T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Harry Stephen Keeler: »Das geheimnisvolle Netz«, 1937
von Mirko Schädel



Harry Stephen Keeler: Das geheimnisvolle Netz, Berlin: Auffenberg Verlagsgesellschaft 1937, AV-Kriminalroman, 287 Seiten


Kein Autor verquickt so gekonnt das Bizarre und Absonderliche mit einem drastischen Realismus wie Harry Stephen Keeler, 1890–1967. Sein Blick auf die amerikanische Wirklichkeit seiner Zeit ist überaus zutreffend und völlig illusionslos. Der Leser wird durch eine beklemmende und von Angst dominierte Atmosphäre geleitet, und man lechzt beim Lesen geradezu nach Erlösung und einer glücklichen Wendung der Ereignisse.

Obwohl Keelers Figuren meist oberflächlich und klischeeartig beschrieben werden, bekommen sie doch im Lauf der Handlung eine Art Eigenleben, das dem Leser gefallen dürfte. Zu Beginn des Romans wird dem Leser Mr. Lipke vorgestellt, der in einem New Yorker Hotel unter falschem Namen abgestiegen ist und in einer Zeitung ebenfalls auf falschem Namen ein Inserat aufgegeben hat, in dem dieser Menschen auffordert ihn in seinem Hotel zu einem bestimmten Termin aufzusuchen, falls sie in der Lage sind ein völlig konkurrenzloses Spektakel oder Kunststück aufzuführen, das es in der Welt kein zweitesmal gibt. Tatsächlich melden sich etliche Artisten, Jongleure und Inselbegabungen, darunter ein Junge, der eine wandelnde Enzyklopädie darstellt oder ein Mathematik-Professor, der aus dem Stand die schwierigsten Rechenaufgaben löst. Doch Lipke entscheidet sich für einen Artisten, der eine Fahrrad-Nummer entwickelt hat und wohl der einzige auf der Welt sei, der einen doppelten Salto mit seinem Rad vorführt. Diesem Artisten bietet Lipke einen einmaligen Auftritt in Chicago an, er komme für alle Reisekosten auf und biete ein Honorar von 1000 Dollar.

Darauf wendet sich der Autor von dieser Szene ab und beschreibt einen jungen, unbeholfenen Rechtsanwalt namens Crosby, der in einer Provinzstadt lebt und arbeitet und in eine junge Dame  verliebt ist, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht hat. Die junge Dame namens Lindell Trent, eine Vollwaise, soll ihrer Dienstherrin einen wertvollen Brillantring entwendet haben und wird von Crosby vor Gericht vertreten, doch Crosby in seiner Unerfahrenheit und Naivität glaubt nicht nur, daß seine Liebste diesen Diebstahl begangen hat – trotz ihrer vehementen Unschuldsbekundungen, er glaubt darüberhinaus, daß es kein Entkommen für Lindell gibt sich der Konsequenzen ihres Tuns zu entziehen.

Crosby bittet Lindell inständig sich schuldig zu bekennen um das Urteil abzumildern. Am Ende wird Lindell zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt und bricht mit ihrem Liebhaber, der untröstlich ist und langsam erkennt, daß er einen Fehler gemacht hat. Als auch noch jene Dienstherrin ein paar Monate später auf ihrem Sterbebett vor Zeugen beteuert, daß sie gelogen habe und Lindell unschuldig sei an diesem fingierten Diebstahl, bricht Crosbys Welt zusammen. Als dieser dann zu jenem Zuchthaus reist um sich mit Lindell zu beraten und seinen Fehler wieder gut zu machen, erfährt er vom Gefängnisdirektor, daß Lindell bereits begnadigt worden sei und das Land verlassen habe, sie sei nach Australien unterwegs, wo sie einen entfernten Verwandten in der Wildnis weitab jeglicher Zivilisation aufsuchen wolle um dort unterzukommen. Sie habe ihren Namen geändert und niemand wisse, wohin
sie sich genau gewendet habe und welchen Namen sie angenommen habe um ihre Vergangenheit vollkommen auszulöschen.

Nun kommt wieder die überbordende Phantasie des Autor zum Tragen, denn die nunmehr vollkommen anonymisierte Lindell, deren Ziel unbekannt ist, hat sich in San Francisco eine Tasche aus australischen Sixpence-Stücken gekauft und ihre neuen Initialen dort eingravieren lassen. Anhand der Schiffsliste des Dampfers, den Lindell genommen hatte, und den Initialen ihres angenommenen Namens erhofft Crosby die neue Identität Lindells zu erfahren und damit womöglich ihre neue Adresse.

