H. A. Revel: »Witwe Dalila« 1904
von Mirko Schädel
H. A. Revel: Witwe Dalila, Berlin: Continent 1904, Kriminal-Romane »Continent« Band 2, 243 Seiten
H[ugo] A[lphonse] Revel, das ist Hugo Neumann, 1867–1907, schrieb einen ausgezeichneten Kriminalroman mit dem Titel Witwe Dalila. Revel führt dem Leser die Belle Epoque vor Augen, man sieht unwillkürlich die Gemälde von Paul Cézanne und andere farbenprächtige Naturimpressionen vor sich, ebenfalls die imposanten Malereien von Böcklin, wovon übrigens eines in der Wohnung des Mordopfers hängt. Die Damen, die seinerzeit mit ihren Kleidern und großen Hüten mit einem Schirm über die Boulevards flanieren, die Stutzer, die mit Stock und Zylinder den Damen aufmerksam und träumerisch nachschauen. Ebenso schwelgt der Roman in der Atmosphäre der psychologischen und naturalistischen Literatur der Jahrhundertwende.
Maria van den Kolb, verheiratet mit dem Niederländer Carl van den Kolb, seines Zeichens Börsenmakler in Berlin, ist auf der Rückreise von Italien nach Berlin und erwartet sehnsüchtig Ihren Mann auf dem Bahnsteig in der Hauptstadt. Maria, nur von ihrer Freundin Rosa begleitet, hatte ihre Verwandten in Genua besucht, denn sie ist gebürtige Italienerin – doch ihr Mann erscheint nicht, und so beschließt sie eine Droschke zu nehmen, sich wundern, wo ihr Mann abgeblieben sei.
Doch auf ihr Klingeln an der Haustür öffnet niemand, auch die Wohnungstür bleibt verschlossen, so daß sie den Hausmeister bitten muß die Tür mit einem Dietrich zu öffnen. Tatsächlich läßt sich die Tür ohne großen Widerstand öffnen, Maria betritt die eheliche Wohnung und entdeckt nach einigen Augenblicken die Leiche ihres Mannes, blutüberströmt und offensichtlich erstochen. Noch mit letzter Kraft scheint sich dieser durch die Wohnung geschleppt und den Anfang eines Briefes geschrieben zu haben: »Maria! Räche mich! Der Mörder heiß…«
Die Polizei wird verständigt und nachdem die Voruntersuchungen abgeschlossen sind, übernimmt der Polizeikommissar Sieg den Fall, ein eher kleiner, häßlicher Mann mit Stoppelbart und blauer Brille – und der Roman nimmt eine neue interessante Wendung.
Der ermordete Carl van den Kolb war ein freundlicher, ausgeglichener Charakter, der sein Leben nach seiner Heirat in geordnete Bahnen gelenkt hatte, er führte eine bürgerliche, fast großbürgerliche Existenz. Feinde hatte das Mordopfer nicht, doch gab es einen Zwischenfall in van den Kolbs Leben, der einen möglichen Täter in den Fokus der polizeilichen Ermittlungen lenkt. Herr von Hörfvy hatte mit dem Ermordeten geschäftlich zu tun, seine Schulden in Form eines Wechsels betrugen 50.000 Mark, die er van den Kolb wohl nicht zurückzahlen konnte.
Polizeikommissar Sieg beschließt diesen Mann genauer zu untersuchen, es kommt zu der Verhaftung von Hörfvys und seiner Einvernahme durch den Untersuchungsrichter, doch das Verhör gestaltet sich als recht unergiebig, denn von Hörfvy ist ein aalglatter Lebemann, hochintelligent und gibt sich keinerlei Blöße.
Sieg wird, da er den Verdächtigen für schuldig hält, diesen Mann nach seiner Freilassung aus der Untersuchungshaft nicht mehr aus den Augen zu lassen. Doch geht er weit darüber hinaus, denn er nimmt Kontakt zu der Witwe Maria van den Kolb auf und beschließt diese ausnehmend schöne, temperamentvolle Italienerin in die Untersuchungen zu involvieren, denn es gibt keine stichhaltigen Beweise für den Mord an ihrem Gatten. Sieg geht sogar noch weiter und es gelingt ihm die Witwe zu überreden an einer komplizierten Scharade teilzunehmen, die dazu führen soll, daß sich der Verdächtige durch eigene Fehler selbst entlarvt.
