Jakob Vetsch, oder: Wie man mit EINEM Buch sein Leben ruinieren kann
von Robert N. Bloch
Jakob Vetsch wurde als ältester Sohn des Primarlehrers Jakob Vetsch sen. und der Seline Vetsch, geb. Näf, am 28. Oktober 1879 in Nesslau geboren. Mit eineinhalb Jahren verlor der Knabe durch einen Unfall ein Auge. Es wurde durch ein Glasauge ersetzt. Die Familie, die sich um fünf Kinder vermehrte, zog 1881 ins Dorf Wald im Kanton Appenzell, wo der Vater eine Lehrerstelle fand. Die Mutter starb 1891 im Alter von 42 Jahren. 1898 bestand Jakob in St. Gallen das Abitur. Um einem Lehramtskurs, den ihm sein Vater verordnet hatte, zu entgehen, brannte er 1899 von zu Hause durch und ging nach Paris. Nach seiner Rückkehr im Jahr 1900 lieh sich der Vater das Geld, um seinem Sohn das Studium der deutschen und englischen Literaturgeschichte, der Philosophie sowie Psychologie an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich zu ermöglichen.
Während des Studiums entwickelte sich sein Interesse für die Mundartforschung, und nach seiner Promotion über die Vokale der Stammsilben in den Appenzeller Mundarten wurde er Teilzeitmitarbeiter am »Idiotikon«, dem Schweizer Regionalwörterbuch. 1909 begann er ein Zweitstudium der Jura und Nationalökonomie, das er 1914 mit dem juristischen Examen abschloß. Er durfte sich jetzt Dr. phil et jur nennen. Im November 1914 trat er als Praktikant ins Büro des Rechtsanwalts Dr. Fick in Zürich ein. 1916 wurde Jakob Vetsch Sekretär des Schweizer Bierbrauer-Vereins. Dort kam er in Kontakt mit dem Multimillionär Jacques Hübscher, der ihm einige 100 000 Franken und ein Erbteil von drei Millionen Franken versprach, wenn er dessen Tochter Anna Marguerite Elisabeth Hübscher heiratete. Was der Millionär verschwieg, war die Erbkrankheit, an der seine Tochter litt, die sich auch auf die weibliche Nachkommen vererbte. Die Hochzeit fand am 16. Dezember 1918 in Zürich statt. Am 4. November 1920 wurde dem Paar eine Tochter geboren, Irene Seline, die zeitlebens ein Pflegefall bleiben sollte. Im Juni 1922 trat Vetsch völlig überraschend als Sekretär des Bierbrauer-Verbands zurück. Aus dem bürgerlichen Karrieremenschen Vetsch wurde über Nacht ein Exzentriker und Außenseiter der Gesellschaft.
Im Januar 1923 erhielten alle Freunde, Bekannten und Verwandten Vetschs, alle Zeitungsredaktionen, alle Bibliotheken, alle Pfarrer der Schweiz ein Buch zugesandt mit dem Titel Die Sonnenstadt. Ein Roman aus der Zukunft. Von Mundus. Mit Hilfe des Geldes seines reichen Schwiegervaters hatte Vetsch die Hürden des Verlagswesens umgangen, um in seiner Utopie eine schonungslose Abrechnung mit der bürgerlichen Gesellschaft, dem Kapitalismus und der Justiz vorzunehmen. Der im Jahre 2100 spielende Roman, beeinflußt von Campanellas Civitas solis (1602), geht davon aus, der Mensch sei gut, wenn er schlechten Einflüssen entzogen werde. Daher hat die Erziehung im Sonnenstaat absolute Priorität. Sexualität und Erotik sind von der Ehe losgelöst. Die Frau ist völlig gleichberechtigt. Empfängnisverhütung ist erlaubt. Die ganze Menschheit ist eine große, friedliche Gemeinschaft ohne Landesgrenzen. Das Primat der Weißen ist abgeschafft. Das Energieproblem ist durch die Elektrizität gelöst. Verbrennungsmotoren gibt es nicht mehr. Das Buch ist literarisch kein großer Wurf, wohingegen die Absichten des Verfassers Respekt abnötigen.
So weit der Roman. Doch Vetsch wollte diese Utopie verwirklichen. Die Normalbürger sollten sich in Mundisten verwandeln. Er glaubte an den sofortigen gesellschaftlichen Wandel. Er hatte 40 000 Exemplare seines Buchs drucken lassen sowie eine »Mundistische Schriftenfolge« und eine Sammlung der Schweizer Pressestimmen. Aber sein missionarischer Eifer kam schlecht an. Bereits wenige Wochen nach Publizierung des Romans erschien Fritz Schoellhorns Streitschrift Utopische Schriftstellerei gegen Eigentum und Geld. Eine Gegen-schrift zu dem Buche ›Die Sonnenstadt‹ (1923). Nachdem sich die Presse anfangs noch distanziert mit der Sonnenstadt beschäftigt hatte, wurden die Kommentare danach gehässig bis feindlich.