In der Presse wurde dieser Tage von einer Flaschenpost berichtet, die man aufgefunden hatte und die von einem Kriminellen stammte, der auf jenem Dampfer gefahren war, den auch Lindell genommen hatte. Dieser Kriminelle flüchtete von dem Dampfer, nachdem er noch einen Diebeszug an Bord durchführte, dann irrte er auf einem Beiboot tagelang durch die Südsee, ehe er auf einem unbekannten Eiland anlandete, wo er mit seinem Diebesgut und einem nunmehr unbrauchbaren Boot anlandete. Nur gab es auf dem Eiland kein Wasser und keine Nahrung, das einzige, was ihm zu tun übrig blieb, war eine Flaschenpost ins Wasser zu werfen und auf Rettung zu hoffen. In jener Flaschenpost wird auch das Diebesgut erwähnt, nämlich neben einigen Schmuckstücken auch Lindells Tasche mit den fraglichen Initialen.

Crosby hatte sich in den Kopf gesetzt eine Expedition in die Südsee auszustatten um die Nadel im Heuhaufen zu suchen. Um die enormen Kosten zu bestreiten, begann er seinen Beruf als Anwalt zu professionalisieren. Alsbald zog es ihn nach Chicago, wo er bei einem angesehenen Anwalt Vorschub auf eine Karriere leistete. 

Tatsächlich wurde Crosby nach seinen kläglichen Anfängen ein gewiefter Rechtsanwalt. Einer von Crosbys Klienten wurde des Mordes angeklagt, und dieser spannende Kriminalfall wird in einem wirkungsvollen Gerichtsdrama dem Leser vor Augen geführt. Daneben gibt es zahlreiche Nebenschauplätze und Querverbindungen, die der beliebten literarischen Konstruktionstechnik Keelers geschuldet ist. Während die meisten Autoren sich schon schwertun zwei nebeneinander und doch verbundene Handlungsstränge einißermaßen plausibel parallel zu erzählen, ist Keeler eine Art Jongleur, der gleich drei, vier oder fünf Handlungsstränge virtuos beherrschen kann, die nur mit einer an den Film erinnernden Schnitttechnik aneinandergereiht sind und am Ende des Romans zu einem großen Ganzen zusammengefügt werden.

Jeder andere Autor würde daran scheitern und den Eindruck vermitteln, die Konstruktion sei zu technisch und papiern, also leblos – nicht so bei Keeler, dem selbst die absonderlichste Idee lebendig und überzeugend zu geraten scheint.

Die Wendungen, die Das geheimnisvolle Netz nimmt, sind so abenteuerlich und hanebüchen, und doch nimmt der Leser diese Geschehnisse gespannt auf ohne dies dem Autor übel zu nehmen. Zu Beginn des großen Mordprozesses weiß Crosby nicht, ob sein Klient jenen Mord begangen hat, oder nicht. Aber im Verlauf stellt sich irgendwann die vermeintliche Schuld seines Klienten heraus und Crosbys in Australien vermutete Geliebte Lindell wird ebenfalls als Zeugin der Staatsanwaltschaft in diesem Prozeß vernommen. Als Crosby jedoch den Kontakt zu Lindell erneuern will, treten zwei Kriminalbeamte dazwischen und verhaften Crosby wegen eines anderen Falls, den er angenommen hat.

Die Wendungen dieses Romans werden immer absurder, ebenso die Zufälle, doch verzeiht man Keeler seine Spielereien – selbst als er eine Piratengeschichte des 17. Jahrhunderts mit der Kriminalgeschichte verquickt und sich am Ende des Romans herausstellt, daß das Mordopfer durch eine Apparatur des 17. Jahrhunderts erschossen worden ist – und sich der gesamte Mordfall in Luft auflöst.

Jener Lipke, der sich Artisten anschaut um einen von ihnen für einen einmaligen Auftritt zu engagieren, ist eine Größe im Kriminellenmilieu. Lipke wurde aus dem Gefängnis heraus von Crosbys Klienten engagiert, um den Hauptbelastungszeugen in diesem Mordprozeß aus dem Weg zu räumen. Lipke engagiert dafür einen Artisten, läßt ein Zirkuszelt aufbauen, engagiert desweiteren über 1200 Männer mit Handkoffern, die diesem Spektakel zuschauen sollen und dafür je 10 Dollar Gage erhalten, nach der Vorstellung müssen die Herrschaften ihre Schecks an einem Verkehrsknotenpunkt gegenzeichnen, so daß die Menschenmenge in die Straßenbahnen strömen – nur um ein Chaos in den öffentlichen Verkehrsmitteln hervorzurufen und so den fußlahmen Hauptbelastungszeugen in ein Automobil zu locken und zu entführen. Diese wahnwitzige Idee kann nur von Harry Stephen Keeler stammen, und so absurd sie auch ist, man verzeiht dem Autor und ist amüsiert.

Allerdings ist das Ende wirklich tragisch, denn alles läuft auf eine eheliche Verbindung von Crosby mit seiner angebeten Lindell hinaus – und damit nicht genug, auch die Heimkehr des Paares in die provinzielle Idylle des Staates Kansas deutet sich an.

Keeler ist ein außerordentlicher Fabulierer, dem immer wieder großartige Ideen und Passagen glücken, die ihresgleichen suchen. Auch die eigentümliche Atmosphäre in seinen Romankonstrukten ist eigenwillig und zweifellos einzigartig.