkeit und Hunger steigerten seine Verbitterung gegen die Welt und einstige Freunde. Unter diesen elenden Umständen von Hunger und Depression entstand sein einziger Roman Madame Putiphar (1839), eine monströse Beschreibung von Qual und Folter, die an Marquis de Sade gemahnt, in der der Autor beweisen möchte, daß es Menschen gibt, die von einem gnadenlosen Schicksal verfolgt werden, egal wie edel und tugendhaft sie sich verhalten mögen. Das Buch blieb wie seine Vorgänger ohne Resonanz.
1839 kam Borel zurück nach Paris, um sich als freier Journalist durchzuschlagen. Er war dreißig Jahre alt, doch er sah viel älter aus. Er bekam eine Glatze, die Augen waren tief eingesunken, und der Rücken war gebückt. Er machte einen verzweifelten Eindruck und schien sich seiner selbst zu schämen.
Er schrieb für verschiedene Zeitschriften Erzählungen und Artikel und, um nicht zu verhungern, serienweise Preisverleihungsreden. 1843 erschien seine letzte bedeutende Novelle »Gottfried Wolfgang« in »La Sylphide«. Sie erzählt von einem deutschen Studenten im Paris der Revolutionszeit, der nachts unter der Guillotine eine Frau trifft, die er aus seinen Träumen kennt. Er nimmt die Heimatlose mit zu sich, und sie schläft in seinen Armen ein. Am nächsten Morgen ist sie tot. Ein Polizist erklärt, sie sei gestern guillotiniert worden. Es handelt sich hierbei nur um eine Bearbeitung einer Erzählung von Washington Irving aus dem Jahr 1824 (»The Adventure of the German Student«). Alexandre Dumas stahl wiederum die Bearbeitung Borels und veröffentlichte sie 1849, als Borel die Schriftstellerei längst aufgegeben hatte und nicht mehr im Lande weilte, als »La Femme au Collier de Velours« unter seinem eigenen Namen.
»Satan« und »La Revue Pittoresque« hießen zwei Zeitschriften, deren Herausgabe Borel übernahm und in denen er Gedichte, Artikel und Erzählungen veröffentlichte und die zwangsläufig unter seiner Führung in den Ruin trieben. Im November 1845 hatte er in »L’Artiste« den Artikel »Alger son Avenir Litteraire« publiziert, was seinen Freund Gautier dazu veranlaßte, ihn zu fragen, ob er einen Posten in Algerien annehmen würde. Borel hätte jede Arbeit akzeptiert, um seiner jämmerlichen Existenz in Frankreich zu entfliehen. Borel bewarb sich um den Posten eines Kolonialinspektors und wurde eingestellt.
Am 25. Januar 1846 landete er in Algerien. In Algier heiratete er eine Neunzehnjährige. Schon 1848 wurde er wegen Unfähigkeit aus dem Staatsdienst entlassen, doch gelang es ihm durch Beziehungen 1849 wieder eingestellt zu werden. In den folgenden Jahren führte er, statt zu arbeiten, einen besessenen Kleinkrieg gegen seinen Vorgesetzten, den er für seinen Feind hielt, und bemühte sich um dessen Entlassung. Als er ihn der Unterschlagung bezichtigte, grub er sich sein eigenes Grab. Es fand eine Untersuchung statt. Borels Beschuldigungen erwiesen sich als haltlos, und er wurde endgültig im August 1855 aus dem Staatsdienst entlassen. 1857 nach zehnjähriger Ehe wurde ihm ein Sohn geboren. Am 17. Juli 1859 erlag der zermürbte und verzweifelte ehemalige Dichter einer seltsamen Todesart. Er lehnte es ab, unter der glühenden Sonne seinen Kopf zu bedecken und starb innerhalb weniger Tage an einem Hitzeschlag.
In Frankreich beeinflußte Borel neben Baudelaire und Lautreamont auch Surrealisten wie André Breton. Die Dekadenzliteratur, angefangen mit Gautier, über Remy de Gourmont bis Villiers de l’Isle-Adam hat in ihm ihre Wurzeln. In Deutschland ist er bisher nahezu unbeachtet geblieben.
Literatur zu Petrus Borel:
Jules Claretie: Petrus Borel, le Lycanthrope. Paris 1865
Aristide Marie: Petrus Borel. Paris 1922
Enid Starkie: Petrus Borel en Algerie. Oxford 1950
Enid Starkie: Petrus Borel the Lycanthrope. London 1953
BIBLIOGRAPHIE
1. Kurzgeschichten
TESTAMENT DE CHAMPAVERT (1833)
1) HÄNDLER UND DIEB IST EINUNDDASSELBE (Auszug)
André Breton: ANTHOLOGIE DES SCHWARZEN HUMORS
(Anthologie de l'Humour Noir, 1940)
München 1979, Rogner & Bernhard (S. 137-139)
Übersetzung: Johannes Hübner
(ohne Originaltitel)
1) DER LEICHENTRÄGER
André Breton: ANTHOLOGIE DES SCHWARZEN HUMORS
(Anthologie de l'Humour Noir, 1940)
München 1979, Rogner & Bernhard (S. 139-142)
Übersetzung: Johannes Hübner
Romane und Einzelausgaben
PASSEREAU L'ECOLIER (1833)
1) PASSEREAU, DER STUDENT
Berlin 1990, Edition Sirene (Illuminationen 1) (109 S.)
Übersetzung: Eva-Maria Thimme
Erzählungssammlungen
DIE MACHT DES GESCHICKES. DREI ERZÄHLUNGEN (Champavert. Contes Immoraux, 1833, Auswahl) (als Champavert)
Ludwigsburg 1833, Verlag von J. Baumann (143 S.)
Übersetzung: Anonym
Inhalt: Einleitung. Nachrichten über Champavert (Notice sur Champavert); Herr von Argentière, der Ankläger (Monsieur d'Argentière); Don Andreas Vesalius, der Anatome (L'Anatomiste); Dina, die schöne Jüdin (Dina la Belle Juive).
Schriften zu Literatur und Kunst
PREFACE (1831)
1) RHAPSODIEN
André Breton: ANTHOLOGIE DES SCHWARZEN HUMORS
(Anthologie de l'Humour Noir, 1940)
München 1979, Rogner & Bernhard (S. 134-137)
Übersetzung: Johannes Hübner
© 2021 Robert N. Bloch