Vetsch hatte sich durch die Produktion und den Versand der Sonnenstadt hoch verschuldet und mußte 1924 Konkurs anmelden. Sein Schwiegervater versuchte ihn als Geisteskranken in eine Klinik einweisen zu lassen. Vetsch veröffentlichte nach 1924 nie wieder etwas. Als Privatier lebte er fortan vom Geld seiner Frau. 1927 verlegte Vetsch seinen Wohnsitz nach Vaduz und im gleichen Jahr nach Rotenboden im Fürstentum Liechtenstein. 1934 ging er nach Oberägeri im Kanton Zug. Im gleichen Jahr starb Jacques Hübscher, und mit der Erbschaft konnte Vetsch das Haus »Seehöfli« in Oberägeri kaufen. Am 29. Dezember 1940 starb seine Gattin Maguerite, mit der er trotz ihrer Krankheit eine glückliche Ehe geführt hatte. Am 16. März 1942 wurde Vetsch zum Gemeindepräsidenten von Oberägeri berufen. Er besaß ein gutes Automobil und ein schnelles Motorboot und trotz seiner Marotte des Sonnenbadens war er bei den Einheimischen wohlgelitten. Jakob Vetsch verstarb nach kurzer Krankheit in einer Zürcher Klinik am 22. November 1942.
Literatur zu Jakob Vetsch:
Charles Linsmayer: »Ein Prophet, der von seinem Volke nicht erkannt wurde? Der Schweizer Utopist Jakob Vetsch und sein Roman ›Die Sonnenstadt‹« in: Zygmunt Mielczarek (Hrsg.): Flucht und Dissidenz. Außenseiter und Neurotiker in der Deutschschweizer Literatur. Frankfurt/Main: Lang 1999 (S. 31–59)
Bibliographie der Werke
Romane und Einzelausgaben
DIE SONNENSTADT. EIN BEKENNTNIS UND EIN WEG. EIN ROMAN AUS DER ZUKUNFT FÜR DIE GEGENWART (1923) (als Mundus)
1) Zürich 1923, Selbstverlag Grütli-Buchhandlung (VIII, 408 S.)
2) Zürich 1923, Buchhandlung des Schweizer Grütli-Vereins (VIII, 432 S.)
3) Dresden 1923, Verlagsanstalt für proletarische Freidenker (VII, 407 S.)
4) Zürich 1982, Buchclub Ex Libris (351 S.) (als Jakob Vetsch)
Nachwort: Charles Linsmayer
Artikel und Essays
HERKUNFT UND URSPRÜNGLICHE BEDEUTUNG DES WORTES »ROOD« (1906)
1) Appenzellische Jahrbücher 1906 (S. 226–246)
ÜSERI PUURESPROOCH. ZUM HUNDERTSTEN GEBURTSTAGE DES APPENZELLISCHEN DIALEKTFORSCHERS DR. TITUS TOBLER (1906)
1) Appenzellischer Kalender 1907 (1906)
Sach- und Fachbücher
IHR FRAUEN UND DER MUNDISMUS (1923)
1) Zürich 1923, Buchhandlung des Schweizer Grütli-Vereins (Mundistische Schriftenfolge Heft 3) (60 S.)
KAPITALIST UND MUNDIST. EIN OFFENER BRIEF AN OBERST FRITZ SCHÖLLHORN (1924)
1) Zürich 1924, Buchhandlung des Schweizer Grütli-Vereins (Mundistische Schriftenfolge Heft 6) (72 S.)
EIN KULTURBILD. DIE SCHWEIZER PRESSESTIMMEN VON JANUAR BIS OKTOBER 1923 ÜBER DAS BEREITS IN 6. AUFLAGE (31. - 40. Tsd.) VORLIEGENDE WERK DIE SONNENSTADT. EIN BEKENNTNIS UND EIN WEG. ROMAN AUS DER ZUKUNFT FÜR DIE GEGENWART (1923)
1) Zürich 1923, Selbstverlag (140 S.)
DIE LAUTE DER APPENZELLER MUNDARTEN (1910)
1) Frauenfeld 1910, Verlag Huber & Co. (Beiträge zur schweizerdeutschen Grammatik Bd. 1), (254 S.)
LEIDEN UND FREUDEN EINES WANDERNDEN MUNDARTFORSCHERS (1917)
1) Zürich 1917, Selbstverlag (10 S.)
DER MUNDISMUS ALS ERBE UND SIEGERIN DER ARBEITERBEFREIUNG (1923)
1) Zürich 1923, Buchhandlung des Schweizer Grütli-Vereins (Mundistische Schriftenfolge Heft 4) (63 S.)
DER MUNDISMUS DER JUGEND (1923)
1) Zürich 1923, Buchhandlung des Schweizer Grütli-Vereins (Mundistische Schriftenfolge Heft 5) (59 S.)
DIE UMGEHUNG DES GESETZES. THEORIE, RECHTSPRECHUNG UND GESETZGEBUNG. EIN BEITRAG ZUR ALLGEMEINEN RECHTSLEHRE (1917)
1) Zürich 1917, Verlag Orell Füssli (IV, 311 S.)
DIE VOKALE DER STAMMSILBEN IN DEN APPENZELLER MUNDARTEN (1907)
1) Frauenfeld 1907, Verlag Huber & Co. (124 S.)
WAS WILL DER MUNDISMUS UND WIE WILL ER ES? (1923)
1) Zürich 1923, Buchhandlung des Schweizer Grütli-Vereins (Mundistische Schriftenfolge Heft 2) (56 S.)
DER WELTSTAAT DES MUNDISMUS (1923)
1) Zürich 1923, Buchhandlung des Schweizer Grütli-Vereins (Mundistische Schriftenfolge Heft 1) (88 S.)
ZUM ZOLLVERTRAG MIT LIECHTENSTEIN. DER STANDPUNKT DER ANSCHLUSS-GEGNER (1923) (mit G. Schwendener) (anonym)
1) Buchs 1923, Buchdruckerei Buchs (24 S.)
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