Heinrich Büttner: »Der Mann mit dem Rasirmesser. Criminalerzählung aus dem dunkelsten London«, um 1905
von Mirko Schädel
Heinrich Büttner: Der Mann mit dem Rasirmesser. Criminalerzählung aus dem dunkelsten London, Dresden: Dresdner Roman-Verlag [oder für Österreich: Wien: Rubinstein] um 1905, Geheimnisvolle Bibliothek Band 38, 63 Seiten
Heinrich Büttner hat vorwiegend Groschenromane und Kolportage verfaßt, über den Autor habe ich bislang keine Informationen finden können.
Der Mann mit dem Rasirmesser. Criminalerzählung aus dem dunkelsten London, um 1905, ist eine abschreckend volkstümliche und erschreckend naive Adaption des Jack the Ripper-Stoffs.
Edith Western ist ein gefallenes Mädchen, das aus begütertem Elternhaus stammt und einem gewissen Jac verfallen ist, ein Subjekt, das das Mädchen in den Schmutz zu ziehen droht. Mit einer vorgegaukelten Verliebtheit bemächtigt sich Jac der infantilen Unschuld Ediths, die er nach einer Reihe sorgloser Monate auf den Strich schickt – während in Whitechapel gerade der Mann mit dem Rasirmesser umgeht, ein Schlitzer, der bereits zahlreichen Huren die Kehle durchtrennt hat.
Edith irrt durch die Straßen Whitechapels, dem dunkelsten und wohl auch nebligsten Teil Londons und soll sich dem nächstbesten Kerl hingeben um von ihren Lohn Jac zu unterstützen. Stattdessen lernt sie jedoch auf der Straße die rote Mary kennen, eine rothaarige Dirne, die wenige Augenblicke nach dem Gespräch mit Edith ermordet wird. Edith hatte sich schon einige Schritte von der empathischen Mary entfernt, da hört sie die merkwürdigen Geräusche, die das Aufschlitzen einer menschlichen Kehle charakterisiert. Als Edith am Tatort die Sterbende vorfindet, gerät sie naturgemäß in einen Schockzustand und irrt durch das verrufene Viertel. Am Tatort selbst fand sie ein goldenes Medaillon auf der Straße liegen, von Brillanten geziert und mit der Fotografie einer jungen Dame versehen.
Edith ist wie von Sinnen und stürzt sich in die Themse, wo sie ein junger Hüne, ein attraktiver und wohlhabender Chirurg namens Robert, aus den Fluten rettet. Dieser bringt die bewußtlose, junge Dame in sein Haus zu seiner Mutter – beide pflegen das Unglückskind, später wird es von der Mutter quasi adoptiert.
Edith lebt nun im Haus ihres Lebensretters und verliebt sich in diesen, die Gefühle Ediths sind keine Einbahnstraße, sie wird von ihrem Retter ebenfalls geliebt. Als Robert um Ediths Hand anhält, fällt Edith ihrem Robert um den Hals. Doch Ediths Geheimnis bleibt geheim, denn ihr Vorleben als gefallenes Mädchen und daß sie beinah der Prostitution verfallen war, findet kein Ventil.
Doch auch Ediths Bräutigam scheint ein Geheimnis zu haben, und wenige Tage vor dem Hochzeitstermin erhält sie einen Brief ihres Zuhälters Jac, der sie nach Whitechapel ruft um von ihr Geld zu erpressen. Zuvor erfährt sie noch, daß Roberts Vater, ebenfalls Chirurg, in einem Irrenhaus an Gehirnerweichung starb. Und Roberts Mutter macht sich Sorgen, daß ihr Sohn auch dieser Erbkrankheit erlegen wird.
Edith begibt sich um Mitternacht nach Whitechapel und wird von Jac gezwungen einen Wechsel über 2000 Pfund zu unterschreiben. Als der Erpresser zufrieden abdampft, erscheint wenige Augenblicke später der Mann mit dem Rasirmesser auf der Bühne. Er drängt das Mädchen in eine dunkle Ecke und will es ermorden, zuvor will er aber einen Blick in ihr Gesicht werfen, denn dieses wird von einem dunklen Schleier verborgen. Edith hat bereits ihren Bräutigam an der Stimme erkannt, es ist Robert, der sie zu töten beabsichtigt. Doch der Schrecken in Roberts Gesicht ist groß als er seine Braut zu erkennen glaubt – und schon eilen Polizisten ihr von allen Seiten zu Hilfe. Man nimmt Robert fest, der aus Rache bereits 48 Huren in Whitechapel ermordet hatte, denn Robert ist der Überzeugung, daß die Dirnen die Schuld am Tod seines Vaters hätten.
Nach dem Gerichtsurteil schafft man Robert ins Irrenhaus, wo er kurz darauf stirbt. Ebenso stirbt Roberts Mutter an Gram, wie auch der Zuhälter und Erpresser Jac, den die Schwindsucht bzw. die Tuberkulose gerechterweise dahinrafft.
Edith vermögende Eltern tauchen in London auf, sterben auch bald darauf und vererben Edith ein großes Vermögen, das sie lediglich den geläuterten Huren Whitechapels wohltätig zur Verfügung stellt. Edith bleibt fortan unverheiratet.
Dieses Heft ist bodenlos naiv erzählt mit lauter Figuren aus dem Klischeebaukasten, die wie Statisten zu reinen Sprachrohren des Verfassers verkommen. Die Geheimnisvolle Bibliothek bestand überwiegend aus schlüpfrigen Sittenromanen, die scheinbar die Verkommenheit der Welt illustrieren sollten – aber eigentlich das voyeuristische Bedürfnis der Leser befriedrigten. Diese Art der Doppelmoral ist ein Charakteristikum der wilhelminischen Ära. Vereinzelt finden sich auch Krimis in dieser Groschenheftreihe, die aber offenbar ebenso wenig Charme versprühen, wie die schamlosesten Nummern der anderen Hefte dieser Reihe. Daß Büttner in diesem Buch ein Porträt Jack the Rippers vor Augen hatte, kann niemand ernsthaft bezweifeln.