T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Heinrich Lee, das ist Heinrich Landsberger: »Der Fall Oberthan«, 1898
von Mirko Schädel



Heinrich Lee, das ist Heinrich Landsberger: Der Fall Oberthan, Berlin: H. Steinitz 1898, Kriminalbibliothek Band 9, 248 S.


Der Roman beginnt mit einem bedrohlichen, anonymen Brief, der Oberthan vor Gefahr warnt und zur Flucht auffordert, doch der junge Offizier kann sich diesen Brief nicht erklären und hält ihn für einen schlechten Scherz. Oberthan, aus Straßburg stammend, und der ebenso Zuneigung für Frankreich, als auch für Deuschland gefaßt hat, sieht sich dank seiner Liebe zu Helene am Ziel seiner Wünsche.

Nur der ihm unsympathische Freiherr von Emmingen, ein Freund seines künftigen Schwiegervaters, macht Oberthans Freude zunichte. Mißtrauen und Verachtung steigen in ihm hoch, wenn er Emmingen ansichtig wird, und instinktiv weiß er, daß dieser seltsame Einzelgänger sein Feind ist. Einige Tage später wird das Verlobungsfest im Hause des Geheimrats ausgerichtet, als das Fest den Höhepunkt erreicht, läßt sich eine Ordonanz des Kriegsministeriums melden, die Oberthan zu sprechen wünscht. Oberthan spricht mit der Ordonanz ein paar Worte und entfernt sich schleunigst von dem Fest, er hat den Befehl erhalten sich sofort bei seinem Vorgesetzten im Ministerium zu melden. Dort angekommen wird ihm mitgeteilt, daß geheime Papiere, die Oberthan auf Wunsch mit in seine Privatwohnung genommen habe, in Frankreich in der Zeitung veröffentlicht wurden. Man beschuldigt ihn der Spionage und er wird trotz seiner Unschuldsbeteuerungen ad hoc ins Militärgefängnis gebracht, die Ermittlungen zu diesem Verbrechen werden eingeleitet.

Oberthan, der sich nicht erklären kann, wie die Papiere in die Öffentlichkeit gelangt sind, ahnt nicht, daß ein von ihm protegierter Franzose, der seinem Vater im Krieg einst das Leben rettete und nun als Pförtner in Oberthans vornehmen Mietshaus arbeitet, die Papiere mittels seines Zweitschlüssel an sich brachte und diese dem französischen Geheimdienst verschaffte.

Helene, Oberthans Braut, ist von der Unschuld ihres Geliebten überzeugt, ebenso der Geheimrat, doch fällt Helene in ein schweres Nervenfieber, während Oberthan hilflos seinem Schicksal ausgeliefert ist. Derweil wittert Emmingen seine Chance, er war bereits in Helenens verstorbene Mutter verliebt, mußte sich aber damit abfinden, daß diese als junge Frau den wesentlich älteren Geheimrat geheiratet hatte und dann kurz nach der Geburt Helenens verstarb.

Der Geheimrat und Emmingen hielten nach einer umfassenden Aussprache dann eine skurrile Freundschaft aufrecht, doch als Helene heranwuchs und immer mehr ihrer Mutter glich, verliebte sich der alte Frauenheld Emmingen in das Ebenbild seiner einstigen Geliebten.

Emmingen übt sich in Geduld und wartet auf die Verhandlung und Verurteilung Oberthans, denn er hofft, daß Helene dann endlich die Schuld ihres Bräutigams begreift und sich emotional von ihm abwendet. Doch die Geduld hat ihren Preis, und so stürzt sich Emmingen in den Genuß von reichlich Absinth und beginnt seine alten Gewohnheiten des Spielens und des Verkehrs in fragwürdigen Salons wieder aufzunehmen. In einem dieser illegalen Spielsalons begegnet er eines Nachts einer alten Bekannten, einer Französin namens Clementine, die er einst in Paris verführt und dann sitzengelassen hatte. Auch war er ein  paar Tage zuvor jenem Pförtner begegnet,  der damals in Paris Clementines Vormund gewesen ist – und die Geheimpapiere Oberthans entwendet hatte.

Emmingen begreift, angesichts der Situation in der er seiner alten Liebe Clementine wiederbegegnet ist, daß letztere einem fragwürdigen und illegalen Erwerbszweig nachgeht, denn in genau dem Augenblick ihres Wiedersehens, erkennt er, daß Clementine gerade einem schlafenden, russischen Offizier die Brieftasche gestohlen hat. Emmingen, der zwar keinerlei Schuldgefühle gegenüber Clementine hegt, aber dennoch der alten Liebe Willen ritterliche Gefühle entwickelt, setzt es sich in den Kopf Clementine zu retten. Doch er wird kurz abgelenkt, und Clementine nutzt diese Situation um zu verschwinden.

Am nächsten Tag jedoch wendet sich die Betreiberin des Etablissements an Emmingen, sie hat auf unangenehme Weise von dem Diebstahl an dem Russen erfahren und dieser droht ihr die Polizei zu verständigen, wenn er nicht binnen kurzem seine Brieftasche zurückerhält – in der sich auch Geheimpapiere befinden, deren Verlust ihm seine Stellung kosten können.

