Hugo Bettauer: »Im Schatten des Todes«, um 1927
von Mirko Schädel
Hugo Bettauer: Im Schatten des Todes, Wien: Verlag Bettauers Wochenschrift um 1927, 275 Seiten
Knapp 20 Jahre nach dem ersten Abdruck in der New Yorker Morgen-Zeitung erscheint um 1927 der Roman Im Schatten des Todes in Bettauers eigenem Verlag [Bettauers Wochenschrift]. Insgesamt sind wohl fünf Romane von Bettauer in der New Yorker Morgen-Zeitung zwischen 1907 und 1908 erschienen, doch nur zwei davon wurden später in Wien als Buch veröffentlicht.
Der bemerkenswerte Unterschied zu Bettauers späteren Romanen liegt auf der Hand, während nämlich die frühen Romane allesamt in New York spielen und auch vor Exotismus und phantastischen Elementen nicht halt machen, ist der Spielort der späteren Romane meist in Wien angesiedelt – und auch die exotistischen und phantastischen Elemente fehlen gänzlich.
Im Schatten des Todes spielt in New York unter allerlei deutschen Emigranten, die verschiedenen Milieus angehören. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen der deutsch-amerikanische Chirurg Dr. August Miller und seine zwei Kinder Robert und Lucilla, letztere feiert gerade ihren 18. Geburtstag und wartet sehnsüchtig auf ihren Onkel Hermann [Miller]. Sie ist diesem Onkel sehr zugetan und ahnt nicht, daß Hermann eigentlich ihr leiblicher Vater ist, der sie als kleines Kind der Obhut seines Bruders überlassen hatte.
Hermann Miller ist ein seltsamer Kauz und Eigenbrödler, der sich dem Studium der Chemie verschrieben hat. Darüberhinaus war Hermann einige Jahre in Indien, wo er von einem Maharadscha protegiert wurde und ihm eine seiner Töchter zum Geschenk gemacht wurde [!]. Hermann zeugte mit dieser jungen Frau ein Kind, nämlich Lucilla, doch während der Geburt starb die stolze Inderin.
Da Hermann jedoch nicht verheiratet war und auch sonst ein unstetes Leben führte, gab er sein uneheliches Kind dem Bruder in New York in Obhut. Hermann läßt Lucilla, das Geburtstagskind, über Gebühr warten, so daß die ganze Familie beschließt Onkel Hermann in seinem Appartment in der Bronx zu besuchen.
Doch dort steht die Familie vor verschlossenen Türen, aber der Hauswart, ebenfalls ein Deutsch-Amerikaner, ist von der Anwesenheit Hermann Millers überzeugt und so beschließt man, die Wohnungstür öffnen zu lassen. Die Familie, an erster Stelle Lucilla, findet den Ermordeten im Wohnzimmer. Hermann wurde offensichtlich erwürgt und man benachrichtigt die Polizei.
Nach Befragungen und der Sicherung des Tatortes, stellen sich verschiedene Besonderheiten heraus. Detektiv Lustig, ein Deutsch-Amerikaner, ein kleiner intelligenter, vielsprachiger Mann der New Yorker Polizei übernimmt den Fall und stellt fest, daß der Mörder offenbar versucht hatte Onkel Hermanns Papagei zu töten, der ebenso deutsch als auch in einem indischen Lokaldialekt zu plappern versteht. Der Papagei hat ein gebrochenes Bein und sieht auch sonst ziemlich ramponiert aus, doch hat er den Mordanschlag überlebt.
Außerdem scheinen Dokumente entwendet worden zu sein, die in einer stählernen Kassette unter einer Schublade des Sekretärs montiert war. Aus dem Testament, das noch am Tatort geöffnet wird, geht hervor, daß es sich um chemische Formeln einer bahnbrechenden Erfindung handelt, die aber der Menschheit so viel Leid zufügen könnte, daß der Testator um die Vernichtung dieser Papiere bittet. Die Juwelensammlung des Ermordeten blieb wohl unangetastet, aber ein kleiner Geldbetrag wurde entwendet.
Und es wird festgestellt, daß das Mordopfer am Abend zuvor Besuch gehabt habe, was alle Anwesenden wundert, denn Onkel Hermann habe überhaupt keine Bekannt- und Freundschaften gepflegt und habe mit niemandem in Kontakt gestanden – mit Ausnahme der Familie. Auch bemerkt Detektiv Lustig, daß in der Wohnung ein Buch gefunden wurde, das offenbar keinen Bezug zu der restlichen Bibliothek des Ermordeten hat und vermutet, daß der Mörder dieses Buch mitgebracht hatte. Wer war der unbekannte Besucher des spleenigen Onkel Hermann?
