Otto Hoecker: »Die Wirtin zum Goldenen Lamm«, 1917
von Mirko Schädel
Otto Hoecker: Die Wirtin zum Goldenen Lamm, Regensburg: Josef Habbel 1917, 231 Seiten
Über den Autor Otto Hoecker ist gemeinhin wenig bekannt, er scheint im Umfeld des Dresdner Verlags Eichler tätig gewesen zu sein, später streute er hier und da kurz nach der Jahrhundertwende bis in die späten 1920er Jahren meist Kriminalromane und Wildwest-Geschichten, die in verschiedenen Verlagen erschienen sind. Nur die Affäre um Hoeckers Plagiate von Jacques Futrelles Die Denkmaschine scheint für Sammler heute noch von Interesse zu sein.
Der ausgewiesene Krimikenner Thomas Wörtche behauptete unlängst im Deutschlandradio Kultur – nebenbei bemerkt eine Art mediale Huldigungsstätte für den großen Philosophen Ulf Poschardt – Friedrich Glauser sei der erste [deutschsprachige] Krimiautor, davor habe es nur so eine Art Verbrechensdichtung [!!!] gegeben. Da frage ich mich natürlich ob es sich bei Wörtches Bemerkung um bislang unerkanntes Beweismaterial einer voranschreitenden Demenz handelt oder, was eigentlich noch schlimmer wäre, eine fortschreitende Ignoranz wider besseren Wissens. Ein Grund mehr sich mit den vergessenen Autoren zu beschäftigen, da in der Krimiszene offenbar Unwissen, Ignoranz und Desinteresse für die Geschichte des eigenen, favorisierten Genres vorherrscht.
Die Wirtin zum Goldenen Lamm ist ein Kriminalroman, der ein erhebliches Maß an Regionalkolorit aufweist, denn er spielt in der badischen Provinz nahe der schweizerischen Grenze und beschreibt diese spezielle Atmosphäre gekonnt. Jeden Samstag trifft sich dort im Goldenen Lamm ein Trio zum Skat. Der Kreisarzt Dr. Findler, Amtsgerichtsrat Martini sowie der Gastwirt Bindewald, doch an diesem Tag ärgert sich der Kreisarzt über die Verspätung seiner beiden Skatfreunde.
Mit erheblicher Verspätung trifft der Amtsgerichtsrat Martini ein, der noch amtlich zu tun hatte, nur der Gastwirt Bindewald taucht nicht mehr aus dem draußen stattfindenden Schneegestöber auf. Die verschlossene Wirtin weiß auch nicht, wo ihr Mann abgeblieben sei, sie mache sich mittlerweile Sorgen, war er doch mit erheblichen Barmitteln im Nachbardorf um ein Stück Vieh zu bezahlen.
Nach und nach kristallisiert sich heraus, daß vor Jahren eine Tragödie im Goldenen Lamm stattgefunden hatte, der Vater der heutigen Gastwirtin wurde nämlich von Sanders, dem Exgatten der Wirtin, ermordet und beraubt. Sanders war im Zuchthaus, wurde aber in die Irrenanstalt überwiesen, wo er vor ein paar Tagen fliehen konnte. Sanders beteuerte immer seine Unschuld, doch die Wirtin fand ihren damaligen Gatten über den Toten gebeugt vor und glaubte ihm die Geschichte eines flüchtenden Eindringlings nicht, der sich aus dem Fenster geschwungen hatte.
Die Wirtin ließ sich von Sanders scheiden, verstieß ihr Kind, das bei Pflegeeltern lebte, und heiratete Bindewald, den heutigen Gastwirt und ehemals besten Freund ihres Mannes, der gegen Sanders vor Gericht zeugte. Nach ein paar Stunden jedoch erscheint der Postbote, der behauptet die Kutsche Bindewalds auf der Straße vorgefunden zu haben, Bindewald sei nicht in der Nähe gewesen, er habe sich die Kutsche genommen und sei heimgefahren, denn er wohnt auf dem Grundstück der Gastwirtschaft zum Goldenen Lamm.
