F. Arnefeldt, das ist Jenny Hirsch: »Umgarnt«, 1895
von Mirko Schädel
F. Arnefeldt, das ist Jenny Hirsch: Umgarnt, Berlin: Albert Goldschmidt 1895, Goldschmidt’s Bibliothek für Haus und Reise Band 35, 210 Seiten
Jenny Hirsch, 1829–1902, war eine deutsche Journalistin, Schriftstellerin, Übersetzerin und Frauenrechtlerin. Hirsch veröffentlichte ihre Arbeiten unter diversen Pseudonymen. Für Übersetzungen benutzte sie häufig das Pseudonym J. N. Heynrichs, für ihre belletristischen Werke nutzte sie vor allem den geschlechtsneutralen Decknamen F. Arnefeld[t], aber wohl auch die Pseudonyme Fritz Arnefeldt oder Franz von Busch. Ihre Novellen und Romane erschienen vorwiegend in den Romanfeuilletons, einige ihrer Werke wurden auch als Bücher gedruckt. Jenny Hirsch übersetzte diverse Sensationsromane von Mrs. Henry Wood und Mary Elisabeth Braddon in den 1860er Jahren, was auch auf ihre eigenen Werke abfärbte.
Umgarnt, 1895, ist ein wilhelminischer Sensationsroman, der von einer bemerkenswerten Naivität und einer großen Konventionalität zeugt, gleichzeitig ist der Roman aber durchaus spannend und unterhaltsam.
Die unfaßbar naive schwedische Millionenerbin Erika Knutson verbringt mit ihrem Vater eine Kur in Wiesbaden, wobei ihr etliche junge Verehrer den Hof machen. Kein Wunder, ist sie doch eine ätherische Blondine und gleichzeitig die Unschuld vom Lande, doch als sie den Berliner Baumeister Paul Ebell kennenlernt, ist es um sie geschehen. Erikas Vater, der schwedische Grubenbesitzer Knutson, hatte jedoch ganz andere Pläne mit seiner Tochter, so daß Pauls Bitte um die Hand Erikas abschlägig beschieden wird. Das junge Liebespaar beschließt zu fliehen, Vater Knutson folgt den Flüchtenden auf dem Fuße und stellt das junge Paar. Dann läßt der alte Knutson das Liebespaar gewähren, er selbst gibt ihnen noch seinen Segen und Paul und Erika heiraten am Sterbebett des alten, kranken Mannes.
Erika hatte mir ihrem Vater ein abgeschlossenes Leben geführt, lediglich eine Freundin des Hauses namens Sabine Clemens hält den Kontakt zu dem jungen Paar. Auf dem Sterbebett hatte Herr Knutson seiner Tochter noch gestanden, daß sie, Erika, die Frucht einer unehelichen, sündhaften Beziehung gewesen sei. Erikas Vater hatte als gestandener und verheirateter Mann eine Affäre mit einer blutjungen Dienstbotin unterhalten, die er offenbar vergewaltigt und genötigt hatte. Aus dieser Affäre sei Erika hervorgegangen, die als Kind abgeschottet bei einfachen Leuten aufgezogen wurde. Als die Gattin von Knutson starb, holte Vater Knutson seine Erika aus der gesellschaftlichen Isolation und sorgte für eine standesgemäße Erziehung. Diese Geschichte nagt jedoch am Selbstwertgefühl Erikas, sie hält sich nunmehr für gesellschaftlich deklassiert und für unwert – auch in Bezug zu ihrem liebenden Gatten – vor dem sie sich nun ob ihrer zweifelhaften Herkunft schämt.
