T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Oliver West, das ist Robert Gilbert: »Der Mordfall Boxcalf-Saffian«, 1935
von Mirko Schädel



Oliver West, das ist Robert Gilbert: Der Mordfall Boxcalf-Saffian, Wien, Leipzig, Budapest: Rózsavölgyi 1935, Selekt Bücher [Der Kreuzworträtsel-Kriminalroman], 284 Seiten


Gewöhnlich vergeht mir jede Lust auf ein Produkt mit dessen Werbung und Marketing ich konfrontiert werde. Mir erscheint das als verdächtig und als ein untrügliches Indiz für literarischen Müll. Ich sehe hinter diesen Bemühungen immer die zynische Werbebranche, die Produkte, die niemand braucht, schlichten Gemütern anzudrehen. Deshalb fallen auch Bücher in mein persönliches Raster, die in Bestsellerlisten beworben werden und die ich keinesfalls lesen möchte – ist doch der kleinste gemeinsame Nenner dieser Bücher die so oder anders geartete Mittelmäßigkeit. So sind Bücher, die mit geschicktem Marketing und marktschreierischer Eloquenz beworben werden, für mich von keinem nennenswerten Interesse. Aber manchmal irrt sich auch das wohlgepflegte Vorurteil, wie in diesem Falle.

Natürlich war mir klar, daß die Kreuzworträtsel-Kriminalromane nur einer geschickten Marketingidee entsprungen sind, denn Kreuzworträtsel mit einem Kriminalroman zu verknüpfen, gab es bisher auf dem Buchmarkt nicht und stellt ein Alleinstellungsmerkmal der Gattung dar – und ein womöglich dementsprechend gesteigertes Interesse des Publikums für das Neuartige. Ich vermute, daß dieser Marketingtrick von Erfolg gekrönt war.

Doch diese Verknüpfung zweier spießig anmutender Beschäftigungen, wie das Lesen von Kriminalromanen und das Lösen von Kreuzworträtseln, steigert in meinen Augen keineswegs die Attraktivität. Auch die Ausstattung der Selekt-Bücher läßt zu wünschen übrig, das Papier ist billig, die Verarbeitung mäßig, der Setzer war angesichts der Druckfehler häufig verkatert, so daß meine Neugier für diese Reihe derart gedrosselt war, daß ich erst jetzt eines davon zur Hand nahm, und das ist dem Umstand geschuldet, daß ein freundlicher Hinweis mich über den Klarnamen des Pseudonyms Oliver West informierte. Und dieser Klarname wertet das Buch durchaus auf und macht es zu einer bislang unbekannten Exilpublikation, die man sich genauer anschauen sollte.

Hinter diesem Pseudonym steht überraschenderweise der weltweit anerkannte Komponist, Librettist, Dichter und Kabarettist Robert Gilbert, das ist David Robert Winterfeld, 1899–1978, der ein abenteuerliches Leben geführt hat, das ihn kurz nach der Machtergreifung des allgemeinen Deppentums 1933 in die Flucht aus Deutschland getrieben hat. »Am Samstag will mein Liebster mit mir segeln gehn…« Wem ist dieser Schlager kein Begriff?

Der Exil-Kontext dieser auf vier Kreuzworträtsel-Kriminalromane geplanten Reihe, wovon nur zwei erscheinen konnten, läßt mich großzügig sein und diesen geschickten Marketingtrick verzeihen – auch die minderwertige Verarbeitung dieser Bücher läßt sich angesichts des historischen Hintergrundes entschuldigen, so daß ich nun endlich den Roman Der Mordfall Boxcalf-Saffian zur Hand genommen habe – und meine lächerlichen Ressentiments vergaß.

Eines noch vorweg: Die Kreuzworträtsel sind tatsächlich ein überflüssiger Marketingeffekt, doch dieser bislang sogar meiner Verachtung preisgegebene Kriminalroman hat sich als ein gediegener, witziger und spannender Krimi ungewöhnlicher Bauart erwiesen. Für die Kriminalliteratur – und also Spannungsliteratur – ist die Authentizität eine Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit der Erzählung und unabdingbar notwendig um einen Spannungsbogen überzeugend zu entwickeln. Ohne das Bühnenbild, ohne die realistische Atmosphäre der Zeit, ist ein Kriminalroman nicht viel wert und verliert sowohl die Glaubwürdigkeit als auch den begehrten Spannungsmoment. Doch genau dies, Atmosphäre, Lokalkolorit und Zeitgeist, ist dem Autor auf hervorragende Weise gelungen.