Der Polizeikommissar überredet seine Dienstbehörde ihm völlig freie Hand zu lassen und mit ausreichenden Mitteln auszustatten, so daß er eine Verwandlung vollziehen kann und nunmehr als Graf Tamani die Bühne betritt. Er nimmt mehrere Zimmer in einem Luxushotel, läßt sich in den Salon einer Lebedame einführen, wo man dem Glücksspiel frönt und nimmt zu diesen Anlässen Maria van den Kolb mit, die als eine Verwandte des Grafen Tamani vorgestellt wird.
Natürlich stellt sich in kürzester Zeit der Kontakt zu Herrn von Hörfvy her, der auch im Spiel gegen Graf Tamani alias Polizeikommissar Sieg eine beträchtliche Summe Geldes verliert. Siegs Ziel ist es, den Herrn von Hörfvy in Maria van den Kolb verliebt zu machen in der Absicht, daß dieser Mann die Nerven verliert und sich selbst verrät. Doch während Siegs Pläne sich in gehörigem Tempo verwirklichen, stellt der kleine Kommissar fest, daß er sich ebenfalls in Maria van den Kolb verliebt hat, ganz so, wie auch Herr von Hörfvy entdeckt in die schöne Maria verliebt zu sein – und außerdem findet Graf Tamani/Sieg Gefallen daran als reicher, italienischer Graf in der Halbwelt Berlins eine gewisse Rolle zu spielen.
Wochen vergehen, doch Nervenschwäche stellt sich bei Herrn von Hörfvy nicht ein, und anläßlich eines Rapports bei der Behörde hört Polizeikommissar Sieg von der anstehenden und schwierigen Verhaftung des Athleten-Paul. Sieg stellt sich für die Verhaftung zur Verfügung, hat er diesen Proleten doch schon einmal hinter Gitter gebracht. Auch hier bittet er um keinerlei Einmischung seiner Kollegen, und am nächsten Morgen steht er trickreich in dem Schlafraum des impulsiven, äußerst gewalttätigen Riesen.
Durch seine Fähigkeit sich in sein Gegenüber hineinzudenken und den sprachlichen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen – denn er berlinert mit dem Herrn Athleten-Paul – gelingt es Sieg den brutalen Verbrecher zu überreden ihm freiwllig aufs Präsidium zu folgen. Bei der Gelegenheit horcht er den Athleten-Paul aus und erfährt, daß der gute Mann offenbar im August in der Französischen Straße einen Mann aus Eifersucht ermordete.
Die Daten decken sich in etwa mit dem Mord an Carl van den Kolb, und so geraten die Polizei und unser Polizeikommissar Sieg selbst auf eine falsche Fährte. Da sich der Athleten-Paul weigert irgendwelche Aussagen zu machen, geht der Fall vor Gericht. Erst im letzten Augenblick wird dort geklärt, daß der Verbrecher offenbar einen anderen Mann ein paar Tage vor dem Mord an Carl van den Kolb in der Französischen Straße ermordet hatte – mit einem gewaltigen Faustschlag auf den Kopf – doch blieb der Mord unentdeckt, denn man fand einen Mann ohne sichtbare Verletzungen auf der Straße liegen und war der Ansicht, daß der Sturz des ohnehin gesundheitlich angeschlagenen Herrn so unglücklich war, daß er auf natürliche Weise verstarb. Also wurde Sieg und seine Behörde Opfer einer Verwechslung.
Polizeikommissar Sieg, der ebenso überrascht ist vom Verlauf des Prozesses, hatte sich wochenlang nicht bei Maria van den Kolb sehen lassen, nicht zuletzt, weil er immer noch in sie verliebt ist und weiß, daß Maria sich bereits in den vermeintlichen Mörder ihres Mannes, Herrn von Hörfvy, verliebt hatte. Schon seit Wochen spielt Maria nun schon die Scharade weiter, da sie sich offenbar vor ihrem Geliebten Herrn von Hörfvy schämt die Wahrheit einzugestehen.
