T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Joseph S. Fletcher: »Lösegeld für London«, 1930
von Mirko Schädel



Joseph S. Fletcher: Lösegeld für London, Berlin: Universitas 1930, Dreipunkt-Bücher Band 9, 253 Seiten, Schutzumschlag von Jan Blisch und Hans Bellmer


Joseph S[mith] Fetcher, 1863–1935, ging mit 18 Jahren nach London um Journalist und Schriftsteller zu werden. Er heiratete und betätigte sich als Journalist und Kolumnist. Fletcher schrieb über 100 Bücher, etliche davon waren Sachbücher und Biographien. Fletchers Krimis haben seinem eigenen Volk, den Briten, ein Denkmal gesetzt, denn er bedient sämtliche Klischees, die man von diesen sonderbaren Insulanern haben könnte. Ich habe die Krimis von Fletcher aus diesen und anderen Gründen immer gern gelesen, denn sie sind sachkundig und routiniert geschrieben und sehr spannend. Im Mittelpunkt von Fletchers Krimis stehen häufig alte Herrenhäuser, rätselhafte und unheimliche Morde und meist auch eine Romanze.

Lösegeld für London, 1930, ist ein phantastischer Thriller, der insgesamt eher ungewöhnlich für Fletchers Werk ist, denn die meisten seiner Krimis sind eher whodunits, die typischen Rätselkrimis – wie sie auch von Agatha Christie favorisiert wurden. Ursprünglich ist der Text schon 1914 in England veröffentlicht worden.

Der britische Ministerpräsident Mr. Pontifex lebt mit seiner Tochter Lesbia unter der Woche selbstverständlich in London, doch am Wochenende fahren Vater und Tochter hinaus aufs Land zu ihrer kleinen Rinderfarm. Das Züchten von Rindern und das gesunde Landleben sind ein Steckenpferd des alten Pontifex, und seine Tochter scheint das Landleben ebenfalls zu gefallen. Kaum jemand weiß von diesem Landsitz, denn Pontifex benötigt dieses stille Kleinod zur Erholung von seiner anstrengenden Tätigkeit als Spitzenpolitiker. Nur sein Assistent Jocelyn, ein junger, vermögender Bursche kommt gelegentlich zu Besuch um wichtige Entscheidungen voranzutreiben, aber auch wegen der hübschen Tochter Lesbia, die Jocelyn zu heiraten beabsichtigt.

Genau zu diesem Zweck ist Jocelyn auch dieses Mal auf dem Weg in das Landhaus des Ministerpräsidenten, und Lesbia läßt ihrem Vater gegenüber durchblicken, welche Absicht Jocelyn mit diesem Besuch verfolgt.

Doch bevor sein möglicher Schwiegersohn auftaucht, macht Pontifex einen ausgiebigen Spaziergang durch seine Ländereien, verweilt in einem einsamen Wäldchen und trifft dort auf einen Unbekannten, der ihn zu sprechen wünscht. Als typischer Brite gefällt Pontifex unangekündigter Besuch auf seinem Grundeigentum überhaupt nicht, doch der Unbekannte, sehr höfliche Herr, läßt Pontifex einen Revolver sehen, so daß letzterer wohl oder übel dem Anliegen des Fremden lauschen muß.

Dieser Fremde erklärt in besonnenem, nüchternen Ton, daß er und zwei andere eine Erfindung gemacht haben, die die gesamte Bevölkerung Londons in nullkommanichts ausradieren könnte. Er verlangt das bescheidene Lösegeld von 10.000.000 Pfund um die Bevölkerung zu verschonen. Darüberhinaus kündigt der Unbekannte an, daß er ein oder zwei Kostproben seines Könnens liefern werde um seine Forderung nachdrücklicher und plausibler zu gestalten.

Mr. Pontifex, der fast der Überzeugung ist, einem Wahnsinnigen zuzuhören, spürt mehr und mehr eine ernsthafte Bedrohung und befürchtet, daß dieser Mann seinen Vorsatz auch ausführt. Kurz darauf verschwindet der Unbekannte im Unterholz, und Pontifex sitzt noch ein paar Minuten nachdenkend im Wald, ehe er zu seinem Landhaus zurückkehrt, und dort seiner Tochter und Jocelyn wenig bis gar nichts von diesem Vorfall erzählt. Als jedoch am nächsten Tag zwanzig seiner Zuchtrinder auf völlig rätselhafte Weise im Stall verendet aufgefunden werden, ahnt er, daß dies die erste Kostprobe des Unbekannten darstellt.

