T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

J. C. J. Ommerborn: Der geheimnisvolle Phonograph. Eine indische Kriminalgeschichte, um 1907
von Mirko Schädel



J. C. J. Ommerborn, 1863–1938: Der geheimnisvolle Phonograph. Eine indische Kriminalgeschichte, Leipzig: Aktueller Verlag A. Kade um 1907, Moderne Kriminal- und Detektivromane Band 11, 93 Seiten, nachgebundene Originalbroschur


J. C. J. Ommerborns Roman Der geheimnisvolle Phonograph ist in einem naiven, mehr als schlichten und beinah grotesken Sprachduktus verfaßt, wie die meisten seiner Werke. Schon die sprachliche  Unzulänglichkeit des Autors nimmt zuweilen äußerst bizarre Züge an – überhaupt wirkt der Text pathologisch in jeder Hinsicht.

Die Geschichte selbst ist in seiner Konstruktion und seinem Tonfall nur als eine Art Unfall zu betrachten, obwohl die Idee des Romans recht amüsant und phantastisch ist. Das Buch spielt in Madras, Indien, wo der berühmte und gefürchtete Detektiv Sheffield mit dem Lord Vizekönig von Madras konferiert, denn in dieser Metropole, einer reichen und bürgerlichen Stadt, nehmen rätselhafte Einbrüche und andere Verbrechen überhand.

Nachdem der Vizekönig seine Erklärungen abgibt und die möglicherweise zu erwartenden Maßnahmen besprechen möchte, unterbricht Sheffield seinen Auftraggeber brüsk und erklärt auf ziemlich rabiate Weise, daß er keine Einmischungen in seine Vorgehensweise duldet – von niemand. Das ganze ist in einem sprachlichen Duktus und einem Stil abgefaßt, der den Verfasser wenn nicht als psychisch angeschlagenen Patienten, so doch zumindest als sehr schwierigen Charakter kennzeichnet.

Neben Sheffield existiert noch ein Adjunkt namens Raleigh, ein junger, gesichtsloser Gehilfe des Meisterdetektivs. Es geschehen seltsame Dinge in Madras, einige Personen begehen Verbrechen, an die sie sich im Nachhinein beim besten Willen nicht erinnern können. Als die Nichtskönner [denn es gibt nur Nichtskönner in dem Buch mit Ausnahme Sheffields und seines Gehilfen] der Staatsanwaltschaft einige Plakate an die Litfaßsäulen anschlagen lassen, in denen die Bevölkerung aufgerufen wird sich an der Jagd auf die Verbrecherorganisation zu beteiligen, tauchen einen Tag später neue Plakate an den Litfaßsäulen auf: »Die internationale Einbrechergesellschaft habe Kenntnis genommen von dem guten Willen der Staatsanwaltschaft und daß die internationale Einbrechergesellschaft sich befleißigen werde, der Staatsanwaltschaft ebenso wie der wohllöblichen Bürgerschaft von Madras einen Strich durch die Rechnung zu machen.«

Bei dieser neuen Plakataktion wurde sogar ein Brigadier der kaiserlich-indischen Gendarmerie in flagranti erwischt, der gerade eines dieser Plakate vor dem Palast des Vizekönigs anleimte. Tatsächlich aber leugnet der Polizist seine Tat hartnäckig. 

Auch der Polizeipräsident von Madras wird von der Staatsanwaltschaft verhaftet, da er offenbar seinerseits des Nachts den Chefkassierer der Britisch-Indischen Bank verhaftet und diesem die Schlüssel für die Tresore abgenommen hatte. Am nächsten Morgen fand man die Tresore ihres Inhalts beraubt, usw.

Die reichlich verwirrenden Einzelheiten erspare ich dem Leser, denn die Geschichte geht ebenso hanebüchen und absurd weiter, mehrere Morde werden durchgeführt, Einbrüche und Raubdiebstähle verübt. Bis Sheffield eine Zeugin in den Außenbezirken von Madras befragen will und dort auf einen Mitarbeiter der Phonographen Aktiengesellschaft stößt, der seine begehrten Objekte aus reklametechnichen Gründen verschenkt – statt sie zu verkaufen. Darüberhinaus erfährt Sheffield etwas über eine alte Inderin, die offenbar zwei parallele Identitäten angenommen hat und äußerst verdächtig erscheint. Zumindest vermutet unser Meisterdetektiv, daß die Inderin in die rätselhaften Verbrechen involviert ist.

Auch philosophiert Sheffield über seine elternlose Jugend, wie er von seinen unbekannten Erzeugern auf der Landstraße ausgesetzt wurde, und wie er es dennoch zu einem weltweit anerkannten Detektiv gebracht hatte.

