John Henry Mackay: »Staatsanwalt Sierlin. Die Geschichte einer Rache«, 1928
von Mirko Schädel
John Henry Mackay: Staatsanwalt Sierlin. Die Geschichte einer Rache, Berlin: Stirner-Verlag 1928, 186 Seiten
John Henry Mackays Psychothriller Staatsanwalt Sierlin. Die Geschichte einer Rache erschien 1928 im Stirner-Verlag Berlin – und erinnert zuweilen an Melvilles Bartleby oder Kafkas Der Prozeß, zumindest bis zur ersten Hälfte dieses spannenden Romans. Denn die zweite Hälfte entledigt sich nach und nach der grotesken Züge und es stülpt sich eine plausible, rationale Erläuterung über die Beziehung dieser hier vorgestellten, ungleichen Helden.
Staatsanwalt Sierlin ist ein Familienvater, der seine Frau nie geliebt hat und nur in seinem Beruf aufgeht, den er allerdings lediglich als eine notwendige Pflicht wahrnimmt. Er ist ein Streber und ein unsympathischer Zeitgenosse, der keine Freunde hat und sich für unverwundbar hält. Sierlin strahlt eine natürliche Arroganz aus, die immer auch ein Zeichen von Schwäche und Unsicherheit ist.
Eines Tages wird Sierlin beinah von einem Passanten im Vorübergehen gestreift – also nicht so, daß Sierlin beeinträchtigt wird in seinem Bewegungsablauf – aber wir kennen alle das Gefühl, wenn uns jemand zu nah auf die Pelle rückt und unsere Sphäre damit in nervöse Schwingung versetzt wird. Dieses zu nah kommen ist ein Angriff auf unsere Souveränität und Privatheit, die den meisten Menschen unangenehm ist. Dieser junge, starke Mann, der Verursacher dieses unangenehmen Zusammentreffens, taucht nun immer häufiger in der Nähe Sierlins auf. Dabei scheint der unbekannte Fremde den Staatsanwalt gar nicht zu kennen. Sierlin wird nun immer und immer wieder mit diesem Fremden konfrontiert, mal als eiliger Passant, der an ihm vorbeihastet – mal als träumender Gast auf einer Parkbank direkt vor Sierlins Villa. Dabei nimmt der Fremde keinerlei Notiz von Sierlin und sieht ihm niemals in die Augen. Manchmal nimmt Sierlin den Fremden mehrere Tage nacheinander wahr, dann wieder verschwindet letzterer für ein, zwei Wochen von der Bildfläche.
Staatsanwalt Sierlin beschäftigt sich nun zunehmend mit diesem jungen Mann und zermartert sich das Hirn, warum der Fremde seine Nähe sucht. Wochen, Monate gehen so ins Land, Sierlin wird gereizter und nervöser, doch die Sommerferien stehen vor der Tür. Sierlin schickt Frau und Kinder an die See, er selbst wird für eine Woche Verwandte besuchen um dann seiner Familie an die See zu folgen.
Als Sierlin am frühen Morgen sein Bahnticket am Schalter des Bahnhofs löst, sieht er am direkt daneben liegenden Schalter jenen jungen Mann, seinen Verfolger, der ebenfalls ein Ticket mit gleichem Zielort wie Sierlin löst. Sierlin hofft nun den Herrn im Zug zur Rede zu stellen, doch sucht er diesen umsonst, denn der Fremde scheint nicht im Zug zu sein.
Als Sierlin jedoch eine Woche später seiner Familie an die See folgt, nimmt er den Fremden im Speisesaal des Hotels wahr – am Nebentisch. Als er den Mann am nächsten Morgen zur Rede stellen will, ist dieser bereits abgereist. Sierlins innere Ruhe, sein bislang ruhig fließender Lebensweg, ist erheblich gestört. Er kann sich das Interesse des Fremden an ihm nicht erklären, und wie uninteressiert, phlegmatisch, ignorant sein Verfolger sich auch geben mag, so ist es doch wahrscheinlich, daß der Fremde irgendeine Absicht bezüglich Sierlins verfolgt.
So vergehen weitere Wochen und Monate, doch dann wird dem Leser und auch dem Staatsanwalt klar, daß der Fremde, ein Kaufmann namens Adolf Braun, wegen Unterschlagung ein Jahr im Zuchthaus gesessen hatte – unschuldig wohlgemerkt. Brauns Eltern waren während der Inhaftierung des Sohnes gestorben. Erst als der wahre Täter gefaßt wurde, fand die Revision des Prozesses von Adolf Braun statt, doch dieser hatte nicht nur seine Eltern verloren, sondern auch seine einträgliche Anstellung, ebenso wie übrigens das Vertrauen seiner Verwandtschaft, die einem ehemaligen Zuchthäusler nur noch mit Vorbehalt begegnen wird – auch wenn dieser vollständig rehabilitiert ist. Eine Verwandte Brauns starb kurz darauf und vererbte ihm eine überschaubare Summe, die er für seinen Plan benötigt. Denn statt sich ein Auskommen zu suchen, arbeitet Braun monatelang den Plan aus, wie er sich an Staatsanwalt Sierlin rächen könnte, den er für den Schuldigen an diesem Justizirrtum hält. Seine Erbschaft reicht für ein gutes Jahr, und diese Zeit setzt Braun sich als Ziel den Kontrahenten Staatsanwalt Sierlin zur Strecke zu bringen.