Die Wirtin läßt in der Nacht noch eine Kutsche anspannen um sich auf die Suche nach ihrem Mann zu begeben, ebenso der Kreisarzt und Martini, der Amtgerichtsrat, denn die beiden Herren wittern ein neuerliches Verbrechen. Nach Lecoqscher Manier werden die Fußspuren an dem vermeintlichen Tatort untersucht mittels Acetylenlampen. Eine dieser Spuren weist eine Eigentümlichkeit auf, ein Nagel an einer linken Stiefelsohle scheint zu fehlen. Martini vermutet, daß der Mörder sein Opfer durch den Schnee geschleift habe, aber die Leiche bleibt vorerst verborgen.
Der Tochter der Gastwirtin, mittlerweile erwachsen und mit dem jungen Kaufmann Jungnickel verheiratet, lebt in dem Dorf, das Bindewald zum Bezahlen seiner Schuld aufgesucht hatte. Doch vor Ort wird klar, daß er die Schuld nicht bezahlt hatte, denn Bindewald behauptete gegenüber seinem Schuldner sein Geld zuhause vergessen zu haben und wirkte überhaupt außergewöhnlich fahrig. Es finden diverse Haussuchungen in dem Dorf statt, da es Zeugen gab, die in der Nacht in näherer Umgebung Schüsse gehört hatten.
Martini und der Kreisarzt besuchen auch die Tochter der Gastwirtin und ihren Gatten den Kaufmann Jungnickel, denn der entwichene Zuchthäusler und vermeintliche Mörder Sanders könne nur bei seiner Tochter Zuflucht genommen haben. Doch Sanders ist nicht auffindbar, stattdessen entdeckt Martini durch Zufall bei der Befragung des dörflichen Schusters ein paar Stiefel, bei der die linke Sohle jene Eigentümlichkeit des fehlenden Nagels aufweist – und auch mit der Größe der vorgefundenen Spuren im Schnee identisch ist. Auf die Frage, wem die Stiefel gehören, wird Martini erklärt, daß es sich um das Eigentum Jungnickels handelt, seine Frau habe gestern spät die Stiefel zur Reparatur gegeben. Damit steht für Martini fest, daß Jungnickel, womöglich als Komplize des entflohenen Sträflings und Schwiegervaters, das Verbrechen begangen habe. Martini und sein Freund der Kreisarzt Findler wenden sich wieder an Jungnickel – in der Folge dieser Befragung wird letzterer verhaftet, ebenso seine Gattin – die Tochter der Wirtin zum Goldenen Lamm.
Der Kreisarzt hält diese Verhaftungen für zu verfrüht, er ermahnt seinen Freund Martini fortwährend, doch der hält verbissen an seinen oberflächlichen Vorurteilen fest. Kurz darauf wird die Leiche Bindewalds entdeckt, die versteckt etwas abseits im Schnee lag. Als die ganze Truppe wieder zurück im Gasthof zum Goldenen Lamm ist, wird die Leiche des alten Franz, eines Faktotums des Gasthauses, erschlagen vorgefunden.
Bei der Befragung der nächstliegenden Zeugen stoßen Martini und der Kreisarzt auch auf den Postboten, der in seiner Wohnung seinen Rausch ausschläft. Die Tochter dieses Postboten macht einen unangenehmen Eindruck, sie klammert sich während der Befragung geradezu panisch an ihre Handtasche. Als dem Kreisarzt dies auffällt, macht er Martini darauf aufmerksam. Es kostet viel Kraft der jungen Dame die Tasche abzunehmen, doch der Inhalt läßt aufhorchen, denn in der Tasche stecken verschiedene private Wert- und Schmucksachen, sowie eine gehörige Menge Bargeld, die dem toten Bindewald gehört hatten.
Ebenso interessant ist die Entdeckung, daß der Postbote Stiefel trägt, die ebenfalls jene Eigentümlichkeit aufweisen und mit der Größe der vorgefunden Spuren im Schnee identisch sind. Der Kreisarzt spricht von der Dualität der Ereignisse und läßt durchblicken, daß ihm der Postbote verdächtig erscheint, doch es soll noch Stunden dauern bis dieser ansprechbar ist.