Auf dem Vorsatz des Buches klebt die Marke einer Buchhandlung in Zürich, wo es eingekauft wurde. Auf die Frage, ob Hermann Miller je in Zürich zu tun gehabt habe, entgegnet die Familie, daß Hermann außer Österreich und Indien kein anderes Land bereist hatte.
Dr. August Miller und seine beiden Kinder verlassen den Tatort nachdem seine Tochter Lucilla, in deren Körper indisches Blut fließt, noch Rache an dem Mörder ihres vermeintlichen Onkels geschworen hat. Dr. August Miller hat nun die Aufgabe seiner Stieftochter zu erklären, daß der verstorbene Hermann ihr Vater gewesen sei, und ihr die Umstände dieser Verwicklung zu verdeutlichen. Denn Lucilla ist naturgemäß die Haupterbin Hermanns, der eine ganze Sammlung von indischen Juwelen sein eigen nennt.
Erst später fällt Lucilla bei Durchsicht des Erbes auf, daß ein berühmter dreikarätiger Rubin in taubenblutroter Farbe fehle – das wertvollste Stück aus der Sammlung ihres Vaters. Dieser Stein hat die Eigenschaft bei Berührung eines Menschen die Tönung zu wechseln, und war einst als montiertes Auge einer indischen Götzenstatue dafür bekannt, daß bei Berührung mit einem Verbrecher sich der Rubin auf besondere Weise verfärbt.
Parallel dazu wird uns von einem Herrn namens Friedrich Fels berichtet, einem Deutsch-Amerikaner, der ziemlich abgerissen in New York eine bescheidene Existenz führt. Dieser Herr Fels, ein Architekt, der nach eigener Aussage niemals gearbeitet hatte und der viel herumgekommen war, ist ein hochintelligenter und freundlicher Einzelgänger, dessen Interesse offenbar in der Eroberung von Damen liegt. Als der Bruder von Friedrich Fels in New York überraschend an einer rätselhaften Krankheit verstirbt, wird der armselige Herr Fels Erbe eines kleinen Vermögens.
Fels wird eines Tages zufällig mit Dr. Miller und dessen Nichte Lucilla bekannt, und bald schon entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den Herren, während Fels ganz nebenbei das Herz der exotischen Schönheit namens Lucilla erobert, die doch eigentlich ihrem Cousin/Stiefbruder Robert versprochen ist – und damit wird auch ein dramaturgischer Konstruktionsfehler offenbar, denn wie konnte Lucilla ihrem vermeintlichen Bruder versprochen sein, deren Ehe dann ja einem Inzest gleichkäme.
Eines Tages lädt Dr. Miller eine kleine Tischgesellschaft ein, an der auch Friedrich Fels und der Detektiv Lustig – in der Maskerade eines älteren Italieners – teilnehmen. Als im Verlauf des Abends Lucilla den langsam genesenden Papagei ihres ermordeten Onkels vorführt, gerät letzterer völlig außer sich beim Anblick jenes Herrn Fels, und Detektiv und Leser wissen nun, was Friedrich Fels getan haben könnte.
Lustig weiß die Reaktion des Vogels zu deuten, auch die in einer merkwürdigen Sprache gekreischten Worte des Vogels interessieren ihn, denn sie entsprechen offenbar einem indischen Idiom. Der Detektiv beschließt Herrn Fels unausgesetzt beschatten zu lassen.
Bei der nächstfolgenden Abendsoiree im Hause Miller wiederholt der Hausherr die Papageienschau auf Geheiß des Detektivs Lustig, der abermals in der Maskerade des alten Italieners auftritt, doch diesmal hält der Detektiv unter dem Tisch einen Phonographen bereit, der die indisch artikulierten Schreie des Vogels aufzeichnen soll. Beim Anblick von Friedrich Fels gerät das Tier wieder außer sich und nach einem agressiven Angriff auf den Stutzer, schreit das Tier ausdauernd in diesem fremden Idiom. Bei nächster Gelegenheit schafft Lustig seinen Phonographen zu einem Orientalisten an der Universität, der für die Übersetzung der Aufnahme sorgt, die da sinngemäß lautet: »Laß ab, laß ab von meinem Herrchen, laß mein Herrchen in Ruhe!«
Auch das in Zürich gekaufte Buch, das der vermeintliche Mörder in der Wohnung Hermanns zurückgelassen hatte, wird zunehmend zu einem Objekt der Recherche. Lustig nimmt Kontakt zu einem Zürcher Kollegen auf, der auch tatsächlich in der Lage ist den damaligen Käufer zu eruieren, der allerdings einen anderen Namen als Fels führte, doch die Beschreibung dieses Menschen deckt sich vollkommen mit dem Aussehen und Auftreten des Friedrich Fels.