Eines Tages taucht eine bislang unbekannte Verwandte Paul Ebells auf, Lucy mit Namen, die ebenso liebenswürdig wie geheimnisvoll ist. Lucy freundet sich mit Erika an und zieht nach kurzer Zeit in die Villa Ebell. Neben Konzert- und Theaterbesuchen, mit denen sich das Trio unterhält, führen sie ein eher eintöniges Leben – nur von gelegentlichen Besuchen der Freundin des Hauses namens Sabine Clemens unterbrochen. Doch zwischen Paul Ebell und seiner Cousine Lucy werden Geheimnisse geteilt – was Erika irrtiert bemerkt und reichlich verunsichert. Frau Clemens, die alte Freundin des Hauses, bemüht sich redlich Erikas Verunsicherung zu vergrößern. Diese falsche Schlange flüstert Erika eine paranoide Weltanschauung ein, die letztere zu einer einfachen Beute für Manipulationen aller Art werden läßt.
Eines Tages verschwindet Erika Ebell spurlos, und ihr Gatte ist völlig verzweifelt. Er wendet sich an die Polizei, schaltet Anzeigen in den Tageszeitungen und verspricht dort für Hinweise auf den Verbleib seiner Gattin eine fürstliche Belohnung. Diese Annoncen sind das Tagesgespräch Berlins, aber niemand nimmt Kontakt zu Paul Ebell auf, der immer tiefer in eine Depression gerät. Nur seine Cousine Lucy und Sabine Clemens besuchen den Verzweifelten regelmäßig. Nach einigen Monaten gerät Paul Ebell sogar in den Focus polizeilicher Ermittlungen, denn in der Stadt verbreitet sich das Gerücht, Ebell unterhalte eine leidenschaftliche Beziehung zu seiner Cousine Lucy und habe womöglich seine reiche Frau beiseite geschafft.
Dann berichtet uns die Autorin von einem weit entfernt liegenden Jagdschloß an der bayerischen Grenze, wo ein wortkarger Förster mit seiner Magd haust. In diesem herabgekommenen Schloß lebt jedoch seit einigen Monaten eine junge Dame, nämlich Erika Ebell.
Gelegentlich erhält Erika Besuch von Sabine Clemens, der alten Freundin der Familie. Diese abgetakelte Schauspielerin hat das junge Mädchen derart geschickt manipuliert, daß diese glaubt Cousine Lucy wolle sie vergiften, damit Lucy ihren Cousin Paul Ebell heiraten könne. Diese großangelegte und wohldurchdachte Intrige traf bei der naiven und paranoiden Erika auf fruchtbaren Boden. Tatsächlich glaubt sie den Einflüsterungen der Sabine Clemens vollkommen, daß nämlich ihr Gatte Paul sich in seine Cousine Lucy verliebt habe, und dieses Paar nun plane Erika zu beseitigen um sich deren Vermögen anzueignen und frei zu sein.
Erika glaubt in ihrer gestörten Selbstwahrnehmung allen Ernstes, daß sie es nicht wert sei die Gattin des edlen Paul Ebell sein zu dürfen – als Frucht einer unsittlichen, verderbten Beziehung ihres nunmehr verstorbenen Vaters. Erikas mangelndes Selbstwertgefühl macht sich die intrigante Sabine Clemens zunutze. Dabei verfolgt Frau Clemens durchaus kriminelle Absichten, denn ihr Bruder soll sich der ahnungslosen Erika annehmen und diese später zum Traualtar führen, sobald die Ehe zwischen Paul und Erika geschieden werden kann. Sabine Clemens will das Paar derart entfremden und reizen, bis einer von beiden die Scheidung fordert. Sobald dieses geschehen ist, solle Erika wieder auferstehen und sich dem Gerichtsverfahren stellen. Danach soll der schmierige Bruder von Sabine Clemens das unschuldige Kind heiraten und sich das große Vermögen des Grubenbesitzers Knutson aneignen. Zumindest will uns die Autorin diesen schwammlgen Plan glauben machen, und streckenweise gelingt ihr dies auch.