Emmingen weiß um den Diebstahl und verspricht der Dame seine Hilfe, er beginnt sich als Detektiv zu betätigen und macht die Adresse Clementines ausfindig, wo er sich umgehend melden läßt. Es kommt zu einer umfassenden Aussprache, Emmingen verspricht ihr seine Hilfe, er will ihre Existenz auf solidere Füße stellen und beabsichtigt ihre kriminelles Tun zu unterbinden. Er bittet sie auch um die Beute, die er später dem russischen Offizier zurückerstattet. Während dieser Aussprache läßt sich allerdings ein weiterer Herr melden, der sich im Empfangszimmer gedulden muß.

Als Emmingen die Wohnung verläßt, wartet er noch einige Zeit auf den unbekannten Besucher Clementines. Als dieser nach einiger Zeit auf die Straße tritt, erkennt er den ehemaligen Vormund Clementines, den er nun durch die Straßen Berlins verfolgt. Als dieser jedoch in dem Haus, in dem auch Oberthan wohnte, verschwindet, wird Emmingen die Unschuld des jungen Offiziers klar. Er begreift die Zusammenhänge des Verbrechens und flieht in seine Wohnung, wo er sich mit Absinth abfüllt und fiebernd tagelang auf und ab geht. Er hat nun das Schicksal Oberthans in der Hand, er kann über Schuld und Unschuld und somit über das Schicksal des Bräutigams seiner Angebeteten entscheiden. Er schließt nach Tagen seine Überlegungen mit der Entscheidung ein Schuft sein zu wollen.

Emmingen eilt zu Helene und erklärt ihr, daß es in seiner Hand läge, die Unschuld ihres Bräutigams nachzuweisen. Er erpreßt Helene und erklärt, daß er schon aus widrigen Umständen auf ihre Mutter verzichten mußte, daß es nun aber an ihr läge, entweder sie heirate ihn und er läßt im Umkehrschluß seine Beweise für Oberthans Unschuld sprechen, oder sie verweigert sich ihm, dann würde er verschwinden und niemals zurückkehren, während Helenes Bräutigam im Zuchthaus verschimmeln würde.

Helene sieht keinen Ausweg, sie wehrt sich gegen diese ekelhafte Erpressung mit allen Mitteln, doch am Ende leistet sie den verlangten Verzicht auf Oberthan, dessen Glück ihr am Herzen liegt, und erklärt Emmingen, daß sie bereit sei das Opfer zu bringen.

Emmingen versorgt nun den Pförtner und Kompagnon Clementines mit reichlich Barmitteln, so daß dieser nach Paris flüchten und sich eine neue Existenz aufbauen kann – im Gegenzug erhält er ein lückenloses Geständnis des Verbrechers, das die Unschuld Oberthans beweist. Emmingen kümmert sich um alle notwendigen Schritte, die unweigerlich zur Freilassung seines ehemaligen Kontrahenten führen. Während er noch damit beschäftigt ist, betritt Clementine mit ihrem Gepäck seine Wohnung und erklärt, sie wolle nun zurück nach Paris, sie habe beschlossen in einem Kloster Zuflucht zu nehmen, sie liebe ihn, Emmingen, noch immer, doch sei sie nun ruhig, gefaßt und da sie ihre Liebe zu Emmingen noch spüre, würde sie zuversichtlich sich dem Leben im Kloster anvertrauen. Diese bescheidene und selbstlose Haltung Clementines scheint auf das versteinerte Herz Emmingens zu wirken. Es dauert nicht lange, und er schreibt einen Brief an Helene, in der er sie auffordert seinen gemeinen Auftritt und Erpressungsversuch zu vergessen, er verzichtet auf ihr Versprechen, sie möchte von dem Vorfall für immer schweigen.

Oberthan wird auf freien Fuß gesetzt, sein Weg führt ihn umgehend zu Helene und seinem Schwiegervater, dem Geheimrat, binnen kurzem wird die Hochzeit gefeiert. Emmingen hat Berlin verlassen, ein Bekannter von ihm berichtete unlängst, Emmingen sei mit einer hübschen Frau auf Capri gesehen worden, wo das Paar einen glücklichen Eindruck vermittelte.

Der Roman fällt in den romantischen Szenen in einen biedermeierlich-kitschigen Ton, darüberhinaus wirkt manches hölzern oder preußisch-wilhelminisch, als hätte den Figuren der liebe Gott Stöcke in die Hintern geschoben – nur Duelle hätten das Bild noch abgerundet, doch der Autor konnte dankenswerter Weise darauf verzichten.

Ich habe schon bessere Romane von Heinrich Lee gelesen, doch auch dieser Roman transportiert hervorragend diese einzigartige Atmosphäre der Jahrhundertwende, die übrigens ebenso eigenwillig ist, wie diejenige der 1920er Jahre. Lee versteht es blendend die Atmosphäre und die Stimmungen dieser Zeit zu beschreiben, auch wenn es gelegentlich mit ihm durchgeht. Nur die Spannungselemente haben in diesem Roman etwas leiden müssen, da der Raum für die romantischen Episoden einen etwas zu breiten Raum eingenommen hat.