Gleichzeitig arbeitet der Herr Fels sich an seinen Verführungskünsten ab, die Romanze zwischen ihm und Lucilla gerät in immer trockenere Tücher – und parallel dazu legt der liebenswürdige Herr Fels eine unliebsam gewordene Geliebte ab, die ihm jedoch zunehmend Schwierigkeiten bereitet und zu erpressen droht, doch verstirbt überraschend die junge Querulantin in kurzer Zeit.
Lustig ist alles andere als untätig, er recherchiert auch in New York und hegt einen immer größer werdenden Verdacht. Das Vorleben des Friedrich Fels wird wie ein Puzzle entschlüsselt. Vermutlich hat Fels bereits vier Menschen umgebracht, die ihm im Wege standen, aber das eindeutig zu beweisen wird recht schwierig.
Auch reist Lustig, nachdem er feststellt hat, daß Fels bereits in Frankreich in Haft gesessen hatte, nach Europa, wo er auch einen Abstecher nach Wien unternimmt und die erste Begegnung Hermann Millers mit Friedrich Fels rekonstruiert und somit feststeller, daß Mörder und Ermordeter sich bereits aus Wien her kannten. In Paris erhält er die Akte über den Juwelendieb und Frauenversteher Fels – und kurz darauf dampft er erneut über den Ozean mit allerlei Beweisen in der Tasche.
Währenddessen war Friedrich Fels nicht untätig, er hat bei einem schmierigen Quacksalber eine Droge gekauft, die dafür sorgen soll, daß Lucilla vollkommen willenlos sich den gewünschten sexuellen Ausschweifungen hingibt. Zu diesem Zweck gelingt es ihm Lucilla in sein neues Junggesellenappartment einzuladen unter dem Vorwand ihr ein Geständnis zu machen. Doch Detektiv Lustig und Lucillas Stiefbruder/Cousin Robert kommen im letzten Augenblick dazwischen und bewahren Lucillas Unschuld.
Nach diesem Eklat beschließt Fels seinen künftigen Schwiegervater Dr. Miller und dessen Sohn und Konkurrent Robert zu ermorden – um das Erbe in Beschlag zu nehmen und Lucilla zu verführen ohne durch lästige Angehörige in der Durchführung seines Planes gestört zu werden. Detektiv Lustig trickst den Schurken jedoch mehrfach aus, es gelingt ihm die Verabreichung eines Giftes zu vereiteln, doch vor allem findet er die Formel und das Gift selbst, das seinerzeit Hermann Miller bei seiner Ermordung geraubt wurde. Fels hatte sich die ihn belastenden Beweismittel schlauerweise selbst postlagernd zugesandt.
Die bahnbrechende, doch der Menschheit abträgliche Erfindung scheint nämlich ein nicht nachweisbares Gift zu sein, das bei Einnahme einen langsamen, rätselhaften Tod herbeiführt, verursacht durch die konsequente Abnahme von roten Blutkörperchen. Anämie auf Raten. Nur der indische Rubin ist und bleibt verschwunden.
Friedrich Fels wird in einem Sensationsprozeß vor Gericht gestellt, gesteht seine Untaten ein und wird zum Tode verurteilt. Er wird in Sing Sing auf dem elektrischen Stuhl geröstet. Robert Miller heiratet seine Cousine Lucilla und Detektiv Lustig geht zurück nach Frankreich, wo er einst große kriminalistische Erfolge feierte – seine Begeisterung für die Vereinigten Staaten war längst abgekühlt.
Während der unterhaltsame und spannende Kriminalroman aus Bettauers früher Phase noch die Nachfrage des in Mode gekommenen Exotismus bedient, deutet sich auch hier das Interesse für sittliche und sexuelle Fragen an, das den Autor später so bekannt werden läßt und das eine Vielzahl seiner Werke kennzeichnet.
Die Idee, den einzigen Zeugen des Mordes als sprachgewaltigen Papagei zu schildern, ist ebenso absurd, wie witzig, grandios und originell. Die phantastischen und exotistischen Elemente in diesem Roman dienen nur als Appetitanreger des Lesers, der Autor verfolgt diese Handlungsstränge nicht weiter, sie sind lediglich an ein sensationslüsternes Publikum adressiert, das sich noch eine weitere Steigerung der Spannung erhofft.
Der Autor kannte durch eigene Erfahrung die Milieus der Deutsch-Amerikaner in New York, lebte und arbeitete er selbst doch eine Zeit lang in den Vereinigten Staaten bis es ihn zurück in die Heimat trieb – dem schönen Wien.