Braun ist von einem fast krankhaften Gerechtigkeitsgefühl durchdrungen, sein durchaus gutmütiger Charakter mutiert zu einem grausamen Raubtier, das an Zähigkeit, Willen und Kraft nichts zu wünschen übrig läßt. Er stählt seinen Körper mit sportlichen Aktivitäten [wie übrigens Travis in Scorseses Film Taxi Driver, der sich in einer Art paranoidem Wahn an der Gesellschaft für seine Einsamkeit rächen will], ebenso wie er übrigens durch Lektüre seinen Geist stählt. Er sieht sich als Opfer von Sierlins ignoranter Empathielosigkeit, doch will er ihn nicht mit Gewalt bezwingen, kein Blut soll fließen. Stattdessen will er den selbstgerechten und unverwundbaren Sierlin derart verunsichern und psychisch in die Enge treiben, daß der Mensch, das verwundbare Tier, zusammenbricht.
Braun reizt sein Opfer fortwährend durch seine geschickt inszenierten Auf- und Abtritte, bis Sierlin eines Tages die Contenance verliert und vor Zeugen auf offener Straße seinen Verfolger gewaltätig angreift, von Braun daraufhin in Notwehr niedergeschlagen wird und anschließend von einem Wachtmeister verhaftet wird. Als sich der Staatsanwalt auch noch widerrechtlich der Vernehmung entzieht, droht eine Katastrophe. Sierlin haßt selbstverständlich jegliches Aufsehen, seine größte Angst ist es, sich in der Öffentlichkeit lächerlich zu machen. Aber genau dies hat Adolf Braun nun erreicht. Braun hat sein Opfer genau da, wo er es haben will. Doch auf eine Anzeige gegen den Staatsanwalt verzichtet Braun großzügig, aber schon eine Woche nach diesem Vorfall wird Sierlin in die Psychiatrie eingewiesen – mit einer äußerst negativen Prognose.
Braun sieht sich am Ziel, das ihm ein Jahr lang harte Arbeit beschert hatte. Das Geld aus seiner Erbschaft geht zur Neige, seine Eltern sind tot und er selbst bricht wie eine leere Hülle zusammen. Ein paar Tage nach der Einweisung Sierlins erschießt sich Braun im Wald.
Die Idee für diese Geschichte ist grandios und ihrer Zeit weit voraus. Auch wie Staatsanwalt Sierlin ernsthaft darüber nachdenkt um seine Versetzung zu bitten um seinem stummen Verfolger zu entgehen, ist witzig und furchtbar gleichermaßen, doch Sierlin wird klar, daß sein Widersacher nicht zögern wird und auch diese Fluchtbewegung zunichte machen wird. Sierlin wird seinen stummen Ankläger nicht mehr los, dieser folgt ihm ohne Unterlaß. Nun könnte Sierlin den Herrn Adolf Braun einfach übersehen und ignorieren, doch dazu ist sein Charakter und seine aufkeimende Pananoia nicht imstande. Bald nach diesen Ereignissen sitzt Braun künftig in allen öffentlichen Verhandlungen des Staatsanwalts Sierlin, der nunmehr so verunsichert und irritiert ist, daß seine Arbeitskraft maßgeblich beeinträchtigt wird. Seine Rede in den Verhandlungen vor Gericht wird immer unzusammenhängender und die Sinnhaftigkeit seines Tuns immer fragwürdiger. Sobald er Herrn Adolf Braun im Gerichtssaal ansichtig wird, verliert er den Kontakt zur Realität – oder vielmehr den Boden unter den Füßen.
Doch wenn Sierlin seinen Widersacher zur Rede stellen will, entzieht sich dieser ihm – und auch die zwei Situationen wo er dem Herrn Braun in den Weg tritt und diesen anspricht, denn er achtet akribisch darauf Braun nur allein und ohne Zeugen abzufassen um kein Aufsehen zu erregen, ignoriert Braun sein Opfer dreist und läßt ihn wortlos und mit unbewegter, undurchdringlicher Miene stehen.