Während Sabine Clemens der ahnungslosen Erika nun fortwährend berichtet, daß ihr Gatte Paul bereits in einer offenen Beziehung mit seiner Cousine Lucy lebe – was vollkommen erlogen ist, erklärt dieselbe Sabine Clemens dem verzweifelten Paul Ebell, daß dessen Gattin Erika wohl mit einem Konzertpianisten nach Amerika durchgebrannt sei – um auch an dieser Stelle Mißtrauen zu säen. Doch Paul Ebell ist nicht derart manipulierbar, sondern ein stiller Leidender, dessen Verzweiflung langsam seine Nerven ruiniert.
Jener wortkarge und einsiedlerische Förster von dem abgewirtschafteten Jagdschloß ist ganz in der Hand des verbrecherischen Geschwisterpaares Clemens. Lange Zeit war der Förster der Ansicht, daß die junge Dame namens Erika nur eine verführte Geliebte des Bruders von Sabine Clemens sei. Doch bald wird ihm klar, daß Erika ebenso ein Opfer der kriminellen Machenschaften seiner Stieftochter Sabine Clemens ist, wie er selbst. Als er dies begreift und ihm dann noch die Vermißtenanzeige von Paul Ebell unter die Augen kommt, wird ihm alles klar. Er schickt einen jungen Anwärter auf das Försteramt nach Berlin um dort Herrn Ebell von der Anwesenheit Erikas zu informieren – und stellt dem jungen Mann auch die Belohnung von 5.000 Mark in Aussicht. Der Förster möchte nicht an dieser Belohnung beteiligt werden, denn er hat mit dem Leben abgeschlossen, da seine Stiefkinder, nämlich das Geschwisterpaar Clemens, ihn in der Hand haben und erpressen. Der gute Mann hatte die Mutter des Geschwisterpaares ermordet und ist der irrigen Auffassung, daß seine Stiefkinder dieses Verbrechen auch beweisen könnten. Der Förster hat jedoch nicht nur ein Gewissen, sondern er ist es auch leid diesen Verbrechern und Intriganten dienstbar zu sein.
Tatsächlich reist der junge Försteranwärter nach Berlin und berichtet Paul Ebell und dessen Cousine Lucy von der Anwesenheit Erikas auf dem Jagdschloß. Pual Ebell ist vor Aufregung außer sich, sieht er doch die Chance gekommen seiner geliebten Gattin wieder nahezukommen und seine desolate psychische Verfassung abzuschütteln. Er möchte sofort zu dem Jagdschloß aufbrechen, doch der Nachtzug ist bereits abgefahren, erst am Morgen kann die Reise beginnen. Lucy und ihr Verlobter begleiten den aufgebrachten Gatten. Aber auch Sabine Clemens ist nicht untätig gewesen, denn sie ahnt bereits Komplikationen in ihrem Netz von Intrigen – und sie beschließt Erika umgehend nach London zu bringen, um dort die Hilflosigkeit des Mädchens vollends auszunutzen. Ihr Plan lautet folgendermaßen: Erika wird in ihrer Begleitung nach Hamburg und von dort nach England verbracht. Dort will sie ihre Schutzbefohlene einfach allein lassen, um dann als Retter in der Not ihren Bruder auftreten zu lassen. Sabine Clemens‘ Bruder soll nötigenfalls Gewalt anwenden um sich der hilflosen Erika zu versichern.
Es beginnt eine wilde Verfolgungsjagd, die in Cuxhaven auf einem Schiff endet. Dort gelingt es den Verfolgern die flüchtende Sabine Clemens zu stellen. Der maskierte Bruder von Sabine Clemens fällt bei dieser Befreiungsaktion ins Elbwasser, seine Leiche wird nie geborgen werden. Sabine Clemens wird von der Polizei verhaftet, doch bald wieder auf freien Fuß gesetzt, denn juristisch ist der Intrigantin nicht beizukommen. Erst im Nachspann wird über das Schicksal der Frau Clemens berichtet, die offenbar in New York wegen Betrugs verhaftet und dann inhaftiert wurde. Der Rest ist eitel Sonnenschein. Denn die verwirrte Erika wird sich langsam ihrer Irrtümer bewußt und kehrt reuevoll in die Arme ihres Gatten zurück, den sie um Verzeihung anfleht.