Der Mordfall Boxcalf-Saffian spielt in Genf während einer internationalen Schuhmesse. Zu Beginn des Romans bewegt sich eine kleine Reisegruppe mit einer Chartermaschine nach Genf, doch kurz vor der Landung stürzt das Flugzeug am Ufer des Genfer Sees ab. Nur der ehemalige Schuhfabrikant Loos kommt ums Leben, alle anderen Insassen kommen mit leichteren Blessuren davon. Beinah alle Passagiere kommen aus dem Umfeld der Schuhbranche, nur zwei Herren haben angeblich mit der schuhaffinen Reisegruppe nichts zu tun – was sich später als Täuschungsmanöver entpuppt.

Der tote Schuhfabrikant Loos ist jedoch keineswegs an den Folgen des Absturzes gestorben, sondern es wurde ihm kurz vor dem Unfall noch im Flugzeug in den Hinterkopf geschossen. Ein sensationeller Mord ist geschehen und Kommissar Orell der Polizei Genf übernimmt den Fall. Orell, der mit seinem Zwillingsbruder [eineiig] im gleichen Schlafzimmer nächtigt und mit diesem trägen Philatelisten seine Fälle bespricht, ist ein ungewöhnlicher Charakter. Für Orell scheint es nur seine Arbeit zu geben, so wie es für seinen Bruder nur seine Philatelie gibt.

Im Zuge der Ermittlungen läßt uns der Autor mit einer kleinen Schar von undurchsichtigen Akteuren der Schuhbranche bekannt werden, die alle ihre kleinen Geheimnisse und teilweise ein gesundes Mißtrauen gegenüber der Polizei haben. Orell stößt auf viele kleine und seltsame Indizien, fragwürdige Gegenstände oder chiffrierte Botschaften, die er wie ein Puzzle zusammenzusetzen sucht. Doch nicht genug, daß man den Schuhfabrikanten Loos ermordet hatte, auch sein Konkurrent Harka, Direktor des Harka-Konzerns, wurde im Krankenhaus, wo er mit einer Gehirnerschütterung lag, mit Blausäure vergiftet. Orell fischt einige Zeit im Trüben, gelegentlich berät er seine Beobachtungen mit seinem Bruder, der ihm andere Perspektiven aufzeigt.

Der Autor ist klug genug die tatsächlichen Schlußfolgerungen Orells nicht zu verraten, und so bleiben seine Überlegungen teils verborgen, teils vage, so daß dem Leser ein eigenes Spielfeld für Phantasie und Interpretationen geschaffen wird. Ein vergifteter Hund, ein abgetrennter Frauenzopf, ein seltsamer alter Wappenring, ein Paar 400-500 Jahre alte Saffian-Damenschuhe, ein Faust-Zitat, ein unbedrucktes Gebetbuch, chiffrierte Warnungen und andere scheinbar nicht zusammenpassende Accessoires geben Rätsel auf.

Auch die Personnage des Romans nimmt Konturen an, ein griechischer Box-Europameister, ein Schauspieler mit blauer Brille, die Gattinnen der ermordeten Schuhfabrikanten, verschiedene Geschäftsleute aus der Schuhbranche, eine Sekretärin mit antikapitalistischer Grundhaltung, ein Genossenschaftspräsident mit geradezu sozialistischem Sendungsbewußtsein, ein auffallend verdächtiger Assistent der Geschäftsführung usw.

Das Verwirrspiel ist eröffnet und die Lösung des ganzen basiert auf dem Rachefeldzug einer Mutter, die ihre verführte und suizidierte Tochter, eine Elevin die vor 15 Jahren ihr Debut als Grete in Goethes Faust gab, zu sühnen sucht. Parallel dazu gibt es eine zweite Indizienkette, die um ein revolutionäres Gerbverfahren kreist – ein technisches Patent, das jedoch keinen Zusammengang mit den zwei Morden hat und nur der Irreführung des Lesers dient.

Naturgemäß läßt die Konstruktion, vor allem aber die hanebüchene und arg herbeigezogene Auflösung der Rätsel dieses Kriminalromans erheblich zu wünschen übrig, aber der Charme, den das Werk und seine Figuren versprühen, wiegen die Schwächen des Buches deutlich auf. Der lakonische Ton und die Atmosphäre des Romans sind amüsant und zeitgemäß. Wenn es eine literarische Gattung namens art deco-Roman geben würde, dann wäre dieses Buch sicherlich ein schönes Musterbeispiel dafür. 

Nicht zuletzt wird die Existenz des organisierten Deppentums im Deutschen Reich schlichtweg verschwiegen, der Roman ist tendenziell antikapitalistisch, jedoch gleichzeitig auffallend unpolitisch. Dem im Exil lebenden Autor war es sicher nur um Gelderwerb zu tun, und durch seine demonstrative Weigerung politische Ereignisse zu spiegeln oder gar zu kommentieren, konnten diese Bücher problemlos auf dem Gebiet des Deutschen Reichs vertrieben werden. Die schrulligen, eineiigen Orell-Zwillinge sind natürlich eine originelle Idee des Autors, der Intelligenz und eine absurde Komik zu verbinden weiß.