Sierlin ist nicht nur seiner wachsenden Paranoia ausgesetzt und fühlt sich gedemütigt, er ist auch hilflos auf seinem ureigensten Terrain, denn die Gesetze schützen ihn nicht, er ist diesem Mann ausgeliefert und kann ihn nicht belangen – denn was tut Herr Braun denn schon, er taucht auf und wenn Sierlin ihn anspricht oder ihm nacheilt, dann verschwindet er wortlos. Braun belästigt Sierlin nicht, er spricht sein Opfer nicht an, beleidigt ihn nicht, bedroht ihn nicht, ist nicht gewalttätig. Es gibt keine Handhabe der Justiz diesen Zustand zu beenden, denn der Mensch ist frei und kann sich überall bewegen, solange er kein Verbrechen begeht.
Nicht nur die Idee zu dem Roman ist grandios, sondern auch seine Ausführung, denn die sprachlichen Mittel werden gekonnt und subtil eingesetzt. Die nüchterne Sprache Mackays paßt kongenial zu dem rationalen, nur dem reinen Willen untergeordneten Plan Adolf Brauns, der seine Verfolgung akribisch plant und mit großem Zeitaufwand über Monate vorantreibt um von seinem Opfer wahrgenommen oder auch nur gesehen zu werden. Braun glaubt, daß er nur kraft seines Willens und seiner zähen Ausdauer die Existenz Sierlins vernichten kann. Dieser Plan gelingt, nicht zuletzt auch dank der Zuträger, die ihn mit Informationen zu Sierlins Lebenswandel versorgen – und Sierlin wird zunehmend verwirrt und verunsichert, denn woher weiß dieser undurchdringliche Herr Braun detailliert von Sierlins Plänen – auch kann sich Sierlin nicht erklären, wie es Braun immer wieder gelingt an den unmöglichsten Orten aufzutauchen, Orte, die nur ihm und höchstens noch seiner Frau bekannt sind.
Sierlin haßt seinen Verfolger, er verachtet ihn, doch Brauns Gesicht ist immer unbewegt, seine Pläne sind undurchschaubar, seine Gefühle unentzifferbar, seine Absichten liegen vollkommen im Dunkeln. Diese Ungewißheit nagt zusätzlich an Sierlins psychischem Gesamtzustand, auch der Umstand, daß Sierlin an der Verurteilung des unschuldigen Herrn Braun mitgewirkt hatte, weil es seine Pflicht war, vertieft vermutlich die Unsicherheit und die uneingestandene Gewißheit einen Fehler begangen zu haben. Aber richtige Männer wie Sierlin machen selbstverständlich keine Fehler.
Als Sierlin in großer Wut am Ende des Romans seinen Widersacher auf der Straße tätlich angreift, er seine Selbstbeherrschung völlig verloren hat, ist er existentiell gebrochen. Er hat sich öffentlich der Lächerlichkeit preisgegeben und so stürzt seine gesamte Existenz in eine Art Vorhölle. Er ist nun auf Gedeih und Verderb dem guten Willen Herrn Brauns ausgeliefert, denn die Vorstellung, daß sein Verfolger ihn nun mit seinen eigenen, juristischen Mitteln belangen könnte und eine Opfer-Täter-Umkehr stattfindet, kann für die Psyche des Staatsanwalts nur zersetzend sein. Sierlins Plan und Ausweg aus dieser Misere reift nun heran, er sieht nur in einem erweiterten Suizid die Rettung, der seine Ehre wiederherstellt und einen Abschluß mit dem Leben markiert: zuerst will er den Verfolger erschießen, dann sich selbst, aber als ihm auch dies nicht zu gelingen scheint, veröden seine geistigen Fähigkeiten. Er taumelt in den Wahnsinn und wird mit Schaum vor dem Mund auf der Straße brüllend angetroffen und in die Irrenanstalt verbracht.
Und Braun findet seine innere Ruhe wieder, er doziert nüchtern über seine weitere Existenz. Er hat seinen Plan erfolgreich in seinem sich selbst gesetzten Zeitrahmen umgesetzt – und nun geht ihm auch der eigene Antrieb verloren. Seine Aufgabe ist erfüllt, sein Leben hat sich vollendet, er rechnet nicht mit einer positiven Entwicklung seines Lebens, sondern verliert mit der Erfüllung seiner Rache auch seinen Lebenszweck. Er suizidiert sich mit Hilfe einer Schußwaffe im Wald.
Genaugenommen handelte es sich hier nicht um einen Kriminalroman, sondern eher um einen Spannungs- und Sensationsroman oder um eine Verbrechensdichtung. Doch im ausgehenden 20. Jahrhundert würde man diesen Roman unumwunden in das Genre des Psychothrillers einzuordnen suchen. Ein Genre, das es 1928 wohl noch nicht als feststehenden Begriff gegeben hat. Doch es gab Vorläufer des Psychothrillers, die man im Sensations-, Spannungs- und Intrigenroman des 19. Jahrhunderts finden kann. Und so ist Staatsanwalt Sierlin ein weiteres Fragment und Beweis für die Tradition und Vielgestaltigkeit des deutschen Kriminalromans.
Über den Autor und Max Stirner-Epigonen John Henry Mackay, 1864–1933, finden sich zahlreiche interessante Informationen im Netz.