Der Tierarzt und ein Beamter von Scotland Yard werden verständigt, doch niemand kann den Tod der Tiere aufklären. Stattdessen findet ein landwirtschaftlicher Gehilfe in der Nähe der Stallung einen rätselhaften Ring, den, so meint Pontifex, der Unbekannte getragen habe. Jocelyn schaut sich dieses Fundstück ebenfalls genau an und kehrt ebenso wie Pontifex und seine Tochter nach London zurück. Wie man sich denken kann, avanciert Jocelyn zu einer Art Detektiv, denn bald schon macht der junge Mann weitere Beobachtungen und gerät auf eine Spur.

In einem Park rettet Jocelyn den kleinen Hund einer jungen Dame, der in eine Beisserei verwickelt ist – dabei wird der junge Mann in die Hand gebissen. Die junge, attraktive Dame namens Pepita Vespucci scheint Italienerin zu sein und läßt sich Jocelyns Adresse geben um sich über seine Genesung erkundigen zu können. Ein, zwei Tage später kehrt Jocelyn auf der Fähre von einem Familienbesuch zurück, dort auf dem Schiff entdeckt er einen jungen Mann, der einen ebensolchen Ring trägt, wie er in den Stallungen des Mr. Pontifex gefunden wurde.

Er weist seinen Diener auf diesen jungen Mann hin und erklärt ihm, daß er den Mann nicht aus den Augen lassen dürfe, ehe er die Adresse des Ringträgers in Erfahrung gebracht habe. Zurück in London berichtet er seine Beobachtung einem Beamten von Scotland Yard und erklärt, er melde sich wieder, sobald er etwas handfestes erfahren habe. Tatsächlich kehrt der Bedienstete mit interessanten Neuigkeiten zurück, denn der junge Mann habe die Villa Vespucci aufgesucht – und der junge Mann heiße Mr. Rederdale.

Überrascht stellt Jocelyn fest, daß die Adresse der Villa Vespucci identisch ist mit der Adresse jener italienischen Dame, deren Hund Jocelyn gerettet hatte und von der bereits bei seiner Ankunft in seiner Wohnung eine Einladung zu einem Abendessen vorgelegen hatte.

Tatsächlich wird Jocelyns Neugier geweckt, er fährt am selben Abend in jene Villa und findet den Hausherrn in glänzender Stimmung vor. Dieser alte, wohl recht vermögende Italiener lebt seit einigen Jahren in dieser beschaulichen Villa, er selbst ist nicht in der Lage seine Beine zu bewegen, und so wird er fortwährend in seinem Rollstuhl durch die Gegend geschoben. Sein einziges Interesse gilt der Chemie, und so hat sich Signore Vespucci ein hochmodernes Laboratorium eingerichtet um seinem Steckenpferd nachgehen zu können.

Zwei weitere Herren sind neben Vespuccis Tochter in dem Haushalt zu Gast, ein unangenehmer Bursche namens Henry de Guignon und jener junge Ringträger Mr. Rederdale – diesmal ohne diesen ungewöhnlichen Ring am Finger. Mr. Rederdale und Jocelyn freunden sich etwas an, sie stellen fest, daß sie in derselben Straße wohnen und als die Gäste sich nach diesem Abendessen entfernen, gehen Reverdale und Jocelyn gemeinsam in die Wohnung unseres Detektivs um noch einen Whiskey-Soda zu sich zu nehmen. Bei der Gelegenheit erfährt Jocelyn auch, daß Reverdale diesen Ring in einem Antiquitätengeschäft in Paris gefunden habe, doch Vespucci behauptete, als er den Ring sah, daß dieser unbedingt von einem alten Freund von ihm stamme, und so hat Reverdale den Ring an Vespucci verschenkt. Als Reverdale sich dann eine Zigarette anzündet, bricht er augenblicklich zusammen und ist tot.

