Noelle Roger: »Der unsichtbare Gefährte«, 1944
von Mirko Schädel
Noelle Roger: Der unsichtbare Gefährte, St. Gallen: Zollikofer & Co. 1944, 111 Seiten
Noelle Roger, das ist Hélène Dufour-Pittard, 1874–1953, war eine französischsprachige Schweizerin aus Genf, die sich im Ersten Weltkrieg für evakuierte Franzosen und Deutsche und ebenso für Kriegsverletzte im Rahmen des Schweizer Roten Kreuzes einsetzte. Roger schrieb zahlreiche Romane, Novellen, Reiseberichte und Kinderbücher. In den 1920er Jahren schrieb sie eine ganze Kaskade von utopischen und phantastischen Romanen, die auch erfolgreich ins Englische übersetzt wurden.
In den frühen 1940er Jahren veröffentlichte Roger eine Reihe von phantastischen Erzählungen, die 1949 gesammelt in dem Band Au seuil de l'invisible erschienen sind. Leider ist von ihrer Science fiction und den phantastischen Romanen nicht ein einziges Buch ins Deutsche übertragen worden, mit Ausnahme der Erzählung aus dem Band Au seuil de l’invisible mit dem Titel Der unsichtbare Gefährte, 1944.
Der unsichtbare Gefährte ist eine Science ficton-Kriminalnovelle, die vermutlich im Original weitaus gelungener ist, als das, was die deutsche Übersetzung davon übrig ließ. Die nicht vorhandene Musikalität der deutschen Übersetzung deutet auf sprachliche Empfindungslosigkeit.
Prof. Delmare, der an einem gefährlichen, hochexplosiven Gas forscht, das auch das Militär interessieren dürfte, bittet seine drei studentischen Assistenten zum Rapport, da ihm seine Formeln und Geheimnisse aus dem Büro gestohlen wurden. Der Dieb ging ziemlich dreist vor und verschleierte gekonnt sein Verbrechen, doch unterlief dem unbekannten Dieb ein Fehler. Ein kleines Detail verriet dem Professor die Tatsache, daß seine Geheimnisse ausgekundschaftet wurden. Seine Assistenten sollen ihm Rede und Antwort stehen und als Zeugen vor ihm aussagen, da er hofft, daß die drei jungen Männer irgendwas bemerkt haben könnten. Der Professor verdächtigt seine Assistenten keineswegs, doch hofft er auf Hinweise und Beobachtungen, die auf die Täterschaft weisen. Leider ist den drei Männern jedoch nichts weiter aufgefallen.
Aber zwei der drei Assistenten wohnen in der gleichen Pension und buhlen um die Gunst einer hübschen, wohlsituierten Studentin namens Suzanne. Dabei ist der deutsche Student Berchem erfolgreicher als sein Konkurrent Romain. Während Romain an einer Erfindung arbeitet und sich tage- und nächtelang im Laboratorium der Universität einsperrt, ist Berchem mit ideologischer Propaganda beschäftigt, die er an seiner Kommilitonin Suzanne austestet. Suzanne ist sehr fasziniert von dem deutschen Studenten, der sich als Rebell in Szene setzt. Romain, der in Suzanne verliebt ist, vermutet nicht nur, sondern weiß, daß Barchem etwas mit dem Verschwinden der Formeln zu tun hat. Er installiert seinen entwickelten Fernsehapparat in dem Zimmer Berchems, der das Filmmaterial via Funkwellen auf eine Leinwand überträgt. Er überwacht Berchem fortan und experimentiert gleichzeitig mit seiner Erfindung, doch vermutlich ist die Eifersucht eine ebenso bedeutende Triebfeder seiner ungebührlichen Überwachung.
Als am folgenden Tag der dritte Assistent Prof. Delmares namens Borelle spurlos verschwindet, weiß Romain, daß Berchem über den vergangenen Abend nicht die Wahrheit sagt, als dieser nämlich den vermißten Borelle zu Besuch hatte – und Romain ahnt, daß Berchem seinen Kollegen Borelle ans Messer geliefert hatte. Nur die Zusammenhänge sind ihm nicht ganz klar, da die Bildübertragung ohne Ton vonstatten geht.
Dem Leser wird klar, daß der spießige Familienvater, die Beamtenseele Borelle, vermutlich für etwas Geld von Berchem zu dem Diebstahl der Formeln gedungen wurde. Borelle hat eine Familie zu ernähren und verdient nur unzureichend. Zumindest wird klar, daß Berchem für seine Ideologie über Leichen gehen würde – und er ist in irgendeiner Weise in die beiden rätselhaften Verbrechen involviert. Romain sucht Berchem auf und erzählt ihm, was dieser am Abend des Verschwindens von Borelle getan hatte, und daß er den Kollegen durchschaue, da er den Abend entgegen seiner eigenen Aussage, mit Borelle verbracht hatte, dann aber sind die beiden Kollegen Berchem und Borelle in die Nacht entschwunden.
Berchem wird angesichts dieser Konfrontation unangenehm zumute, er fühlt sich ertappt, aber Romain konfrontiert ihn nicht mit Beweisen, da er über keinerlei Beweise verfügt. Romain weiß nur, daß Berchem über den Abend mit Borelle gelogen hat. Die beiden Kollegen gehen sich nunmehr gegenseitig aus dem Weg. Einige Tage darauf bittet Berchem beim Professor Delmare um Urlaub, den er an der französischen Riviera in Nizza zubringen möchte. Auch Suzanne wird nach Nizza zu einer Tante reisen, und so beschließen die beiden sich dort gegenseitig zu besuchen und gemeinsam etwas zu unternehmen. Suzanne ist von Berchems utopischen Denken und seiner Philosophie berauscht, sie ordnet sich seinen Ideen völlig unter.