Die Bewertung dieses Romans fällt mir außerordentlich schwer, denn ich bin hin- und hergerissen von den offensichtlichen Schwächen und Stärken des Romans. Das Einführungskapitel ist eine Hommage an das rauschende Großstadtleben Berlins und berichtet bereits von dem spurlosen Verschwinden Erika Ebells – und von dem verzweifelten Gatten Paul Ebell, der dem rätselhaften Verschwinden seiner Gattin mit zahlreichen Annoncen beizukommen sucht und der das beträchtliche Vermögen seiner Frau für seine geschäftlichen Investitionen verwendet hat.
Erst später berichtet uns Hirsch in geschickten Rückblenden die Vorgeschichte des Falls. Dabei orientiert sich die Autorin ganz an den klassischen Sensationsromanen der 1860er und 1870er Jahre. Die moralischen Auffassungen der Figuren des Romans orientieren sich naturgemäß an den Konventionen der Jahrhundertwende und der sogenannten Gründerzeit und untermauern eine literarische Atmosphäre, die an einen Psychothriller des film noir erinnert. Für Spannung ist also durchaus gesorgt, doch das melodramatische Ende des Romans ist dürftig, ebenso wie die zahlreichen Hinweise auf die rassistischen und stereotypen Auffassungen der Autorin. Natürlich ist der sprachliche und moralische Duktus dieses Buchs ganz seiner Entstehungszeit geschuldet.
Unterhaltungsliteratur, insbesondere Kriminalliteratur, bildet seit jeher die sprachlichen und moralischen Konventionen ihrer Entstehungszeit ab und folgt meist den tagesaktuellen Werten und literarischen Moden, die häufig schon nach ganz kurzer Zeit obsolet werden. Diese Auffassungen und Moden wechseln häufig und verwandeln sich ständig, so daß die Texte recht schnell antiquiert wirken, ohne daß man dafür exemplarisch das zu Unrecht deklassierte 19. Jahrhundert heranziehen müßte, das landläufig als langweilg und bieder beschrieben wird. Und ob das Lesen alter Kriminalromane irgendeinen Nutzen bringen könnte, bleibt glücklicherweise weiterhin fraglich.
Wenn man sich dem Genre des Kriminalromans wissenschaftlich nähert und der Entwicklung dieser Gattung nachspürt, dann bleibt eine Auseinandersetzung mit den Primärtexten unvermeidbar. Dabei hilft es auch nicht in akademischer Sprache und mit Hilfe zahlreicher Fußnoten aus alten Quellen der Sekundärliteratur zu schöpfen und zu zitieren – und die Irrtümer von Generationen unserer Vorfahren zu kopieren und in die Gegenwart zu transferieren, wie es im literaturwissenschaftlichen Betrieb über Jahrzehnte üblich war.
Jenny Hirsch beweist mit diesem Roman, daß sie zu schreiben versteht. Sie ist eine routinierte und technisch versierte Autorin, die den Leser in Spannung versetzen kann. Die Qualität ihrer zahlreichen Werke schwankt und sie ist trotz ihres Engagements für Frauenrechte und Gleichberechtigung doch ganz ein Kind ihrer Zeit und damit auch durchdrungen von den Konventionen und Stereotypen der Jahrhundertwende. Wären ihre Figuren weniger stereotyp und lebendiger – und der melodramatische Kitsch etwas gedämpfter und reduzierter, würde das Buch als ein moderner Psychothriller durchgehen. Die Konstruktion des Textes orientiert sich weitgehend an den Vorbildern angelsächsischer Sensationsromane, doch ist die Fabel von Umgarnt recht weit hergeholt und wenig glaubwürdig.