Währenddessen geht Mr. Pontifex seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nach. Er fährt mit seiner Tochter zu einer Abendgesellschaft, doch er sucht die Einsamkeit in dem weitläufigen Garten des Hauses. Dort trifft er wieder auf jenen Fremden, allerdings in einer neuen Maskerade, und ihm wird ein weiterer Anschlag angekündigt, bei dem nun auch Menschen zum Opfer fallen sollen.

Als Mr. Pontifex sich nervös wieder zu der Abendgesellschaft begibt, erklärt er seiner Tochter, er müsse umgehend nach Hause. Zwischendurch hatte Mr. Pontifex noch eine schriftliche Warnung erhalten – und so bricht der Mann in seinem Heim mit einem Schlaganfall zusammen. Lesbia, die sich noch auf dem Fest befindet, wird umgehend informiert, und auch Jocelyn eilt zu seinem kranken Arbeitgeber. Nach ein paar Tagen kann Mr. Pontifex immer noch kein Wort herausbringen und schaut den Besuchern mit panischer Angst in die Augen, denn er möchte etwas sagen, kann aber nicht.

Währenddessen vertieft Jocelyn seinen Kontakt zu den Vespuccis und lernt den Verlobten der jungen Dame kennen, einen jungen Wissenschaftler namens Kent. Jocelyn unterhält sich noch mit den Vespuccis und deren Gästen über eine Festivität einen jungen Millionärs am nächsten Tag – zu der auch Jocelyn eingeladen ist. Doch Jocelyns Besuch jenes luxuriösen Festes fällt aus, denn er erhält an jenem Abend noch einen Brief, in dem nur ein leeres Blatt liegt – doch Jocelyn fällt in einen tiefen Schlaf.

Erst am nächsten Morgen erwacht Jocelyn und erfährt aus der Zeitung, daß alle 18 Gäste jener Feier, die er verpaßt hatte, plötzlich und und auf unerklärliche Weise starben. Nun dämmert es auch verschiedenen Regierungsmitgliedern und der Polizei, daß diese Morde einen anderen Grund haben müssen. Mr. Pontifex, der sich von seinem Schlaganfall etwas erholt hat und wieder sprechen kann, fragt unentwegt und offenbar sehr besorgt, ob es irgendein neues Unglück gegeben habe. Als Jocelyn und ein paar andere Würdenträger den Ministerpräsidenten von dem neuen Attentat erzählen, rafft Pontifex ein Herzinfarkt hinweg.

Die Regierungsmitglieder, die von der Erpressung wissen, beschließen das Lösegeld zu zahlen, das in Diamanten im Wert von 10.000.000 Pfund besteht. Doch dank eines Amerikaners und Jocelyns eifrigem Diener gelingt es langsam den Urheber der Erpressung festzustellen. Der rollstuhlfahrende Vespucci ist der Kopf der Bande, der aber durchaus auf den eigenen Beinen gehen kann. Seine Stieftochter ist ebenfalls verdächtigt und zwei Freunde des alten Vespucci.

Nach der Lösegeldübergabe und unmittelbar vor der Verhaftung der Gangster geschieht diesen jedoch ein Giftunfall und alle Beteiligten werden Opfer ihres eigenen nicht nachweisbaren Giftes, das übrigens durch jene geheimnisvollen Ringe in den Äther gesprüht wird. Nur Pepita Vespucci ist mit den Diamanten geflohen – und war im Grunde genommen völlig unschuldig. Ihr Vater – und der Bruder Signore Vespuccis – war es, der das Gift entdeckt und entwickelt hatte, Vespucci jedoch stahl diese Entdeckung aus dem Nachlaß seines Bruders und wertete sie für seine kriminellen Zwecke aus.

Die Geschichte ist reichlich verzwickt, aber Fletcher gelingt es diese dem Leser sehr appetitlich und spannend zu servieren. Ein Höhepunkt des Romans besteht in dem eigenwilligen Eingreifen von Jocelyns Diener, der mehr Grips und Tatkraft beweist, als alle anderen Figuren.

Der Leser ahnt recht früh, daß die Bösewichter in irgendeiner Weise mit der Villa Vespucci in Verbindung stehen, doch die verwickelten Zusammenhänge werden erst am Ende des Romans plausibel aufgeschlüsselt.