Als Romain von der geplanten Abreise des Paares hört, beauftragt er einen ergebenen Freund nach Nizza zu reisen und dort im Zimmer Berchems seinen Apparat zu installieren, die Erfindung Romains nämlich, den Fernsehapparat. So wird Romain immer genau wissen, was in Berchems Zimmer vor sich geht. Romain wird dann seinen Kollegen Berchem mit verstellter Stimme anrufen, um ihn detailliert von den Vorkommnissen in seinem Zimmer zu unterrichten.
Berchem bekommt es verständlicherweise mit der Angst zu tun, langsam erwacht eine Paranoia in ihm und sein Gewissen regt sich, denn tatsächlich hat er den biederen Borelle auf dem Gewissen, denn letzterer wollte sich dem Professor erklären und ein umfassendes Geständnis seines Verbrechens ablegen – wobei auch Berchem als Drahtzieher drangewesen wäre. Berchem bemüht sich redlich die unheimlichen Telefonate dieses Phantoms, der über Berchems Leben genaustens unterrichtet zu sein scheint, zu verdrängen. Er stürzt sich in das Abenteuer seiner Beziehung mit Suzanne, die er täglich sieht. Natürlich ahnt Berchem, daß das Phantom, das ihn ständig telefonisch belästigt, Romain sei – aber er ist sich über die Identität dieses allwissenden Phantoms nicht sicher.
Eines Tages nähert sich Berchem in einer unmißverständlichen Anwandlung von Leidenschaft Suzanne in seinem Hotelzimmer, diese Annäherung oder zärtliche Überrumpelung gerät jedoch zu einem peinlichen Fauxpas. Susannes wehrt sich und wendet sich nun angewidert von Berchem ab und glaubt, sie sei nur die erotische Beute des Herrn Berchem gewesen und keineswegs eine respektable Freundin. Auch dieses Vorkommnis wird Romain, das weitsichtige Phantom, seinem Opfer per Telefon referieren. Berchem bemüht sich noch am nächsten Tag ein klärendes Gespräch mit Suzanne zu führen, doch letztere läßt sich verleugnen. Berchem ist mit den Nerven am Ende, er fühlt sich ständig beobachtet und bedroht, dabei schlägt ihm sein böses Gewissen auf den Magen. Als er nach der Episode mit Suzanne keinen Schlaf mehr findet, kauft er eine Packung Veronal. Und Romain beschließt seine Überwachung abzubrechen, denn sein Gewissen beginnt sich zu regen. Er beobachtet, wie der einst skrupellose Berchem nach und nach die Nerven verliert und zu einer gequälten Seele mutiert.
Romain sieht noch jenes Päckchen Veronal in der Hand Berchems, der sich nun den Inhalt der gesamten Packung in ein Wasserglas schüttet. Romain gerät außer sich, wird er doch Zeuge eines Selbstmords, den er nicht beabsichtigt hat. Berchem trinkt das Glas aus und liegt starr auf einem Diwan, dann zieht der Verzweifelte eine Schußwaffe und jagt sich eine Kugel in den Kopf. Der gute Freund Romains, der den Fernsehapparat in Berchems Zimmer in Nizza installiert hatte, findet den Toten, entfernt das ominöse Gerät und reist zurück in die Schweiz, wo er seinem Freund Bericht erstattet, der allerdings bereits alles mit eigenen Augen angesehen hatte.
Am Ende beschließt Romain, der seinem Professor in kurzen Worten von der erfolgreichen Umsetzung seiner Erfindung berichtet hat, den Apparat zu vernichten. Das Gerät sei zu gefährlich in den Händen von Menschen, die private Animositäten miteinander hätten. Romain ist sich im klaren darüber, daß er den Mörder Berchem in den Tod getrieben hatte. Er ist beunruhigt und entwickelt Schuldgefühle. Suzanne kehrt als nervliches Wrack heim, Romain versucht sie zu trösten und auf die Zukunft zu verweisen.
Abgesehen von der wohl eher mäßigen Übersetzung ist das Buch durchaus spannend und literarisch anspruchsvoll. Es beschäftigt sich zurecht mit dem Problem von Videowanzen und Überwachungskameras, zu einer Zeit, als es diese Geräte noch nicht gab. Man spürt, daß die Autorin eine gewiefte und interessante Erzählerin ist, doch die etwas tölpelhafte und unmelodiöse Übersetzung ist ärgerlich. Etwas verschlüsselt und verschwurbelt wird angedeutet, daß es sich bei Berchem um einen nationalsozalistischen Propagandisten handeln muß, der aufgrund seiner ideologischen Ausrichtung auch den besten Freund verraten und selbstverständlich töten würde, wenn er den Befehl erhalten würde – oder es die große Sache erfordern würde.
Romain ist eine Art Detektiv der Zukunft, er sucht die Wahrheit um das Verschwinden Borelles, er sucht Beweise, die den Konkurrenten des Diebstahls und des Mordes überführen würden. Die Eifersucht um Suzanne spielt dabei als zusätzliche Triebkraft eine gewichtige Rolle. Der Vorgang der Überwachung wird für Romain zu einer moralischen Frage und läßt ihn erkennen, daß man nicht um jeden Preis und mit allen Mitteln die Wahrheit erkunden darf.