Als es Sheffield endlich gelingt die Adresse der alten Inderin ausfindig zu machen, depechiert er an die Polizeibehörde, wo er ein paar Männer anfordert, die ihn bei seinen Aktivitäten vor Ort unterstützen sollen. Die alte Dame will dem Unbekannten nicht ihre Tür öffnen, doch Sheffield läßt nicht locker und schiebt seine stählerne Schuhspitze in den Türspalt. Nach einem kurzen Wortwechsel geht die alte Dame Sheffield an den Kragen, sie versucht ihn zu erwürgen. Doch Sheffield ist stärker, und er ruft seine Kollegen von der Polizei zu Hilfe, die die Furie abführen. Kurz vor dem furiosen Handgemenge entdeckte Sheffield noch ein perfektes Porträt seiner selbst in dieser Verbrecherhöhle. Er ahnt nicht nur, er weiß bereits, daß er gerade seine leibliche Mutter verhaften ließ. Nach Durchsicht einiger Papiere in der Wohnung der Verdächtigen entdeckt er auch den Namen seines Vaters.

Zurück in seinem Hotel findet Sheffield die Leiche seines Gehilfen, der sich eine Kugel durch den Kopf gejagt hatte. Auf dem Tisch neben der Leiche steht ein nagelneuer Phonograph. Wieder ruft Sheffield seine Kollegen von der Polizei und läßt sich ein paar Leute schicken, die ihm bei einer neuen Aktion behilflich sein sollen. Er fährt mit den Polizisten und einem Mechaniker zu der Phonographen Aktiengesellschaft samt dem aufgefundenen Apparat seines erschossenen Gehilfen.

Es ist der erste Weihnachtstag, der Pförtner ist ungehalten und will Sheffield nicht melden – bis dieser das ganze Gebäude zusammenbrüllt und sich in der ersten Etage ein Fenster öffnet – der Direktor der Firma erscheint und öffnet die Türen, Sheffield betritt das Gebäude und sie lassen sich gemeinsam in dem Büro des Direktors nieder.

Sheffield erklärt, er wolle wissen wie das Gerät funktioniere, denn er wolle das Gerät einem Bekannten schenken, weiß aber nicht damit umzugehen. Der Direktor läßt den Apparat spielen und eine hypnotische Stimme erklärt einem Unbekannten, in diesem Fall dem bereits toten Gehilfen des Meisters, daß der Mensch sich in das Hinterzimmer begeben und sich eine Kugel in den Kopf schießen solle – was der Gehilfe Sheffields ja auch tat.

Das Problem ist nur, daß der Autor hier auch einen dramaturgischen Fehler macht, der aber angesichts der kruden Erzählkonstruktion auch nicht weiter auffällt. Der Direktor der Phonographen AG ist selbstverständlich der Gatte jener alten Inderin, und also Sheffields leiblicher Vater. Er wird verhaftet und erklärt, daß er die Geräte konstruiert habe um Menschen Verbrechen ausführen zu lassen, die in seinem Interesse lägen. Dabei äußert er auch noch, daß die Geräte so konstruiert seien, daß man den suggestiven Text, gesprochen von ihm selbst, nur einmal anhören kann – und am Ende dem Hörer befohlen wird, alles zu vergessen, was seit dem Start des Apparats bis zur Durchführung des Verbrechens geschehen ist – was echter ommerbornscher Unsinn ist, da bei der Demonstration des Geräts Detektiv Sheffield die suggestive Stimme des Phonographen gar nicht hätte hören können, denn sein Gehilfe hatte das Gerät bereits einmal abgespielt und anschließend Selbstmord begangen.

Glücklicherweise spart der Autor in diesem Roman mit den sonst bei ihm üblichen obsessiven Frauen- und Priesterfiguren, von denen er offenbar pathologisch besessen war. Priester stellen bei Ommerborn immer die personifizierte, sexualisierte Sünde dar, während Frauen schlicht das Böse und die obsessive Verführung darstellen. Wie schon angedeutet ist dieser Kurzroman  ein unsäglich einfältiges, hochtriviales Machwerk eines psychisch labilen und verzweifelten Autors, der wohl von Sorgen und Problemen geplagt auf die Idee kam sich mit einer Serie von hanebüchenen Kriminalromanen die Existenz zu sichern – was ihm damit sicher nicht gelungen ist.

Einzig die Idee – ebenso grotesk, phantastisch und witzig – hypnotisch-suggestive Texte auf einen Phonographen zu sprechen um damit seine Opfer anonymisiert zu Verbrechen zu verleiten, ist grandios. Die Nutznießer dieser Suggestionen sicherten sich damit ungeheure Reichtümer und waren gleichzeitig die bislang unbekannten Eltern des großen Detektivs Sheffield.

Übrigens fügt Ommerborn irrwitzerweise am Ende an, daß die ungeheuren, erbeuteten Reichtümer nie aufgefunden wurden, wenngleich die Schuldigen hinter Gitter kamen. Doch Sheffields Seele ist ermüdet angesichts des Anblicks seiner Eltern, sein weiteres Leben widmet er ausschließlich bis zum bitteren Ende dem Aufspüren der erbeuteten Reichtümer dieser Bande [seiner Eltern].

Mich würde interessieren, welche Interpretation Sigmund Freud nach Lektüre dieses Textes abgegeben hätte – welche Schlüsse er in Bezug auf den Verfasser gezogen hätte. Der Autor wurde offenbar so sehr von seinen Traumata und Obsessionen beherrscht, daß Freud ihn nicht mehr aus den Augen gelassen hätte. Die Abstrusität, die Originalität und die Unberechenbarkeit des Autors machen den großen Reiz seiner belletristischen Werke aus.