Sieg erklärt Maria nun den Ausgang des Prozesses, und daß der Mörder ihres Gatten noch immer nicht gefaßt sei – und daß er immer noch an die Schuld des Herrn von Hörfvy glaube. In einer emotionalen Grenzsituation eilt der kleine unansehnliche Sieg auf Maria van den Kolb zu, küßt die sich wehrende Frau eindringlich und leidenschaftlich, ehe er aus der Wohnung gewiesen wird und von der Bildfläche verschwindet.
Unser eifriger Polizeikommissar überwacht jedoch weiterhin die Treffen zwischen von Hörfvy und Maria van den Kolb und erfährt, daß die beiden sich nach Italien absetzen wollen. Sieg leidet unsäglich angesichts des Anblicks des verliebten Paares. Noch immer weiß von Hörfvys nicht, daß Maria van den Kolb Teil einer Scharade ist und einen falschen Namen führt. Doch als von Hörfvy ihr ein Geständnis macht, das sein Gewissen plagt, und er den Mord an ihrem Gatten eingesteht um seinem Seelenleben Erleichterung zu verschaffen, sitzt Polizeikommissar Sieg versteckt hinter einer Milchglasscheibe und hört das Geständnis mit großem Interesse mit an.
In der Folge gesteht Maria dem Mörder ihres Gatten, daß sie die Witwe des Ermordeten sei. Von Hörfvy, unter dem Eindruck dieser Mitteilung, flieht auf die Straße, wird von Sieg verfolgt und verhaftet, doch die Menschenmassen angesicht des Geburtstags des Kaisers führen dazu, daß die beiden getrennt werden, und von Hörfvy, der sich plötzlich allein und verlassen wiederfindet, greift in seine Brieftasche und entnimmt dieser eine Giftkapsel und – richtet sich selbst.
Dem Athleten-Paul gelingt ein paar Tage später die Flucht aus dem Gefängnis, er ermordet seine Frau, in dem er diese aus dem Fenster ihrer Wohnung wirft, und anschließend springt er hinterher in die Tiefe. Maria van den Kolb hat sich nach dieser traurigen Episode in ein Armenasyl in Genua zurückgezogen, wo sie sich zeitlebens um die Schwachen und Vernachlässigten kümmert. Über Polizeikommissar Siegs weiteres Schicksal erfährt der Leser leider nichts.
Der ganze Roman ist untertitelt mit dem Hinweis: »Nach dem Französischen«, doch vermute ich, es handelt sich nicht um die Übersetzung eines französischen Romans oder eines Plagiats, sondern der Autor will damit zum Ausdruck bringen, daß er den Roman unter dem Einfluß der zeitgenössischen französischen Literatur geschrieben hat, denn seine Bewunderung für diese läßt er dem Leser unausgesetzt spüren.
Besonders gelungen sind die sprachlichen Mittel, zu denen der Autor greift um seinen Helden, den tragisch verliebten Kommissar Sieg, in den verschiedenen Rollen sprechen zu lassen. In der Rolle des Grafen Tamani spricht er ein italienisch akzentuiertes Deutsch, das seinesgleichen sucht. In den Passagen, die Sieg mit dem Athleten-Paul konferiert, spricht Sieg den unverkennbaren Berliner Dialekt der einfachen Leute. Nur im direkten Verkehr mit seiner Behörde und seinen Vorgesetzten, oder wenn er sich mit Maria van den Kolb allein wähnt, spricht er das reinste Hochdeutsch.
Revel soll aus Ekel vor seinem Nachnamen Neumann das französisch klingende Pseudonym Hugo Alphonse Revel gewählt haben, das allein ist schon ein Indiz für seine Vorliebe für die französische Literatur jener Zeit. Der Roman ist breit angelegt und trotz seiner Absurditäten ein spannender, sprachlich ambitionierter Kriminalroman von Rang.
Das besondere Verdienst des Autors besteht aber sicher in der plausiblen und gelungenen Charakterzeichnung seiner Figuren, die auch in den grotesken Situationen glaubhaft agieren. Insofern ist dieser Roman auch ein Gegenstück all jener kolportageartigen und trivialen Krimis, die damals üblich waren. So ist Witwe Dalila in seiner Art ein Meisterwerk voller Alleinstellungsmerkmalen.