Die Befragung der Tochter des Postboten ergibt, daß sie die Wertsachen Bindewalds am Morgen im Hof aufgefunden habe. Später, als der Postbote seinen Rausch halbwegs überwunden hat, gibt dieser nur unzureichende Informationen preis. Vater und Tochter werden verhaftet. Anschließend wird die Wohnung des Postboten genauer untersucht. Als Martini schon die Hausdurchsuchung abbrechen will, entdeckt er eine Luke, die zum Dachboden führt. Dort findet er hinter einem losen Ziegelstein ein Leinensäckchen, in dem ein Fragment einer goldenen Kette liegt, an dem ein Miniaturbild befestigt ist.
Der Leser ahnt schon seit langem, daß die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen und fühlt sich bestätigt, als die Gastwirtin diese Kette als Eigentum ihres ermordeten Vaters wiedererkennt, doch noch mehr, sie scheint nach so vielen Jahren an der Schuld ihres ersten Gatten zu zweifeln und Bindewald, ihren jetzigen, jedoch getöteten Gatten als möglichen Täter ins Auge zu fassen. Dieses Ereignis geht auch an Martini und dem Kreisarzt nicht spurlos vorbei, doch die Befragungen und die Konfrontation des Postboten mit dem bei ihm aufgefundenen Schmuckstücks führen zu keinerlei neuen Erkenntnissen – mit einer Ausnahme: Der Postbote lügt.
So geht es noch eine ganze Zeit, auch als ein Untersuchungsrichter aus Konstanz sich an den Ermittlungen beteiligt, kommen die Beamten nicht weiter. Doch der Kreisarzt, der am Tatort ein Seil fand und darauf einige Haare, bringt mehr Licht ins Dunkle. Er untersucht die Haare und vergleicht diese mikroskopisch auch mit denen des Postboten, dabei stellt er fest, daß die Haare identisch sind. Um sich zu vergewissern, schickt er die Haarproben auch zu einer wissenschaftlichen Koryphäe an der Universität, die die Ergebnisse des Kreisarztes bestätigt. Daraufhin wird der inhaftierte Postbote erneut Verhören ausgesetzt, die dann langsam Ergebnisse zeitigen.
Am Ende stellt sich heraus, daß der Postbote in Gemeinschaft mit seinem Schwiegersohn und seiner Tochter den Gastwirt Bindewald ermordet und beraubt hatte, letzterer hatte seinerseits vor Jahren den Vater der Gastwirtin aus Habgier ermordet. Nach der Tat begab sich das Trio in den Gasthof zum Goldenen Lamm, wo sie Franz, das Faktotum, erschlugen um seelenruhig den Tresor zu öffnen und das Bargeld zu stehlen. Sanders, dessen Unschuld nunmehr erwiesen ist, stirbt an Auszehrung im Hause seiner Tochter und seines Schwiegersohns Jungnickel. Sanders und Bindewalds Witwe, die Wirtin zum Goldenen Lamm gelingt es noch bei Sanders um Gnade und Entschuldigung zu bitten, denn sie hatte all die Jahre an dessen Schuld geglaubt und ihn und ihre Tochter mit ihrem Hass verfolgt.
Dieser Kriminalroman ist ein geschickt konstruierter, sehr spannender und solider Roman, der nur schwächelt, wenn er gelegentlich in einen pathetischen, sentimentalen, alttestamentarischen Ton verfällt, der an Kitsch grenzt. Der größte Teil des Romans wird in der Form eines nüchternen Berichts dargebracht, doch ein kleiner Teil handelt von den Gefühlen, der Verzweiflung und der Sehnsucht der handelnden Figuren, und um das zu illustrieren, wendet der Autor sprachliche Mittel an, die zwar zeitlich authentisch klingen mögen, die er sich aber hätte sparen sollen.
Hätte der Autor dieses Verfahren unterlassen, könnte man durchaus von einem modernen Kriminalroman sprechen. Die Figuren sind zwar allesamt Klischees der wilhelminischen Ära, dennoch dreht sich die Geschichte um einen Justizirrtum, den es zu jener Zeit nicht gegeben haben dürfte, da ja amtliche Würdenträger und die Gerichtsbarkeit des Deutschen Reiches ebenfalls nicht irren konnten – weil nicht sein kann, was nicht sein darf.