T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Otto Goldmann: »Marionetten«, 1924
von Mirko Schädel



Otto Goldmann: Marionetten, Leipzig: Vereinigte Verlagsgesellschaft Dietsch & Speka 1924, 159 Seiten. Der Betrachter sieht richtig: Die Figur auf dem Deckel spritzt sich gerade eine Morphium-Dosis in den Arm


In Marionetten, 1924, werden Kommissar Braun und Staatsanwalt Dr. Hagenau zu dem Mordfall Dr. Wagner gerufen. Auch der Gerichtsarzt Dr. Förster ist anwesend und untersucht den Leichnam. Den Toten fand der Diener Johann, der alt und schwerhörig ist und am Morgen die geöffnete Haustür entdeckte. Zwei Zeugen stellen sich ein, der eine ein Wachtmeister, der aussagt, daß er eine junge, anämische, überaus schlanke Frau morgens um sechs Uhr aus dem Haus hat kommen sehen. Die junge Frau machte einen überaus aufgeregen Eindruck und schien zu weinen.

Auch ein Freund des ermordeten Dr. Wagner, ein Herr Peter von Simon, trifft am Vormittag am Tatort ein und erzählt eine ziemlich hanebüchene Geschichte. Von Simon, ein junger, reicher Schnösel aus einflußreicher Familie und Präsident des Viktoriaklubs – volkstümlich auch als Selbstmörderklub bezeichnet –, behauptet, er sei bis fünf Uhr in der Frühe bei seinem Freund Wagner gewesen.

Aus den Gegebenheiten des Tatorts geht hervor, daß Dr. Wagner durch das Fenster im Erdgeschoß erschossen wurde, außerdem sei vermutlich ein zweiter Täter im Hause gewesen, denn sowohl das Fenster als auch die Haustür seien offen gewesen. Das Mobiliar und die Gegenstände in dem Raum, in dem der Leichnam liegt, sind verwüstet worden, inmitten der am Boden verstreuten Gegenstände findet sich eine Morphiumspritze, die offenbar vor kurzem benutzt wurde. Der Zeuge Peter von Simon behauptet, Dr. Wagner sei Morphinist gewesen.

Und ein weiterer Mord erschüttert die Stadt, ebenso zwölf seltsame Selbstmorde innerhalb des Viktoriaklubs sowie der scheinbare Diebstahl einer rubinbesetzten Halskette. Das ganze weitet sich zu einer der exzentrischsten Räuberpistolen aus, die ich je gelesen habe. Um sich auch nur annähernd einen Begriff von der hanebüchenen Dramaturgie des Textes zu machen, sei gesagt, daß der junge Peter von Simon einen unehelichen Bruder, einen Doppelgänger namens Nemo, hat, der Peter von Simon bislang nicht vorgestellt wurde und von dessen Existenz er auch nichts ahnte. Nemo ist der »König der Hochstapler«. 

Eine weitere tragende Rolle spielt die Russin Olga, die vor Jahren ihren Gatten in Petersburg beseitigt hat, um an sein Vermögen zu kommen, und nunmehr in einer Villa residiert, die innen wie ein orientalischer Palast ausgestattet ist. Die ehemalige Tingeltangeltänzerin und Artistin hat es nämlich fertiggebracht, ihre verwirrten Verehrer aus dem Viktoriaklub nacheinander in Hypnose zu versetzen und ihnen mittels Telepathie ihren Willen aufzuzwingen. Der Mensch lebt nicht von Brot allein, und so hat die betörende Fürstin Olga diese Männer zu Verbrechen animiert, etwa zu einem Einbruch in der Deutschen Bank, dem Diebstahl eines ungeheuren Diamanten und weiteren mehr. Die zwölf Mitglieder des Viktoriaklubs legten ihrer Angebeteten das gestohlene Gut zu Füßen. Nachdem die Herrschaften, allesamt aus gutem Hause, aus ihrer hypnotischen Trance erwacht waren, bereuten sie ihre Verbrechen bitterlich und hatten nichts Eiligeres zu tun, als ihr eigenes Lebenslicht auszulöschen.

Der ermordetete Dr. Wagner hat in einer ähnlichen Trance seinen garstigen, schwerreichen, aber kränkelnden Onkel vergiftet, ist dann nach Hause geeilt und hat sich mittels einer Morphiumspritze selbst gerichtet. Zufällig hat eine alte Dame von gegenüber einen Schuß auf einen vermeintlichen Einbrecher ausgeführt, aber dieser Schuß hat gefehlt und statt dessen Dr. Wagner getroffen, der nur ein paar Meter entfernt wohnte. Ob Dr. Wagner bereits dem Morphium erlegen war, als der Schuß seinen Schädel zerschmetterte, oder ob er noch mit der Spritze in der Hand sich die Dosis setzte und dann von der Kugel getroffen wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Das Buch ist amüsant und entbehrt nicht eines gewissen Humors.